4.1.

Der Mond sieht aus wie ein abgeschnittener Fingernagel – schreibt Arno Schmidt. Heute hat er damit recht. -11° Celsius am Morgen (sagt die App), der Ausblick auf den Unvermeidlichen liefert den Beweis: Wurde der Turm des Grauens in den letzten Tagen mir noch gnädig von dichtem Nebel verhüllt, so starrt er jetzt in unerbittlicher Klarheit. Er, der Turm, selbst würde finden: in voller Pracht.

Dass es kalt ist, sehr kalt sogar, bemerke ich, noch kaum dem Klammergriff der Wohnung entronnen, drunten auf der Straße: Schon nach wenigen Metern, die ich zu Fuß zurückgelegt‘, bleibt mein iPod stecken. Ich benutze das klassische Modell, unter anderem seiner 120 Gigabyte fassenden Festplatte wegen, doch ist dieses elektromagnetische Speichermedium von seinem Wesen her eben gar nicht statisch; um Musik abspielen zu können, muss es selbst wiederum rotieren wie eine winzige Schallplatte. Bei extrem niedrigen Temperaturen stellt es diese Funktion anscheinend ein. Davon hat mir vor Jahren einmal ein Schweizer Freund berichtet, dem genau dies bei einer versuchten Besteigung des Nanga Parbat widerfahren war. Mit genau diesem Modell aus der frühen Baureihe des iPod. Schau an, so kalt ist es also heute in Berlin.

Die Schaufenster auf der Kastanienallee locken mit Mützen, doch ich bleibe hart. Hart gegen mich selbst und lieb bloß zu anderen. Selbst die angeblich salatresistent gummierten Kabel meiner Ohrhörer sind mittlerweile in drahtartiger Konsistenz erstarrt. Die extreme Verlangsamung im molekularen Gefüge hat doch ein Gutes: Es riecht nach beinahe nichts mehr. Selbst Zigarettenrauch schmeckt nur noch nach Aluminium.

Meine starke Aversion gegen Mützen lässt mich die Kälte am Kopf besonders intensiv empfinden. Hasen wächst ja rechtzeitig zum Wintereinbruch ein Zusatzfell, beziehungsweise wird es einfach dichter und die Haare weisen verlängerte Grannen auf. Bei mir verläuft der Anpassungsprozess an die verschärften Bedingungen anscheinend umgekehrt, es handelt sich um eine Perversion, denn mir gingen in den letzten Monaten die Kopfhaare aus; in den Tagen vor dem Kälteeinbruch wurde es sogar extrem. Gut, lang sind sie wohl. Eines Tages fand ich sogar: zu lang. Also fragte ich Udo Walz am Telefon, wie ich mir wohl selbst die Nackenhaare schneiden könnte.

– Das geht ganz einfach, sagte Udo. Kämm‘ sie dir von hinten nach vorne bis über die Augen und schneide sie dann in einer geraden Linie ab. Dann sind sie auch gleich gestuft. Automatisch.

Klappt übrigens prima. Den Tipp fand ich derart gut, daß ich Udo riet, ihn der Zeit als Lifehack der Woche anzubieten. Wurde dann auch prompt in der übernächsten Ausgabe abgedruckt. Heute früh, vor dem Verlassen des Hauses sah ich im Spiegel dann aus der linken Oberlippenhälfte ein störrisches, zudem noch silbernes Barthaar aufragen. Selbst mit sehr viel Bartwichse ließ es sich nicht in Formation bringen. Leichtsinnig dachte ich noch: Was es mir wohl damit sagen will?

Beim Zeitungslesen in der Bäckerei dann die Botschaft im Klartext: In der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen wird Martin Walser auf einer ganzen Seite interviewt. Das Thema Augenbrauen wird zwar nur gestreift, aber ich bin mir sicher, dass mein Barthaar widerum als ein Sensor agierte, der mir die drohende Lektüreerfahrung eines Martin-Walser-Interviews signalisieren sollte. Unweigerlich muß ich an jenen traumatischen Tag denken, den ich vor ein paar Jahren mit Martin Walser und seiner Frau verbringen musste. Damals gab es noch Ulf Poschardts Vanity Fair und ich sollte zunächst Martin Walser in einem Frankfurter Fotostudio beobachten. Sein Goethebuch war gerade erschienen und in dem Studio wurden Aufnahmen von Martin Walser für Vanity Fair gemacht. Cover war keine ausgesprochene Option, stand aber im Raum. Man hatte Martin Walser als Goethe verkleidet, mit ausladender Winzerkappe und einer Art Toga aus sandfarbenem Samt. Ein nach dem berühmten Motiv Johann Heinrich Tischbeins gemalter Hintergrund zeigte die italienische Landschaft der Campagna, also diesen Goethe stellte Martin Walser für die Aufnahmen dar. Seine Ehefrau, der Name tut nichts zur Sache, verbarg sich währenddessen viele Stunden lang im Schminkzimmer. Aber selbst als wir bereits zum Hauptbahnhof aufgebrochen waren, sprach sie noch immer kein einziges Wort. Die Idee der Redaktion hatte nun darin bestanden, dass ich mit der Ehefrau Martin Walsers und mit Martin Walser selbst in einem ICE von Frankfurt am Main bis nach Weimar fahren sollte. Im Bordrestaurant, das hatte Martin Walser sich ausbedungen, sollte während dieser vierstündigen Fahrt das exklusive Vanity Fair-Gespräch zu seinem Goetheroman stattfinden. Die Redaktion freilich verfolgte einen anderen Plan. Da Martin Walser während dieser vier Stunden den ICE nicht würde verlassen können, sollte ich doch ruhig mal sämtliche noch ungefähr brachliegenden Fragen stellen, die man schon seit ungefähr Urzeiten an Martin Walser gestellt sehen wollte. Vor allem beantwortet. Lesenderweise. Als da wären: Mitgliedschaft in der KPD, Inzest mit den Töchtern, uneheliche Söhne, Vorname seiner Ehefrau.

Es endete in einer Art Desaster. Übrigens ein ganz guter Titel für einen Roman: Eine Art Desaster.

Am Bahnhof in Weimar verlangte Martin Walser nach einer Zigarette – obwohl er doch Jahre zuvor bereits in seinen Tagebüchern das Rauchen aufgegeben hatte. In Wahrheit hatte er wohl heimlich immer weiter geraucht. Ich entschuldigte mich, ging auf die Bahnhofstoilette und hoffte, er würde sich inzwischen verdünnisieren. Im Kondomautomaten wurde auch eine Travel Pussy angeboten. Als ich mich von diesem Anblick und vor allem meinen diesbezüglichen Gedanken lösen konnte, stand da noch immer Martin Walser vor der Tür. Die Zigarette war bis auf den Filter heruntergebrannt. Zum Abschied schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Als ich mich am nächsten Tag in der Presseabteilung des Suhrkamp-Verlages über diese Handgreiflichkeit Martin Walsers beschwerte, zeigte man sich dort begeistert: »Das macht er nicht bei jedem!« Na ja.

In einem anderen Text der im Übrigen ausgezeichnet gelungenen Sonntagszeitung ging es um den Verrat am humanistischen Menschenbild. Und zwar dergestalt, dass Menschen, um diesen Verrat abzuwenden, aufhören sollten, auf die Straße zu spucken. Darin kommt auch der Begriff eines Werwolfgefühls vor, das denjenigen beschleicht, der sich als zum Natürlich-Animalischen zumindest teilweise zurückverwandelt empfindet. Beispielsweise also beim Ausspucken im öffentlichen Raum. Oder beim Ohrfeigen. Bei mir, mit meinem ausfallenden Winterfell zur falschen Jahreszeit (ich wage nicht zu hoffen, dass mir im Sommer welche nachsprießen werden!!!), läuft diese Werwolfverwandlung anscheinend rückwärts ab. Ich habe auch sofort aufgehört damit, ins Waschbecken zu pinkeln. Seit der Lektüre dieses Textes friere ich am Kopf sogar gerne. Schließlich vollendet sich an und in mir gerade das humanistische Projekt.

Ein tröstlicher Gedanke. Wärmend auch. Dazu noch einer, der mich, zumindest für ein paar Stunden, wieder mit Berlin und dem Fernsehturm zu versöhnen fertig bringt (Walser). Um zu wissen, wie schön es genau jetzt ganz woanders ist, braucht man ja gar nicht mehr zu verreisen. Bei ReweCity gibt es aktuell aus Chile eingeflogene Kirschen. Der Beutel zu 250 Gramm (inklusive Steine und Stiele) kostet 8 Euro 60. Das entspricht exakt dem Vierfachen des zur deutschen Saison marktüblichen Preises. Demnach ist es in Chile gerade viermal so schön wie hier.

Aber Sehnsucht kennt keine Vernunft. Damit ist der Preis auch egal.