6.2.

Noch bei jedem Sonnenaufgang nehme ich mir vor, auf gar keinen Fall mit dem Aufheben der Strandkiesel überhaupt anzufangen, aber das bringt halt original gar nichts – leider, denn ich schleppe dann doch jeden Mittag wieder fünf bis acht oder drei davon heim und bei Easyjet freut man sich bereits gebührlich auf mein Übergepäck.

Ähnlich ging oder geht es Rainald Goetz mit den Zeitungen, vielmehr: mit all diesen Läden, die Zeitungen auslegen in ihrer täglich neuen, alltäglich geilstens, verführerisch mit ihren Schlagzeilen wedelnden Mannigfaltigkeit.

Hier aber, am Fußbad der Grande Nation gibt es sowieso bloß eine einzige Papeterie, die etwas anderes noch führt als Nice-Matin und Charlie Hebdo und das Teil mit der Ente. Also kontrolliere ich halt überhaupt nicht mehr, was in Deutschland so gedacht wird und vom Prinzip her ist das dann auch der Erholungsfaktor für mich. Und dass ich mehr esse als sonst. Sehr viel mehr. In Wahrheit ist es extrem. Geradezu abartig. Im Grunde ist es widernatürlich. In einem Wort: pervers.

Austern zum Frühstück und Torte zu Mittag. Abends, als Ausgleich: dreimal hintereinander und warm. Gestern erst hatte ich derart viele Schnecken auf einem sogenannten Bett aus frittierten Froschschenkeln, dass sogar der Wirt des von der Nebensaison schwerst gebeutelten Hotels Grimaldi meinte, dass es jetzt mal gut sein müsste mit meinem Gargantualisme. Von selbst wäre mir das leider nicht klar geworden, denn mir geht ein »un plus« leider, leider allzu leicht über die Lippen und wie eine Katze angesichts warmen Vanillepuddings bin ich leider halt total unvernünftig und esse so lange, bis ich kotzen muss; zumindest so lange, bis es mir so richtig und eisenhart weh tut im Bauch.

Dementsprechend träge gab ich heute früh am Strand liegend eine Figur ab, die sich zu nichts fähig zeigte, außer so halbwegs konzentriert ihre Speisenfolge für Mittags zu planen. Im Walkman liefen die Brandungsgeräusche des Pazifik, während ich aufs Mittelmeer schaute. Ein Flugzeug zog seinen Chemtrail vorüber, ansonsten war alles, wirklich alles andere total blau und ich dachte: Mannomann, noch nicht einmal 9 Uhr am Morgen und schon wieder ein dermaßen hammergut geglückter Tag!!!

Weil der Konjunktiv im Französischen so schwer zu bilden fällt, machen die Leute hier einfach lieber etwas, ohne es großartig und sozusagen von langer Hand zu planen. Das behagt mir. Da bleibt auch viel mehr an Kapazität frei im Denken. Außerdem sage ich supergerne merci.

»Where orange trees grow, there cannot be democracy«, hat mir Diego Malara im Haschgarten des Hotel Taitu einst beigebracht, aber was nicht mit gesagt wurde, war das Zauberwort der Anarchie. Als getaufter Protestant habe ich ja auch viel zu lange daran geglaubt, dass es so doch nicht gehen dürfte; ich habe die Musik, die hier andauernd läuft, für eine Ferienmusik gehalten, aber objektiv betrachtet, haben die Leute hier halt gar keine Ferien, sondern die kennen das Leben bloß in dieser einen einzigen Form. Was aber interessanterweise nicht heißt, dass sie in ihren Ferien nach Finnland fliegen, um dort Drone Metal zu hören. Und, klar: Sie nennen es Arbeit, aber im scharfen Gegensatz zu den Leuten in Deutschland, wo es sich, nervtötenderweise, ja durchgesetzt zu haben scheint, auf Proletarier zu machen und also entweder nur noch davon zu reden, wie viel man noch arbeiten müsse, oder aber, wie viel man heute bereits gearbeitet habe, lassen es hier eben alle zumindest so aussehen, als ob das eigene Arbeiten nicht der Rede wert sei. Arbeiten ist peinlich, Ringen ist ungeil, und ein jeder will doch ohnehin viel lieber König sein. Bauarbeiter üben stundenlang vor dem Spiegel, wie man die Bohrmaschine hält. Das ist ja nicht nur in F so, das registriere ich beinahe überall sonst auf der Welt. Bekanntlich tragen die Verkehrspolizisten in J weiße Handschuhe wie Mickey Mouse. Wenn es nach mir ginge, trügen alle Finanzbeamten in D goldfarben schimmernden Nagellack.

Was Catrin Sieger mir mal vor beinahe drei Jahren, genau am Abend des 26. August 2013 gesagt hat: »Joachim, diese Selbstbestrafungsexzesse müssen jetzt echt mal aufhören« – kluge, nein: weise Catrin!!! Das Gewicht ihrer Worte wurde mir heute früh, als ich die Kiesel vom Strand klaubte, endlich bewusst.

Aber so was von.

Zwar werde ich weiterhin meine Kirchensteuer bezahlen, aber der Hohepriesterin des Todes und der Vergeblichkeit mitsamt ihrer bösen Kirche habe ich nun endgültig abgeschworen.