3.3.

Gestern: ein Tag voller Wunder. In etwa jeder Stunde ereignete sich eines davon. Ich betrachte den Tag gern als beendet, wenn die Sonne untergegangen ist, und kurz vor diesem Moment ereignete sich dann gestern noch, natürlich, eines jener herzergreifenden Farbspiele zwischen den Wolken und ihrem Hintergrund, der überraschend durchsichtig geworden war und die Bewölkung davor wirkte nun dunkel und so fest wie ein katholisches Bestrafungsraumschiff, von dem aus gelbe und bald auch intensiv rosafarbene Splitter übers Land einwärts getrieben wurden.

An den Fernsehturm hatte ich schon lange nicht mehr gedacht. In meiner Wahrnehmung hatte er meine Aussicht bloß noch möbliert und war so über die Monate, wie einst von Peter Sloterdijk prophezeit, selbst zu einem Möbelstück geworden, das ich, da es eh immer da war, nicht mehr wahrnehmen konnte. So fügte ich es auch den Scheinwerfern der Autos auf regennasser Fahrbahn zu; dem Strom ihrer Rücklichter, wenn sich das Geschehen auf der Danziger Straße zum Berufsverkehr verdichtet. Der Heiligabend fiel mir ein, noch vor Beginn dieser Aufzeichnungen, als ich alleine war und auf dem Heimweg von Penny sah ich vor dem Planetarium die Kirschbäume blühen.

Alles wurde besonders und erinnerungswürdig in diesem Jahr, wie auch schon in dem Jahr zuvor, weil ich damals diese Person, dich eben, gefunden hatte, der ich von meinen Wahrnehmungswundern erzählen konnte. Einmal saß ich morgens ganz früh im House Of Small Wonder und trank eine Fanta Classic aus dieser schönen Flasche und Tabassom erzählte mir von einem Stuhl gegenüber aus, wie schwierig das Leben für andere sei, wie schwierig vor allem die Entscheidungen, die sie fortwährend selbst, ganz alleine und für sich treffen müsse. Es war im Prinzip eine Fortsetzung, ein Sequel, eventuell war es auch bereits ein Remix all dieser Gespräche zu diesem Thema, die wir seit achthundert Jahren nonstop führen, und am Nebentisch saßen zwei junge Frauen, die, als ihnen die Pfannkuchen serviert wurden, die Telefone herausholten, um von den Pfannkuchen und den Tellern und dem Holz der Tischplatte drumherum Aufnahmen zu machen und diese daraufhin zu posten, das wirkte auf mich wie ein Tischgebet.

In den Jahren 2014, 2013, 2012, 2011 und ganz außerordentlich im Jahr 2010 hätte mich dieser Anblick allein so ziemlich sehr außer Fassung gebracht. Glühbirnen zerspringen dann ganz leicht in zigtausend Splitter. Ich bin in diesen Jahren derart oft in Stücke gegangen, dass ich irgendwann auch nicht mehr wusste, wohin jetzt welches Teil gehört.

Ich kann dir, meiner Muse, nicht genug dafür danken, für das, was du für mich getan hat. Denn es war ja nicht gerade einfach, und du hast ja auch ansonsten schon genug zu tun.

Neulich haben wir grob geschätzt. Es war eine Dagobert-Duck-hafte Zahl an Stunden, die wir miteinander verbracht haben, in etwa die Anzahl von Stunden, so will ich zumindest hoffen, die andere Paare damit verbringen, ins Kino zu gehen, Netflix & Chill mit Keksen zu machen, mit anderen beieinanderzusitzen und einer hat schön gekocht; gemeinsam in die Ferien zu fliegen und sich dort in ein Café zu setzen, das eben nur ein bisschen – aber das entscheidende Bisschen halt –, anders ist, als jenes, in dem man in der Heimatstadt immer sitzt. Kuchen backen, Blätter sammeln und die zwischen Zewa, der Bibel und jenem Band über Mikroben zu pressen, den ich im Müll gefunden hatte und dann sagte Sarah: »Wow, das ist ja ein irres Buch!«; Kastanienmännchen, überhaupt der Botanische Garten zur Zeit der Laubfärbung. Im Winter das Kakteenhaus. Weihnachtsmarkt, Ostereier erst bemalen, dann halt zwangsläufig verstecken und, ja ja, nicht alle wiederfinden; dass es einen Schalttag gab in diesem Jahr – der kommt erst in vier Jahren wieder!!! –, es gab sogar schon eine Sonnenfinsternis, und am 9. April wird es um 9 Uhr 30 eine Venusbedeckung geben.

Tja.

Mit Küssen haben die anderen freilich ebenfalls nicht unwesentlich viele Stunden verbracht. Mit Anfassen und mit Hand-in-Hand durch den Botanischen Garten zu Zeiten der Laubfärbung spazieren. Hoffe ich zumindest. Also ich würde es ihnen ultradringendst anraten.

Wir nicht. Noch kein einziges Mal. Das ist interessant. Denn es kommt mir gar nicht so vor, als ob. Mir kommt es, wenn ich überhaupt daran denke, manchmal so vor, als ob du etwas Dringendes erledigen musst - Menschheit retten, auf einem entlegenen Planeten Ackersalat züchten, suprafluide Magnetflüssigkeit destillieren oder etwas in dieser Art. Und ich weiß, dass diese Mission irgendwann auch vorüber sein wird. Als du noch gar nicht geboren warst, gab es einen Hit, der hieß Clouds Across the Moon.

Space Oddity war nämlich noch vor meiner Zeit!