31.10.

Vermutlich war es der letzte schöne Tag im Jahr, den ich komplett am Schreibtisch sitzend zu verbringen hatte. Schließlich hatte ich ein Vermögen für die Bildbiographie Arno Schmidts ausgegeben. Der Buchhändler am Nikolassee hatte mich auf meinen Wunsch hin, mir das Buch, von dem er nur ein einziges Exemplar bestellt hatte, einmal ansehen zu dürfen, aufgefordert, auf dem in eines seiner Regale eingebauten Sofa Platz zu nehmen, bevor er es mir überreichte: vierhundert Seiten Din A4, ein wahrlich fesselnder Genuss. Im Bett lesen lässt es sich nicht; mitnehmen, etwa in ein Café, um es dort im Schein der Herbstsonne zu studieren, ist ebenfalls schlecht möglich. Das Buch erzwingt die sitzende Haltung an einem Tisch, auf dem es aufgeklappt liegen kann.

Draußen vor den Fenstern, ein Werbefilm für daylight saving time, war über viele Stunden lang die knalligste Fototapete mit dem deutschen Herbst zu bestaunen: goldfarbenes Laub vor blauem Himmel, darin gerade mal Strähnen vom Wolkenweiß (heißt es deswegen Föhn?). Hätte ich das Vermögen nicht ausgegeben, hätte Jan Philipp Reemtsma nicht die Arno Schmidt-Stiftung gegründet, ja: wäre Arno Schmidt nicht gestorben, dann hätte ich gestern einen Spaziergang durch die herrliche Welt hinter der Tapetentür machen können, wäre etwa den schönen Weg, der teilweise bergab auf der derselben Spur mit den bergab rauschenden Radfahrern geteilt werden musste – viele Greise darunter, in eingefetteten Perlonhöschen von Campagnolo auf ihren Carbonmaschinen mit zusammengebissenen dritten Zähnen über Leichen zu radeln bereit –, dann bei der historischen Telefonzelle in die Gasse, die hinter dem Klärwerk auf die Fußgängerbrücke über die Autobahn führt, eingebogen, um gegenüber von Burger King und Lastkrafttankstelle dem Wirt des Easy Rider einen Besuch abzustatten. Er wäre dann überraschend aus seinem Urlaub auf Spiekeroog zurückgekehrt – aus Heimweh, wie er es immer wieder wiederholt haben würde: aus Heimweh nach seinen Stammgästen und nach dem Grill. Auf Nachfrage, und davon hätte es bei diesem unwiederbringlich herrlichen Herbstsonnenscheinwetter freilich Dutzende gegeben, hätte er immer und immer wieder den eigens hierfür, eventuell schon auf der Fahrt nach Spiekeroog ersonnenen Herrenwitz zum sprichwörtlich Besten gegeben. Zwischendurch, aber eben nicht zur Abwechslung, auch mal über sein Megaphon. Preislich: heute alles für die Hälfte. Und das hätten sich insbesondere die hartgesottensten seiner Gäste, die Veteranen des Chapters Wannsee nicht zweimal sagen lassen. Wenn einer von ihnen mal im Gebüsch verschwand, legte er vorher noch seine Zahnprothese in den Bierbecher, um dem Fremdschlürfen in seiner Abwesenheit einen Riegel vorzuschieben. Laubstudien hätte ich anstellen können. Vogelstimmen herauslauschen und notieren. Aber es stand ja auch noch ein Paket mit einer Warensendung der Firma Haribo, das Etikett des Deutschen Paketdienstes gab das Gewicht seines Inhaltes mit 4,6 Kilogramm an, auf dem Fußboden, wo es der Bote vor vier Tagen abgesetzt hatte. Und dies Paket harrte noch immer nicht von mir auch nur angetastet seiner Bestimmung. Denn: Ja, ich bin zäh. Und was Geduld und eiserne Disziplin betrifft, kenne ich nichts.

Bei Einbruch der Dunkelheit war ich immerhin schon auf jener Seite angelangt, auf der Arno Schmidts Mutter ihrem Sohn brieflich rät, doch endlich die Schreiberei an den Nagel zu hängen, denn nach ihrer Analyse sei er nun mal einfach kein Dichter und sie rate ihm zum Berufswechsel. Sehr besorgt!

Tja. »Eins geht nur« (wie meine Exfrau zu sagen pflegte).