30.7.2020

Bei Wenders war gestern «Im Lauf der Zeit» an der Reihe, weil ich die beiden in der Chronologie nach Der Angst des Tormanns schon geschaut hatte (Falsche Bewegung und Alice in den Städten), oder aber ich den Film nicht enthalten fand im Angebot der Mediathek (Der Scharlachrote Buchstabe). Da es jetzt ein Film nicht nach dem Drehbuch von Peter Handke war wie Tormann und Falsche Bewegung fragte ich mich natürlich: Was hat Peter Handke in dieser Zeit gemacht. War er eingeschnappt wegen des Fremdgehens von Wenders für Alice? Ich griff ins Regal, aus der Vermutung heraus, dass in Handkes Tagebuch Das Gewicht der Welt jener fragliche Zeitraum abgedeckt sein müsste. Und: erstens richtig gedacht, zweitens blieb ich sogleich hängen an einem Satz aus dem Januar 1976: «Das Gefühl der Henkersmahlzeit beim Anblick von Gummipflanzen». Das ist ein Satz — und im Gewicht der Welt gibt es noch einige von dieser Güte — den ich für unverfilmbar halte, nicht in dem Sinn, dass es undenkbar bleibt, dass er in einem Dialog vorkommt. In den frühen Filmen von Wim Wenders sagen die Figuren andauernd so ähnliche Sätze, nicht bloß in denen, für die Peter Handke die Dialoge geschrieben hat, und mein Eindruck bis dato ist, dass sie diese Sätze um des Vorhandenseins dieser Sätze in der vom Film behaupteten Welt vorbringen und nicht, weil diese Sätze den Figuren entsprechen.
Unverfilmbar halte ich den Vorgang, den der Satz mit der Henkersmahlzeit und den künstlichen Pflanzen zum Ausdruck bringt — Vergleichbar mit der Szene, in der Charlie Kaufman sieht, dass der angebliche Wunderheiler, der seine letzte Hoffnung darstellt in zweierlei Hinsicht, den vorgeblichen Tumor, ein Stückchen Hühnerfleisch, in seiner hohlen Hand verborgen hält zu Beginn seines Heilungsrituals. Gut, der Satz von Handke ist damit also vielleicht doch verfilmt worden, aber halt nicht von Wenders, sondern von Miloš Forman und damit nicht in seiner Zeit.
Im Lauf der Zeit treffen sich durch Zufall zwei Männer, der eine ist blond, der andere hat dunkles Haar. Der Film ist zudem, darauf wird im Vorspann als erstes hingewiesen: in Schwarzweiß gedreht. Sie fahren in einem Möbelwagen durch Deutschland, der Blonde ist bekannt aus Falsche Bewegung und Alice, der Dunkle ist Hans Zischler, den ich schon in Summer in the City nicht mochte, weil er sich als den neuen Horst Buchholz empfindet, vor allem aber weil nach oder durch ihn tatsächlich Hannes Jänicke kommen wird. Die Frauen kommen dieses Mal nur ganz am Rande vor. Auch kommt es nicht zum Vollzug mit der schönen Kassiererin des Dorfkinos. Dafür zeigt Wenders von jedem männlichen Darsteller irgendwann in den drei Stunden eine Aufnahme, in der sein (nicht Wenders‘) Geschlechtsteil entblößt wird. Irgendwann ist nicht böse gemeint, ich hatte bloß recht langsam den Eindruck bekommen, dass Wenders eher Kameramann oder Bildereinrichter ist, als Regisseur. Seine Darsteller machen immer irgendwas. Das wirkt oft sehr künstlich, wo es wahrscheinlich sehr natürlich herüberkommen sollte. Der Blonde beispielsweise lacht dann halt ungezwungen. Hans Zischler äußert «Lust zu schwimmen». Wobei ja Luhmann festgestellt hat, dass es nichts grausameres gibt, was man zu seiner Frau sagen könnte, als «Sei doch mal natürlich!»