5.2.

Die Stimme von Daisy Duck stelle ich mir so vor wie die von Petula Clark, wenn sie Downtown singt. Weil die Stimme von Petula Clark dann mit einem Mal so etwas Schnabeltierhaftes bekommt, aber eben nicht quakig, rein bildlich gedacht; so als könnte sie einen von mir gedachten Schnabel weit und euphorisch aufreißen, wenn sie sich dann endlich zu dieser Textstelle vorgearbeitet hat: DOWNTOWN!!!

Wenn der Refrain von Downtown erklingt, sehe ich Daisy Duck vor mir, konkret das Titelbild auf dem Lustigen Taschenbuch, da steht sie vor einer Mauer und hat eine Strichzeichnung von Donald gemacht und darunter steht »Donald ist mein Typ«. Ich würde so gerne wissen, was Glenn Gould vor sich sah, wenn er sich Downtown auflegte. Schade, davon steht in seinem Tagebuch nichts.

Glenn Gould hatte immer kalte Hände. Meine sind immer warm. Ich habe es aber auch gerne und an für sich und um mich herum gerne warm; es kann mir kaum warm genug sein – selbst in der Wüste Danakil, und dort noch selbst auf dem Vulkan Ertale, als ich die Lava nicht nur hören und riechen konnte, sondern ihren thermischen Abglanz gut und sehr deutlich zu fühlen bekam, dachte ich mir: Da geht noch was.

– Na ja, sagte Carolin Würfel, und in einem Roman hätte sie dabei mit einem kritischen Gesichtsausdruck um die Augen herum von einem Miniaturtässchen mit Hibiskustee genippt.

In Wirklichkeit aber war es so gewesen, dass ich das Redaktionsgebäude ausschließlich betreten hatte, um mir den Fortgang der Planungsaktivitäten meiner Aktionsgruppe Kunst und Kultur vortragen zu lassen. Und, wo nötig, diese Vorstufen der Vorarbeiten zur Produktion einer neuen Ausgabe der weltbesten Frauenzeitschrift in spe durch meine Ideen und Gedanken anzureichern.

Zur Blauen Stunde jenes Nachmittages aber gaben Frau Zange und Frau Würfel sich als Zofen à la Jean Genet. Kurz überlegte ich mir schon, meine Gummihandschuhe rauszuholen, besann mich daraufhin aber eines Besseren und übte mich in Milde. Da Sexismus bei L’O heftig trendet, gilt Ageism als der neue Punk und von daher wurden auch sämtliche Argumente gegen mich in Bezug auf mein hohes Alter geführt. Stoßrichtung: »Kannst du nicht wissen, war nach deiner Zeit.« Schließlich aber doch Rücksicht, und das lernt man ja mit annähernd Hundertsechzig auch wahrlich zu genießen: »Joachim, wir glauben, du musst einfach mal weg aus Berlin und ein paar andere Leute kennenlernen. Mal wieder auf andere Gedanken kommen. Du bist doch wie eine Punkband und kennst nur noch drei Akkorde. Mach‘ doch mal Pause. Inkubiere doch mal!«

Das stimmte und saß sozusagen. Da hatten sie beide – Zofe Zange wie Würfel – echt und vollkommen recht. Kurz überlegte ich, ob ich meiner Altersfaulheit nachgeben sollte, und Friede Springer anrufen, ob sie mir ihren giftgrünen Hubschrauber leihen würde, winkte dann aber innerlich, dennoch mit betont schlaffer Geste, ab, und nahm den Bußgang nach Schönefeld auf mich.

Eigentlich hätte ich ja nach New York gemusst, aber ich mache ja jetzt aus Prinzip keine Modenschauen mehr, und das auch weltweit nicht, weswegen ich die talentierte Maximiliane Schaeffer dorthin versenden ließ, um Herrn Formichetti zu interviewen. In memoriam meiner Phase im Jetset erschien ich jedoch vor meinem Bordpersonal in einem total look, bestehend aus einem Fan-Sweatshirt von Easyjet und dazu passender flap back, was gebührlich honoriert wurde. Beim Vorführen der Exit-Szenarien wurde mein Name erwähnt.

In Cagnes-sur-Mer war dann alles beim Alten. Sämtliche Wolken ausradiert. Ich konnte mich gleich bis aufs T-Shirt entkleiden, so warm war der Wind. Pierrot hat die Petit Bar zwar im November verkauft, aber Lou Lou ist dort noch immer mein Kellner. Der pensionierte Polizeipräfekt saß dort an seinem üblichen Tisch – comme d’habitude – und comme d’habitude entnahm er der Innentasche seines Jacketts einige Sonnenblumenkerne, die er in den Aschenbecher rieseln ließ, woraufhin die auf dem gegenüberliegenden Gebäude ansässige Taube namens Cecile angeflattert kam, um ihre Speise aufzupicken.

Rosé funktioniert ja nur hier. Man kann überall sonst auf der Welt vermeintlich Rosé trinken gehen und sich dabei feste einreden wollen, Ethanol sei doch Ethanol, aber funktionieren im Sinne der gedachten Wirkung tut Rosé halt nur hier, also dort, wo er erfunden ward.

Samertine heißt das ortsgebundene Brot, es ist ein Stangenweißbrot mit zwei lustigen Hasenohren, die man traditionell nach dem Verlassen der Bäckerei abbricht und bei geschlossenen Lidern verknuspert. Acht Monate lang lag meine Armbanduhr hier beim Uhrmacher herum, aber das war kein Problem. Sie ist leider noch immer nicht repariert worden, aber das ist kein Problem. Ich werde mich jetzt franchement zwei kurze Wochen lang einer Diät aus Pferdetatar mit rohen Eiern und Kapern und kleingehackten Cornichons unterziehen, dazu allenfalls Stangensellerie, Austern, Rosé und literweise Ananassaft. Die Muse wird sich freuen, dass ich mich hier so ganz in ihrem Sinne ernähre. Und wenn es stimmt, dass manche tanzen, um sich zu erinnern, manche wiederum, um zu vergessen, dann zähle ich eindeutig zur Gruppe der Erstgenannten. Abends, als der Panoramasonnenuntergang hinter dem Table de Diable lief, fiel mir plötzlich ein, dass hier kernmäßig so rein gar nichts mehr beim Alten war. In den ganzen fünf Jahren, seit ich nach Cagnes-sur-Mer konnte, hatte ich mich noch kein einziges Mal so gefühlt. Und das lag schlicht daran, dass ich zum ersten Male nicht todunglücklich war und nicht nach Cagnes fuhr, um hier zu kurieren.

Das Leben, dachte ich, »also deins, ist wunderschön und soll echt noch extrem lange weitergehen. Dieser Gedanke war neu. Du willst ja wirklich 160 werden.

Und dann im Dunkeln nach Hause und im Dunkeln ins Haus und sich emportasten auf der steilen Treppe, denn das Haus ist ja ein Turm. Ein dunkler Leuchtturm steht in der südfranzösischen Nacht. Darin schlägt ein Herz, das leuchtet bis nach Santa Monica. Methode Coast to Coast.

(Für Beate, für Philomene und für Jan)