5.4.2019

Die sogenannte Therme springt jetzt tagsüber kaum noch an, weil es schon morgens so schön warm ist – das Ende der Heizperiode ist da. Wie ich es im Buch geschrieben habe: Hin und zurück ist gleich weit. Und: Draußen wie drinnen wird es gleich schön. Der Luftdruck war überdies gesunken auf 993,0 Hektopascal.

Wahrscheinlich müsste ich aber die Dunkelzone etwas ausleuchten mit meinen Beschreibungen, um den Hintergrund aufzuhellen, vor dem die Lesung, vor dem auch Robert Habeck mir gestern so leuchtend erschienen war.

Es ist für mich eine unliterarische Umwelt (obwohl jeder und jede zweite, selbst im Gehen, andauernd liest). Es ist eine Umwelt, in der die Anzeigefelder an den Stangen der Tankstelle mir zu jeder Tageszeit den aktuellen Spritpreis in roten Ziffern anzeigen, ohne weiteren Kommentar. Und gleichzeitig habe ich gerade noch ein Eichhörnchen betrachtet, das, beim Sprung vom belaubten Baum hinüber ins Gerippe des anderen, seinen Schwanz wie beim Yoga über seinen Körper vorangebogen hat bis auf seine Schnauze hin und ich fragte mich: Was will mir diese Geste bedeuten?

Die gleiche Welt übrigens, in der ich mich dabei noch fragte, wieso der rechte Baum, von mir aus betrachtet, um Wochen früher austreibt als der linke. Und: Was ich für den Spätzünder tun könnte? Und in diesem Baum, dem kahlen, gibt es seit dem Winter schon Äste, von denen das Eichhörnchen unter anderen die Rinde abgeschält hat bis auf das Innere, das Fleisch seines Gewächses. Tags landen dort auf den Wunden des Baumes auch die Vögel, um Fasern herauszureissen. Die werden abtransportiert, als Material für den Nestbau. Eine Nebelkrähe, die gibt es angeblich bloß hier, in Berlin, hüpft mit einem Bündel dieser Holzwolle einen Ast aufwärts. Dann schwebt sie, anscheinend schwerelos geworden, damit davon.

Es ist eine Welt, in der sich, im Nachbarhaus der Buchhandlung zur Stunde der Lesung von Robert Habeck, massenhaft junge Leute versammelt hatten, um dort, bei Risa (einer Systemgastronomie für frittiertes Hähnchenfleisch) zu zweit oder zu dritt am Tisch beieinander zu sitzen, um diese auf Papierservietten ausgebreiteten Hähnchenfleischteile mit Pommes frites zu schmausen (und dabei hatten viele den persönlichen Bildschirm in der anderen Hand).

Wenig später fragte ich mich im Stillen, ob der Petersilienstrauch, den ich dabei war zu kaufen für weniger als zwei Euro, denn nicht unnatürlich hoch geschossen mir vorkommt, weil mir die am Rande seines Topfes aus blauem recycelten Kunststoffes herausragenden Stiele der Pflanze als etwas zu bleich scheinen wollten. Das war in dem Supermarkt, an dessen Front große Plakate verkünden, dass ich beim Kauf eines bestimmten Joghurts mittlerweile einundvierzig Prozent spare von meinem Geld.

Manchmal schrecke ich auf aus einem meiner Tagträume, weil der Xylophonakkord in »The Lost Generation« genau so klingt, wie der Benachrichtigungsklang meines Telephons (Und eventuell von The Lost Generation oder von »So lebe ich« von Blumfeld gesampelt ward).

Und es ist diese Welt, in der mir in der Zeitung eine Tauchdrohne vorgestellt wird, hergestellt in Schleswig, die über eintausend Euro kosten soll, und deren Hersteller sein Produkt an die Freunde des Angelsports offeriert: »Sie können den Fischen beim Anbeißen zusehen.« Und abends steigt die neueste Errungenschaft der Verkehrsbetriebe mit ein in die S-Bahn. Auf dem Rückenschild seiner gelben Weste steht »Kamera«. Demna Gvasalia dürfte das gefallen.

Andere wiederum kaufen Ostereier. Wieder andere färben die selbst. 

Die Welt, in der die Lesung von Robert Habeck gestern stattgefunden hat, ist natürlich noch größer. Am gleichen Tag telephonierte ich mit einer Autorin aus der Schweiz, die mir verständlicherweise mitteilen musste, dass sie für diesen Textauftrag nicht weniger als zweitausendfünfhundert Franken zu bekommen braucht. Und es war in der gleichen Welt, verbunden durch das Internet, als ich beim Ausfüllen des Mitgliedsantrages bei den Grünen feststellte, dass ich sehr wenig verdiene (man soll dort einen Prozent seines Monatsgehaltes eintragen als Beitrag – das war mir peinlich. Ich habe das Formular nicht abgeschickt).

Als ich Ingo neulich erst fragte, warum er seine Wohnung hier in Berlin nicht aufgeben will, sagte er: Eine Lagerfläche für meine Bücher in der Schweiz kostet mich mehr im Monat als eine Wohnung in Berlin.

Von einer Lagerfläche in der Schweiz wage ich nicht mehr zu träumen. Und zeitgleich schieben die Fingerspitzen des Postboten oder der Postbotin einen Brief durch den Schlitz in meiner Wohnungstüre, in dem mich die evangelische Gemeinde Luisen hier willkommen heißt und einlädt, zu den Gottesdiensten zu erscheinen. In diese Kirche übrigens, die ich schon mit Friederike und davor mit Christian bewundert hatte, weil die wirklich großartig gebaut ist.

Stelle die Musik aus, hör‘: Wie schön das draußen ist! (Abends legt sich alles in mir und ich traue mich nicht einmal mehr Musik anzumachen. Das ist wohl Erfurcht.)

Und die Welt ist ja noch viel größer. So groß, dass ich mich selbst nicht außerhalb ihrer vorzustellen vermag.

Das Eichhörnchen lebt auch in dieser Welt. Und Robert Habeck sagte gestern: »Wenn meine Leute im Bundesvorstand hören, dass ich hier Celan vorlese, drehen sie durch«.

Ah ja, warum eigentlich? Ist doch furchtbar traurig. Eigentlich. 

The world spins so fast, that I might fly off — Duran Duran haben das gesagt, Simon Le Bon hatte es gesungen. Ist mega lange her. War damals lustig gemeint (oder subjektiv), wirkt heute wie prophetisch auf mich, weil es ja die Motorizität des Planeten beschreibt. Gleich so, als ob der Tag nicht bloß vierundzwanzig Stunden hat, sondern auch noch einen ihm eigenen Rhythmus, gegen den man nun mal nichts aufzubringen hat. Gegen den man nicht an kann. Als Mensch. 

Aussteigen geht auch nicht. Mitmachen lohnt sich. Die abscheulichste Vorstellung, die ich von mir selbst haben kann, wäre die:…(Raum für Notizen)

My Heart Will Go On (Roman Flügel Club Mix).