5.3.

Für den Sonntag war durchgehend Sonnenschein versprochen, dazu eine Temperatur um 20 Grad: Nichts davon kam durch die Wolkendecke, die sich aus vielfach über ungesaugten Parkettfußböden gewälzten Wattebäuschen zusammengeballt hatte (und wo dann mal ein blauer Fleck zu sehen war, erschien mir der wie hilfesuchend, eingesperrt, gerade so, als hätte er sich ein Sichtfenster freigewischt).

Bevor Andreas als Wirt den Kiosk Easy Rider übernommen hatte, den es damals vor dreißig Jahren zwar schon gab, aber da noch unter einem anderen Namen, hatte sich das kleine Haus im Wäldchen zwischen Autobahnausfahrt und Auffahrt zum Strandbad allmählich zu einem Treffpunkt von Motorradrockern etabliert. Damals, so geht die Legende, betrieb ein Wirt, dessen Namen heute niemand mehr weiß, auch noch ein kleines Bordell im Hinterzimmer des Kiosks. Was heute nicht nur schwer, sondern überhaupt nicht mehr vorstellbar scheint, denn der Bau an sich ist für unseren an heutigen Bedürfnissen orientierten Blick bereits derart knapp bemessen, dass alles, was durch die Bedienluke von seinem Innenraum ersichtlich wird, so winzig und klein erscheint, wie die Welt vom Flugzeug aus betrachtet. Angeblich waren die Menschen früher noch kleiner von ihrem Wuchs her – vor vierzig Jahren auch?

Jedenfalls führte dann dieser Zuspruch seitens der Zweiradfreunde aus Berlin und dem westlichen Umland (?) bald dazu, dass vor dem Wäldchen, auf einem direkt an der Straße gelegenen Grundstückchen, ein zweiter Kiosk eröffnet wurde, der konzeptuell von vorneherin auf eine Kundschaft von Fahrern sogenannter heißer Öfen setzte. Und dieser zunächst sehr kleine Betrieb wurde dann zugleich noch zu einem Symbolbild der neuen Wirtschaftsordnung, denn über die kommenden Jahrzehnte wuchs er beständig und wie ein Teil eines Organismus immer weiter. Aus einem Häuschen wurde ein Haus. Aus dem Haus eine Halle. Davor breitete sich eine Terrasse aus, umgeben von Parkplätzen. Im Sommer wird heute eine direkt an den Abgrund zur darunter hinwegsausenden Autobahn eine Wiese mit Liegestühlen möbliert, auf deren roten Stoffbespannungen sich jeweils das Logo der Limonade mit Kräuterauszügen namens Almdudler wiederholt.

Und das ist schließlich halt doch interessant. Denn auch der Innenraum des Rockertreffs ist im alpenländischen Stile gehalten. Vom Boden her noch abwaschbar und dementsprechend mit breitflächigen Kacheln aus blutwurstfarbenem Steingut belegt, sind die Wände bis hinauf in die Zirbeldecke aus gehobeltem Fichtenholz. Eine lange Vitrine, die belegte Brote und Sahnetorten enthält, leuchtet gelblich. Die warmen Speisen sind, das wird überall auf den handbeschrifteten Tafeln aus Schieferimitat durch Unterstreichungen betont, nach Tiroler oder Grazer Rezepten zubereitet. Es hat niemand eine Flasche Almdudler vor sich, und dennoch ist dieses Logo, auf dem sich ein Mann und eine Frau, die beide Schlapphüte aus grünem, dem Anschein nach weichem Material tragen, mit Almdudlerflaschen zuprosten, aus deren Hals jeweils ein rot gestreifter Strohhalm ragt, omnipräsent.

Die Zweiradfreunde selbst sind vom Altersdurchschnitt her in ihren Vierzigern. Man trägt hier keine Kutten, sondern teuer wirkende Ganzkörperrüstungen aus Kevlargewebe. Leder ist nur noch selten zu sehen. Einige Männer zeigen sich mit Langhaarfrisuren. Sehr viel häufiger ist die willentliche Totalglatze zu sehen. Auch oft mit Bart und einer auf dem rasierten Schädel getragenen Sonnenbrille. Wenige Frauen haben sich, wie man das ungesehen vermuten würde, die Augenbrauen abrasiert und in anderer Form hintätowieren lassen. Und es gibt, sitzt man dort auf der Terrasse an einem der langen Tische, die aus halbierten Baumstämmen mit extraknorrigen Tischbeinen bestehen, auch kaum etwas Rockertypisches in den Tischgesprächen zu belauschen. Es geht sogar enttäuschend wenig um die Maschinen, die auf dem Standstreifen vor der Almhüttenhalle in einem chromblitzenden Knäuel bis hinüber an die Autobahnbrücke aufgestellt sind. Die moderne Kluft des Motorradfahrers sitzt hauteng und lässt sich während einer solchen Ruhepause auch während der Mahlzeit nicht öffnen, sodass es von Nahem wirkt, als sei eine transhumanistische Formfantasie bereits Wirklichkeit geworden, wenn ein android wirkender Körper aus in schwarz und weiß gemusterten Kevlarbauteilen mit draufgeschraubtem Frauenkopf ein Stück Germknödel mit Mohnfüllung zwischen seine permanent Make-up-Lippen schiebt (und im Hintergrund der Spitzgiebel der Almhütte). Über dem Eingang steht in echter Kreidehandschrift C+M+B 2017. Keine Musik übrigens. Es läuft, von nebenan, die Autobahn.