4.2.
Als ich angekommen war, leuchteten die Türme in Streifen, was ich zuvor noch nie gesehen hatte, denn zum letzten Mal war ich hier in der Weihnachtszeit gewesen, nun aber mussten die Leute wieder arbeiten, die Büros blieben bis spät in die Nacht besetzt.
Am Morgen war der Himmel blau, die Vögel machten Geräusche, die auf ein baldiges Ende des Winters hindeuteten. Es ist erstaunlich, wie viel so ein Wetterumschwung doch bewirkt; einige Cafés hatten bereits die Stühle vor die Tür gestellt. Ich saß im Cafe Plank, dessen guter Kaffee mir von Thomas Meinecke ans Herz gelegt worden war. Neulich hatte man ihn irgendwo als den »Altmeister der Genderliteratur« bezeichnet, ich hatte vergessen wo, aber der Kaffee war wirklich sehr gut.
Mein ursprüngliches Vorhaben, in der Kleinmarkthalle die Fleischwurst, die dort bei Schreiber aus einer schmalen Luke heraus nach Ansage in Abschnitten, deren Länge der Kunde vermittels schieblehrenhafter Gesten (ich berichtete darüber im vergangenen Jahr) bestimmen darf, zu verkosten, war schon eine halbe Stunde früher gescheitert, und zwar daran, ganz simpel eigentlich, dass dort die Warteschlange um ein Entschiedenes zu lang gewesen war.
Nun bezeichne ich mich zwar mit Peter Handke als einen Gernewarter, aber die Schlange dort in der Kleinmarkthalle, in der Hasengasse zu Frankfurt, reichte bereits vor der Mittagsstunde um circa zwanzig Meter weit nach links; rechts neben der Luke des Schreiber’schen Wurstgeschäfts hängt ja ein Schild »Bitte links anstellen, um die Geschäfte des Nachbarn nicht zu beeinträchtigen« – von dort aus wären es noch etwa zwei Stunden bis zum Ziel gewesen.
So lange warte ich nicht auf eine Wurst.
Vom Fenster im Plank aus sah ich auf den Kebabladen der Familie Merkel, es sind Türken, die ihren Schnellimbiss dort schon seit 1986 betreiben. Damals war ich in etwa 15 Jahre alt, und im Stuttgart meiner Jugendtage gab es zwar Udos Hamburger und McDonalds, aber an einen türkischen Imbiss kann ich mich nicht erinnern. Mittlerweile hat sich das Snackverhältnis umgedreht.
»Einmal Merkel Kebab Haus
Immer Merkel Kebab Haus«
So hieß der Slogan des Unternehmens – gar nicht mal so schlimm, wenn man wie ich nicht für immer in Frankfurt ansässig sein würde. Die Kebabrübe, das hatte ich in den vergangenen Wochen frühmorgens am Savignyplatz vor Augen geführt bekommen, hat von ihrer Form und vom Charakter ihrer Fleischmasse her etwas fleischwursthaftes. Das scheint zum Ersten wie ein schwacher Trost, der, ja, ich kann es nicht anders sagen: schmelzende Geschmack des Merkel’schen Döners ließ mich alle Reue über den verpassten Fleischwurstgenuss im Hause Schreiber, an der Luke in der Kleinmarkthalle dort, vergessen. Nun fand ich es zwar auf Anhieb schade, dass hier im Bahnhofsviertel niemand Apfelwein trank zum Döner Kebab. Dann aber wurde ich von Eingeweihten zu einem Nebenbetrieb der Familie Merkel geführt. Das läuft in Frankfurt mittlerweile wie überall: In alteingesessene, prollige Institutionen ziehen neue Betreiber ein und machen etwas draus – ein ehemaliges Wasserhäuschen mit rot-weiß-gestreifter Markise am Rande der stadtauswärts führenden Allee.
Eine ausnehmend männlich codierte Szene.
Einige der Personen hatten leuchtgelbe Weste einer Frankfurter Behörde an; es ging um bereits von Eckhard Henscheid beschriebene Themen: unter anderem um das Great Barrier Reef – bei waahr.de haben wir uns von vornherein gegen Dialektschreibweise ausgesprochen, aber insbesondere Great Barrier Reef sollte man sich bei geschlossenen Augen in hessischem Dialekt ausgesprochen zu Gemüte führen.
Herbert, daraufhin: »Im 18. Jahrhundert wurden die französischen Kinder nach Australien exportiert. Der Grund war, ganz einfach: Die Franzosen hatten keine Milch mehr.«
Alexander, ein Hochaufgeschossener mit neongelbem Schal, tippte mir an die Brust. Vorausgegangen war ein kurzes Gespräch Alexanders mit der Betreiberin des ehemaligen Wasserhäuschens, das mittlerweile in der Hand der Familie Merkel sich befand.
Alexander: »Ist hinten auf?«
Wasserhäuschendame: »Musst du nachschauen.«
Alexander: »Wenn auf ist, lass ich auf. Wenn zu ist, lass ich zu.«
Wasserhäuschendame: »Genau.«
Daraufhin hatte sie das Fensterchen geschlossen, das das Innere des Wasserhäuschens mit der Außenwelt verband. Alexander erzählte mir, dass er Verleger sei. Zum Namen seines Verlages, auch zur Geschäftsordnung, wollte er mir keine weiteren Angaben machen. Aber er lächelte wissend, und während wir einen Bohnenkamp tranken, baute er einen ziemlich dilettantisch zusammengedrehten Joint. Dazu muss man wissen: Alexander und Herbert sind zusammengenommen ungefähr einhundertfünfzig Jahre alt.
Ich sagte: »Jungs, ich sehe hier tschechisches Bier vor euch stehen. Warum trinkt ihr keinen Apfelwein?« Herbert, der behauptete, Vorstand einer japanischen Pharmafirma mit Sitz in Frankfurt zu sein, umarmte mich. Alexander, seinen Joint herumreichend, trommelte sich nach Gorilla-Art an die Brust und rief: »Ich bin ein Frankfurter Bub‘!«
Das Fenster öffnete sich abermals, ich bestellte drei Flaschen Apfelwein, aber es kristallisierte sich heraus, man hatte dort keine Gläser mehr. Also längst nicht mehr. Denn es trank schon längst keiner mehr Apfelwein. Irgendwie konnten dann aber noch zwei Gerippte und ein Geblümtes aufgetrieben werden. Ein paar Runden später, das war, nachdem die Kolumbianerin vorbeigekommen war und es angefangen hatte zu regnen, übergab sich Andi, der bis dahin still gewesen war, schwallartig in die neben dem Wasserhäuschen aufgerissene Baugrube. Alexander hielt ihm die Haare aus dem Gesicht und rief dabei in meine Richtung: »Das ist der Äppler!«