3.1.

Um 03:20 Uhr von der Muse aus dem Schlaf geküsst worden. Mit einer SMS, darin beschreibt sie mir ihren Traum. Ich bin schon dabei, eine Antwort einzutippen, breche den Satz aber ab und rufe die Muse an. Die Muse schreibt schön. Wunderschön. Also auch gedanklich. Aber ihre Stimme hören zu dürfen, finde ich noch schöner. Vor allem, wenn sie gerade noch geschlafen hat; eigentlich also noch immer halb schläft, wenn sie meinen Anruf entgegennimmt, wie es heißt. Wenn sie mich erhört. Dann klingt die Stimme der Muse so, als hätte sie ihre Stimmbänder in einem Glas warmer Milch mit Honig auf ihrem Nachttisch gebadet, wie in den Comics die Zahnlosen ihr Gebiss. Und wenn dann ihr Telephon klingelt, setzt sie die Stimmbänder mal eben ein, und es kommt zu besagtem Effekt.

Wie hieß es bei Denney beinahe das gesamte Jahr 2015 über? Rock me with your lower frequency. Jedenfalls: Wann immer die Muse zu mir spricht, fühle ich mich vom Leben gestreift.

–  Was hast Du erlebt, fragt die Muse, sprich bitte in Buchtiteln zu mir.

– Die Demontage einer Lichterkette durch einen staatlich geprüften Industriekletterer im Winter 2016?

– Hahaha, flüstert die Muse.

Lächeln läßt sich in einem Telephongespräch nicht nur schlecht, sondern überhaupt nicht darstellen. Ich erzähle ihr von dem Text in der »Zeit«, dessen Titelseite ich irrtümlich für den Auftakt zu einem Hasenspecial gehalten hatte.

– Du wolltest doch in Buchtiteln zu mir sprechen.

– Ich weiß, aber das geht in dem Fall gerade nicht, weil es in jenem Text um die drohende Verflachung der Sprache geht. Es herrscht also striktes Humorverbot. Stichwort: Wunschloses Unglück, da fängt Peter Handke ja auch damit an, dass er den Selbstmord seiner Mutter entweder in einer Erzählung bewältigen will oder auf seiner Schreibmaschine die immerselbe Taste betätigen – wie er meint, liefe beides bei ihm auf dasselbe hinaus. Beim Leser freilich nicht. Und genau darum geht es in diesem Text. Kurz gesagt: Die Autorin beklagt ein Zuviel an Ausrufezeichen.

– Obwohl das ja auch etwas Befreiendes hat, auf die immer gleiche Taste zu drücken. Manchmal reichen drei Ausrufezeichen noch gar nicht, dann müssen es dreizehn sein, oder dreihundert.

– Dazu stört sie sich an Superlativen wie megasüß.

– Was gibt es denn dagegen zu finden? Megasüß ist doch supergeil!!!

– Finde ich auch. Voll! Bei Niketown habe ich neulich ein T-Shirt mit dem Aufdruck Hyperelite gesehen. Es war mir bis zur Lektüre des Artikels angenehm egal, was damit gemeint sein könnte. Bis dato habe ich mich auch nicht daran gestört, dass ein Set aus zwei schnurlosen Festnetztelephonapparaten als Gigaset bezeichnet werden durfte. Johann Wolfgang von Goethe, der Megadichter, stellte schon anfangs des 19. Jahrhunderts in einem Brief an Carl-Friedrich Zelter fest, dass »jetzt alles ultra sei«. Und dies war keineswegs Ausdruck seiner Begeisterung über diesen Beweis einer Lebendigkeit der Sprache, über ihre Fähigkeit zur Fortentwicklung, ja: Mutation. In jenem Brief fährt Goethe nämlich und leider in einer superöden Weise fort, den inneren Manufaktumkatalog vollzutexten: »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wornach (sic) jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden, und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.« Dann ein Absatz über Sekten, die es längst nicht mehr gibt, aber seine abschließenden Sätze sind echt ultra-interessant. Ich zitiere: »Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.«

Ich lausche. Doch am anderen Ende bleibt es still. Wenn ich mich extrem konzentriere, sind es die Atemzüge der Muse, die dort noch zu hören sind. Mit schöner Regelmäßigkeit, dazu leichtes Rauschen. Ein ganz kleines Meer.