5.10.

Nach dem ersten großen Regen zeigten sich an Ahorn und Linde die ersten gelb gefärbten Blätter. Die, die rings um deren Stämme auf dem Rasen verteilt waren betrachtend (und eigentlich zählend), fiel mir auf, wie schwierig es ist, nein: wie leicht es doch fällt in Anbetracht herbstlicher Phänomene an ein Zusammenwirken von Naturvorgängen zu glauben. Um Sinn zu konstituieren. Durch einen auf gedankliche Weise hineinpraktizierten Zusammenhang. Beispielsweise denke ich beim Anblick erster Blätter auf dem Rasen vor mich hin: Aha, bevor die Blätter fallen, gibt es in diesen Wochen zunächst eine Nacht mit Regen und viel Wind. Regen deshalb, um die Verbindung zwischen Blattstiel und dem Ast, dem Zweig, an dem das Blatt nun den ganzen Mai und dann den Sommer über gut gehalten hat, aufzuweichen, diese Verbindung, die ja wohl auch ein Ventil enthielt, durch das osmotisch die von dem das Blatt ernährenden Baum vermittels seiner Wurzeln aus dem Erdboden angesaugte Feuchtigkeit in die Adernstruktur jedes dieser vielen einzelnen Blätter geleitet worden war seit der Entrollung, hatte nun bei schwindender Zahl von Sonnenstunden, schwindender Intensität des Sonnenlichtes auch, ihre sogenannte Schuldigkeit getan, und wurde, da weder Baum noch Blatt über die entsprechenden Vorrichtungen verfügten, unter Zuhilfenahme erster Regengüsse und dem ergänzend wie zur Hilfe herbeiwehenden Windes von für diese Jahreszeit der Blattscheide charakteristischer Temperatur aufgeweicht, perforiert, ausgekugelt wie ein Schultergelenk, sodass ein von diesem Zusammenwirken herbstlicher Elemente angegriffenes Blatt schon bald seiner Anhänglichkeit müde ward und zu Boden fiel. ​Dabei denke ich natürlich auch zeitgleich an das schöne Lied Wild Is The Wind, besonders schön ist es gesungen von Nina Simone, eine Liveaufnahme, aber auch die im Studio aufgenommene von David Bowie ist schön, beide sind schön, unterschiedlich schön, eine jede für sich, aber im Effekt, also in Sachen des Gefühles, das diese beiden Versionen des Liedes heraufbeschwören oder auslösen beim Betrachten erster Blätter auf dem Rasen nach dem ersten großen Regen, sind sich beide Interpretationen ebenbürtig. Und in beiden heißt es Like a leaf clings to a tree / Darling cling to me/ For my love is like the wind —

Schwer aufzulösen, dieses Bild. Das lyrische Ich ist der Baum, an dem das Blatt hängt. Das Blatt soll sich festklammern, auf jeden Fall nicht loslassen, denn jetzt ist der Baum zum Wind geworden, der an dem Blatt reißt, der es mit sich fortnehmen will. Der danach trachtet. Das Blatt soll sich an den Wind klammern. Es soll sich gut festhalten, der Wind will nicht, dass es verloren geht. Wenn es erst auf dem Boden liegt, ist es dem Wind verloren gegangen.

Na ja. Jedenfalls gibt es mittlerweile viel zu wenige Essigbäume in der Stadt. Früher gehörte diese »Palme unter den Ruderalpflanzen« (Tita Giese) noch fest zur Stadtlandschaft, insbesondere zwischen den Gleisen und hinter den Bahndämmen. Noch früher, also im durch schwadenweise E605 insektenfrei gehaltenen Vorgarten meines Großvaters Rudolf, gehörte ein sauber beschnittener Essigbaum zum guten Ton, wie es heißt. Von daher packte ich gestern Mittag kurzentschlossen und musste dann noch ziemlich weit fahren, mit der sogenannten Heidekrautbahn, bis ich kurz vor Wandlitz am Rahmer See noch auf eine Siedlung stieß, wo zwischen bauhaushaften Behelfsbauten aus der DDR-Zeit noch Essigbäume stehen. Und wie ich es mir ausgemalt hatte, zeigt sich an ihnen gerade jetzt und nur noch für wenige Tage eine Laubfärbung wie auf einem Malen-nach-Zahlen-Gemälde: Pfirsichtöne, von lohfarbenen Fäden durchwirktes Rot. Dazu eine Stille — geradezu beunruhigend. Kaum Vögel. Hier werde ich einen Tag bleiben. Vielleicht sogar zwei.