29.10.

Zum ersten Mal richtige Herbststürme, mit an die Scheiben brandendem Regen und dem einen langen Zweig des Kirschbaums, der mit prasselndem Geräusch dagegen gepresst wird. Wie durch und durch scheußlich doch unser Leben wäre, wenn Wasser nicht trocknen würde: ein Satz fürs Leben von Justin Andre.

Auf dem Heimweg kehrte ich nach beinahe über einem Jahr der Abwesenheit wieder im Souterrain IV ein. Es war kurz nach 17 Uhr, außer mir saß dort nur noch ein weiterer Gast an dem runden Tisch für vier neben dem Tresen, las im Tagesspiegel und hatte vor sich ein Glas Bier und daneben ein kleineres, bereits ausgetrunken, für Schnaps. Die Wirtin erkannte mich wieder und brachte ein Glas Tegernseer an den sehr kleinen Tisch gegenüber. Es hatte sich wahrscheinlich überhaupt nichts verändert. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite leuchteten in unterschiedlichen Farben die Ladenschilder von Antik & Moderne, Fidelio, Schuhversteher – Schöne Schuhe auf guten Wegen und dem Haus der guten Blume der Jaqueline Fürschke.

Angeblich, so erzählt man sich, gab es in den neunziger Jahren eine Krise, ausgelöst durch eine sprunghafte Mieterhöhung, die beinahe schon das Ende des Souterrains bedeutet hatte, wenn nicht der Schöneberger Bürgermeister selbst – und zuvor hatte es wohl schon ein Angebot aus New York gegeben, das gesamte Interieur des Lokals dorthin verschiffen zu lassen, um es in Sicherheit zu bringen und dann dort wieder in einen ähnlich dimensionierten Raum einzubauen. In den Handlauf der niedrigen Treppe, die in das Hinterzimmer führt, sind untereinander fünf Röhren eingelassen, in denen die zusammengerollten Zeitungen für die Gäste bereit gehalten werden. Den dazugehörigen Messingschildern zufolge sind das außer dem Tagesspiegel noch Süddeutsche, Zeit, Morgenpost und Taz. Vor einem Jahr stand auf einer Konsole im Hinterzimmer noch das Modell einer Zahnarztpraxis im Maßstab 1:15. Es war sogar beleuchtbar gewesen. Als ich bei meinem ersten Besuch dort – ich hatte das Souterrain an einem Sommerabend im Vorbeigehen entdeckt und aufgrund des attraktiven Neonschriftzuges an der extrem schmalen Fassade betreten – fragte ich die Wirtin, was es mit dem Modell auf sich habe. Damals hatte sie mir zugerufen, es war sehr voll gewesen an jenem Abend, dass ein Architekt es dort vergessen habe, es würde aber bald abgeholt. Was dann in einem halben Jahr und länger nicht passiert war. Nun war es fort. Der Zahnarzt selbst sei vor ein paar Monaten aufgetaucht, und habe es an sich genommen, sagte die Wirtin. Es stünde nun im Schaufenster seiner Praxis, die sich nicht weit von hier befände. Sie selbst habe das überprüft.

Dann las ich den Aufsatz von Wilhem Schmid in der Zeit über die heilsame Kraft des Geschlechtsverkehrs, der mit extrem hübschen Zeichnungen verliebter Seesterne aufgemacht war. Der Seestern erfährt derzeit ohnehin ein Revival – oder kommt nur mir das so vor? Als ich aufsah, hatte sich das Lokal gefüllt. Es sah nun um mich herum genau so aus, wie ich es in Erinnerung behalten hatte. Ich erkannte niemanden konkret wieder, aber die Gesamtheit der Gesichter dann halt schon. Zwei Briten, die an dem runden Tisch mitten im Raum plaziert worden waren, hielten einander fest, um auf ihrem gemeinsamen Weg auf die Herrentoilette nicht zu Boden zu gehen. Wie es schien, hatten sie andernorts, und das vermutlich schon seit dem frühen Nachmittag, getrunken. Während ihrer Abwesenheit wurde von der Wirtin bereits ihre Rechnung geschrieben. Nach geraumer Zeit wickelten sie sich umständlich aus dem Filzvorhang, hinter dem sich die Toilettentüre befindet. Beim Versuch, Platz zu nehmen, gingen ihre Gläser zu Bruch. Sie verabschiedeten sich mit kaltem, feuchtem Händedruck von jedem einzelnen Gast, der in dem schmalen Gang vor dem Tresen auf einen frei werdenden Tisch wartete.