30.6.

Als ich gestern am Morgen durch den kleinen Tiergarten ging, der in Moabit zwischen zwei stark befahrenen Straßen liegt, sah ich dort unter einem Baum eine Gestalt liegen, die hatte sich in eine weiße Steppdecke eingewickelt, so eng, dass ihr das Haar wie zu einem Bund Schnittlauch zusamengeschnürt aus der Rolle oben herauslugte. Die Decke war unbefleckt, der Baum eine zierliche Birke, die kaum Schatten geben würde – es handelte sich also um einen symbolischen Schlafplatz, so wie ein gezeichneter Hund auch stets einem Baumstamm entgegenpinkeln wird. Kurz darauf fing es zu regnen an.

Und zwar so, dass aus den stark befahrenen Straßen bald schon ganz schwach befahrene wurden. Ein Regnen, für das die Fenster überhaupt erst erfunden wurden, weil zuvor, bevor es Fenster gab, die Leute bei tagelangem Regen in ihren dunklen Häusern ausharren mussten, um durch ehrfürchtiges Lauschen herauszufinden, ob es denn bald schon wieder aufgehört haben würde mit dem Regnen, oder ob denn das Wasser noch immer und immer nur weiter vom Himmel fallen würde, fiele und fällt.

Ein Regnen, das freilich auch, für das man das Internet erfunden hat. Ich schaute gleich nach, ob es denn jemals in der Geschichte des städtischen Lebens schon einmal etwas vergleichbar grässliches gegeben hatte wie diesen Regen – ja, ich stieß sozusagen auf den Bostoner Sirupstrudel vom Anfang des 20. Jahrhunderts, im Symmetriejahr 1919 (noch vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust): gar kein Vergleich. Augenzeugen konnten oftmals gar nicht mehr erkennen, ob ein noch lebendes Lebewesen ein Tier war oder ein Mensch, wenn es sich, bis zur Unkenntlichkeit mit dunkelbraunem Sirup verkleistert, aus dem die Straßen von Boston erstickenden Melassestrom hatte befreien wollen, »woraufhin sie darin nur noch tiefer versanken«. Gottseidank, dachte ich im Stillen bei mir und schaute aus dem Fenster auf die von Menschen und Tieren befreite Natur des Parks nebst seiner Straße, hat Adalbert Stifter das nicht mehr mitbekommen. Der Bostoner Sirupstrudel hatte seine Sonnenfinsternis glatt in den Schatten gestellt.

Ähnliches schien auch Moritz von Uslar zu empfinden. Es kam ein Tweet mit seinem Lob des Regenschirms.

Und schon war wieder der Tag vorüber. Ich betrat nach den vielen Stunden des Zuschauens durchs Fenster zum ersten Mal selbst das Szenario und stellte fest: der Regen war ja ganz warm. Nass freilich auch, aber das fand ich nicht schlimm, denn ich war ja bereits verschnupft. (Und mehr als das würde nicht möglich sein. Superlativisch verschnupft sein – nichts, das nicht schwönde!) Ich wurde so nass wie schon lange nicht mehr, fühlte mich aber, nachdem ich die nassen Sachen zuhause abgelegt hatte, so trocken wie noch nie. Und dachte an die Worte von Justin Andre, der Dicken Bürste, wie scheußlich unser Leben doch wäre, wenn Wasser niemals trocknen würde.

Rasch zu Bett. Zuvor stellte ich aber eine Blechschüssel auf den Balkon, um darin das große Trommeln zu fangen. Und trank heute früh, da regnete es noch immer, meinen ersten Kaffee mit dem Wasser des Regens gebrüht. Er schmeckte natürlich himmlisch.