5.6.

Irgendwo hatte Arno Schmidt einmal ausgerechnet, dass man im Verlauf einer durchschnittlichen Lebenszeit maximal 2500 Bücher zu lesen schafft. Ich habe es bislang verpasst, mitzuzählen, aber ich bin trotzdem froh, dass Der Tod des Märchenprinzen von Svende Merian nun bei mir dazugehört. Erschienen im Jahr 1980, verkaufte sich der auf extremistische Weise autobiografisch konzipierte Liebesroman um die zweihunderttausend Mal, und das erklärt extrem viel über seine Ära, in der sich beispielsweise auch die eigenhändig illustrierten Gedichte von Kristiane Allert-Wybranietz jahrelang in der Bestsellerliste des Spiegel in den Spitzenpositionen halten konnten.

Beide Autorinnen, Svende Merian wie Kristiane Allert-Wybranietz, gerieten in den Neunzigerjahren in Vergessenheit. Die Dichtern betreibt heute einen Grußkartenservice im Wendland, Frau Merian schreibt einen Blog für übersehene Kinder- und Jugendliteratur. Im Gegensatz zur Poesie von Allert-Wybranietz lässt sich aber die Geschichte vom Tod des Märchenprinzen noch immer sehr gut lesen. Ich meine sogar: mit Gewinn. Als historischer Roman aus den späten Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Und als wichtiger Bericht einer Chronik der Gefühle zwischen Frauen und Männern. Beziehungsweise: aus der heißen Phase unmittelbar nach dem Heißen Herbst.

Wer schön sein will muss leiden – der Spruch trifft nicht nur auf Äußerlichkeiten zu. Bei Svende Merian, deren Protagonistin genau so heißt wie sie selbst (Svende), geht es sogar ausschließlich um das Innenleben ihrer beiden Figuren. Und im Gegensatz zu ihm, den sie anfänglich für einen Märchenprinzen hält, strebt sie nach seelischer Politur, wo er sich bald nur noch gehen lässt. Dieser Mann heißt einfach Arne. So viel zur Staffage. Und er hat seidiges Haar, das ihr an einem Morgen, weil er selbst bei Minustemperaturen auf geöffnete Schlafzimmerfenster besteht, eiskalt erscheint. Die Liebesgeschichte, die Annäherungsphase wird schön beschrieben, doch kurz darauf schon wird es beinahe unerträglich realistisch und dadurch auch anstrengend. Und so bleibt es dann auch. Beziehungsgespräche sind ja für beide Beteiligten nicht eben angenehm, aber in dieser Zeit muss es dermaßen unerbittlich zur Sache gegangen sein, dass man sich nur noch graust. Und dass man plötzlich versteht, weshalb all die rechtsgewendeten Ex-Aktivisten linker Kulturproduktion wie zum Beispiel Botho Strauß und Peter Stein in den Neunzigerjahren betonen wollten, dass »man sich damals in Sachen Liebe und Beziehung viel zu viel zugemutet habe«. Svende Merian dreht mit ihrer gnadenlosen Offenheit bei gleichzeitiger Hypersensibilität derart beharrlich auf, dass ihre Erzählung an keinem Punkt ins Parodierbare kippen will, es trotzdem zunehmend Schilderungen gibt, wie jenen Auseinandersetzungen, die dann eben nicht mehr unter zwei sich trennenden Liebespartnern stattfinden, sondern im Plenum der Wohngemeinschaft als Gruppendiskussionen. Hart auch, wie ihr innerer Monolog beständig und bei leichtem Nachdenken bereits von Liebesschwüren ins Feinddenken sich verkehrt. Märchenprinz und Schwein liegen in ihrem geschlechtspolitischen Gedankengebäude in unmittelbarer Nachbarschaft beieinander, und dass sie den Märchenprinzen, für den sie Arne aufgrund dessen Sanftheit zu Anfang noch halten konnte, am Ende begraben muss, ist die Frucht ihrer Erkenntnis, dass sie den Einen ohne das Andere niemals bekommen können wird.

Trotz all der Quälerei, der oftmals im Wortsinne peinlichen Passagen, fühlte ich mich nach der Lektüre des für 1 Euro 30 erstandenen Romans auf seltsame Weise bereichert. Die alltägliche Mann-Frau-Kommunikation auf einer Fahrt mit der S-Bahn nahm ich ganz anders, als erfrischend, natürlich auch als deprimierend wahr. Selbst wer sich für Liebe gar nicht oder wenig interessiert – soll’s ja geben, es gibt ja so viel –, könnte diesen Roman mit Gewinn lesen, wenn er sich dadurch die darin extrem präzise geschilderte Atmosphäre vergegenwärtigen lässt. Als nämlich alles noch politisch wahrgenommen wurde und war. Als man sich jeden Abend, oft auch tagsüber mehrfach mit anderen traf, um die Alternativen zum Bestehenden zumindest zu diskutieren. Das kann man freilich albern finden oder prekär – ganz so dumm war die Idee allerdings nicht. Als fun fact fand ich auf Seite 101 meiner Ausgabe auch die meiner Ansicht nach erstmalige Erwähnung jener virulenten Phrase, man habe »etwas akustisch nicht verstanden«. Die Szene an sich ist aber halt leider überhaupt nicht funny. Wie eigentlich keine einzige in diesem Roman. Sehr oft rührte die Erzählung der tapferen Svende mich dagegen zu Tränen. Vor allem da, als sie sich, vollkommen kirre vor Liebeskummer, in die Bildwelten ihrer Postkarten mit naiver Malerei hinein und fort zu träumen sehnt. Oder wenn sie sich auf eine der zermürbenden Diskussionen mit dem Ex-Märchenprinzen vermittels eines Stichwortspickzettels vorbereitet, den sie »in der Latztasche ihrer Latzhose« aufbewahrt. Und trotzdem keines ihrer Argumente vorzubringen schafft, weil da wieder bloß Nebel ist in ihrem Bewusstsein, wenn sie ihm gegenüber steht.