6.1.

Heilige Drei Könige. Wunderschöner Sonnenaufgang: am Horizont die klaren Farben. Der See nicht zugefroren. Er lebt noch, so to say. Die Wellen spielen (ein graues Spiel). Als ich gestern in der Dunkelheit nach einem langen Tag der Lektüre uralter Interviews nach Hause kam, da schien die Heizung schon seit Stunden ausgefallen. Hilfe war unterwegs. Ich fand es drinnen trotzdem sehr beruhigend und gemütlich – allein schon meiner Türen wegen, die ich schließen konnte, um Räume nur für mich zu erzeugen. Nach stundenlangem Aufenthalt in einem Büro, wo zu jeder Zeit jemand anderes hereinkommen kann, oder manchmal auch nur plötzlich etwas sagt, oder zu telefonieren beginnt, seine Stimme laut werden lässt, ist das, sind die privaten Räume etwas, gehe ich in ihnen raumgreifend umher, weil ich sie leider nicht umschließen kann, obwohl ichs vom Gefühl her gerne würde aus lauter Dankbarkeit, dass es sie, die lieben Räume für mich gibt.

Am Morgen war ich am Savignyplatz die Treppe auf der hinteren Seite des Bahnsteiges hinuntergegangen. Dort lag zwischen Treppenabsatz und halb eingeklapptem Stahltor eine Gestalt. Komplett eingehüllt in einen sogenannten Mumienschlafsack aus rotem Kunststoff, der wie neu aussah und noch ganz sauber. Daneben ein Buch: ein dicker Krimi, Strandlektüre mit Metallic-Cover, John Mc Irgendwas, das neben dem Kopf der Mumie auf den schmutzigen Fliesen des Fußbodens lag. Ich nahm das zur Kenntnis, weil alles am Obdachlosen kaputt, geflickt, gebraucht, zerfleddert auszusehen hat, sonst stimmt etwas nicht mit seinem Bild und es ist am Ende nicht einmal ein Obdachloser. Ich müsste mich sofort um diese Person in dem Mumienschlafsack kümmern, die hier bei minus fünf Grad einen Selbstversuch im Extremcamping am Savignyplatz durchzuziehen droht. Oder ausgesetzt wurde, von ihrem Ex-Partner, von der eigenen Familie. Also mindestens 110 anrufen. Vielleicht sogar psychiatrische Hilfe, Notaufnahme am Morgen.

So aber: Nicht einmal angetippt worden, ist die oder der Schlafende, möglicherweise auch bereits Tote, die oder der von mir, oder einem der vor mir die Station am Savignyplatz verlassenden Leute. Wir, die wir Arbeit haben und eine Wohnung mit Räumen, in denen wir machen können, was wir wollen, ohne dass uns jemand anstupst und fragt, ob wir noch leben.

Gegenüber des Zoologischen Gartens auf dem Weg zur Schleuse gibt es eine lange Mauer, auf der die Gleise geführt werden. Sie bietet Schutz vor Wind, außerdem hat man vermutlich gerne etwas Festes im Rücken, wenn man schon unter freiem Himmel wohnen muß; also ich hätte das gern. Dort wohnen schon, seit ich denken kann, Männer das ganze Jahr über. Sie schlafen und liegen und essen dort Seite an Seite. Ob immer friedlich, weiß ich nicht. Ich habe da noch nie Halt gemacht, bin oft mit dem Fahrrad vorbeigefahren auf dem Weg durch den Tiergarten. Seit einigen Jahren nimmt dort in dieser Population an den Gleisen der Anteil von Frauen zu. Und zwar beträchtlich. Überhaupt nimmt die Zahl obdachloser Frauen in Berlin zumindest, woanders in Deutschland kann ich es nicht gut beurteilen, zu.

Obdachlose Frauen.

Dann lange nichts.

An dem Haus, in dem ich zur Zeit arbeite, um mir meine Wohnung leisten zu können, klebt eine dieser Gedenktafeln von KPM, die an Berliner Persönlichkeiten erinnern. So eine, wie sie in der Hauptstraße 155 seit vergangenem Jahr an David Bowie erinnert. In der Mommsenstraße 57 erinnert sie an Günter Neumann, »ein Mann, dem Berlin viel verdankt«. Er gilt als Urheber des Liedes Der Insulaner verliert die Ruhe nicht. Na gut. Entstanden halt zu einer Zeit, an die auch der Savignyplatz erinnert: Savignyplatz/Erkennen Sie/Die Melodie? Ein ganzer Platz im Walzerglück.

Im Frühjahr letzten Jahres verschwand wie von einem Tag auf den anderen der Mann, der vor dem leerstehenden Gebäude von Peter Behrens am Kleistpark gelebt hatte. Im überdachten Eingangsbereich, hinter einem hüfthohen Schutzwall aus prall gefüllten Müllsäcken und vielen, vielen aufeinandergestapelten leeren Erdnussdosen. Damals schrieb ich, dass ich annehmen wollte, er habe sich in einer karmischen Wandlung verflüchtigt mitsamt seinen Dosen und Tüten. Kurz vor dem Einbruch des Winters, als im Park nebenan die letzten Blätter weggeblasen waren, saß er wieder da. Und täglich wuchs die Anzahl seiner Tüten. Nur das mit den Dosen fängt später im Jahr erst an, wie es scheint. Oder es handelte sich um ein jahresbezogenes Ding für 2016.