7.11.

Erik schickte einen Link zu einem Videoclip auf Youtube. In der Betreffzeile stand »Gute Besserung«. Statt einer Postkarte wie ich annahm*. Ging ja auch gar nicht anders, es war ja Sonntag. Genau genommen also anstelle eines Telegramms (dafür mit Bildern). Zu sehen waren Bilder aus dem alten Erfurt. Der Clip lief unter dem Titel Erfurt in der DDR. Sollte vermutlich unser nächstes Treffen mit Boris Lochthofen vorbereiten helfen, das ja in Erfurt selbst stattfinden würde (Boris Lochthofen ist für die anstehende Vorweihnachtszeit wohl leider derart verplant, dass es im alten Jahr zu keinem weiteren Zusammentreffen im Mainhattan reichen wird.) Eventuell, und allein das spricht ja für einen Abstecher nach Erfurt: in einer der vielen noch erhaltenen Imbißstuben für Thüringer Bratwürste, die es in Erfurt noch gibt.

In dem Clip war davon keine einzige zu sehen. Die Bilder naturgemäß von einer Traurigkeit, die meiner Stimmung in der Rekonvaleszenz sehr schön entgegenkamen. In den ersten fünf Minuten tauchte kein Mensch auf, der nicht in einem Bagger saß. Was bedeutete, dass ich gar keinen zu Gesicht bekam, weil die Szenen allesamt aus ziemlicher Distanz aufgenommen waren. Vermutlich, weil das Filmen der kaputten Fassaden und Straßenzüge damals illegal war. Ein Gefängnis gab es auch. Es kommt in direktem Anschluß an eine Kamerafahrt entlang einer gigantischen Kuchentafel, die an einem in Orwo-Farben getauchten Frühlingsnachmittag vor einer frisch fertiggestellten Plattenbauzeile aufgestellt worden war. Es waren vor allem mastig in enge Pullunder verpackte Kuchenfreunde mit silbergrauem Haar eingefangen. Die Kuchen selbst: sahnig und flach, mit in stechendem Rot leuchtenden Kirschen verziert (Modell Frankfurter Kranz). Dann drang die Kamera, nach ein paar Nahaufnahmen von Blumen, hinter das vergleichsweise intakt wirkende Mauerwerk eines Gefängnisses ein. Durch die Montage ergab sich ein Sinnzusammenhang: Kuchen nach dem Subotnik ist in Ordnung, aber wer es überteibt, kommt in den Knast. In dessen Inneren es total kaputt und rostig zuging. Klaro, sollte und soll ja auch kein Zuckerschlecken sein. Die Kamera zeigte in unruhig hin und herschwankender Manier und obendrein aus Hundeschnauzenperspektive die verrosteten Schließtüren, hinter denen man alle Hoffnung fahren lassen durfte. Durch die Futterklappe ging es direkt in eine der Zellen hinein: ein  Schemel und zwei Kisten ohne Matratzen versuchten nicht mal mehr, auf Interieur zu machen. Ein unerklärlich reichhaltiges Sortiment von Kübeln und Kannen auf einem Board an der Wand. Vermutlich zum Foltern. Dann wieder Blumen, Kinder im Gänsemarsch und jede Menge Springbrunnen. Vom Reisen her weiß ich, dass in maroden Staaten die Springbrunnen zuletzt abgeschaltet werden. Nur wo es ganz aus ist, liegen die Becken trocken und bald schon staubig geworden noch so lange da, bis sämtliche Rohre geklaut werden.

* Mit Friederike hatte ich am Morgen noch über die Postkarte an sich gesprochen. Wie lange es die noch geben würde? Derzeit sah es ja noch gut aus für das hübsche Medium. In Berlin, nur zum Beispiel, gab es noch an jeder Ecke Postkarten. In Frankfurt auch. Aber im Vergleich zur Hochphase der Postkarte, also als es noch keine Mobiltelefone gab und auch noch keine Videokameras, gab es mehrere Genres von Postkarten, von denen die aus dem kleinsten Segment nur noch in einem ursprünglichen Sinn als Ansichtskarte Verwendung fanden. In Berlin zeigten diese hauptsächlich die drei wohl attraktivsten Orte der Hauptstadt: Holocaustdenkmal, Alexanderplatz, Potsdamer Platz. Und freilich, manchmal als zusätzliches Inlay: das Brandenburger Tor. In Mitte und noch weiter in ostwestlicher Richtung nahm die Anzahl der Postkartenverkaufsständer sogar noch weiter zu im Vergleich mit den Hotspots des Tourismus klassischer Prägung. Aber hier waren jüngere Touristen unterwegs, die insofern als statistisches Material für die etwaige Überlebensdauer der Postkarte an sich relevant waren und es auch noch lange bleiben würden; und auch die dort sesshaft gewordenen, mehrheitlich ebenfalls jüngeren Berliner griffen im Alltag bei diesen dort verkauften Postkarten zu. Die aber, so glaubte Friederike, eher weniger zum Verschicken verkauft werden, sondern um beispielsweise zusammen mit einem Buch verschenkt zu werden. Oder um, sie hatte das schon ein paar Mal so gesehen, die eigene Wohnung damit zu dekorieren. Dementsprechend waren auf diesen zeitgenössischen Kunstpostkarten bevorzugt Plattenbausiedlungen in Instagramoptik abgebildet. Oder eine bröckelnde Mauer, auf die ein Liebesgraffiti gesprüht worden war. Oder eben jene historischen Fotografien aus den zwanziger Jahren, die mit einem das Motiv konterkarierenden Spruch versehen waren. Oder eben japanische Illustrationen oder Stiche aus dem Anatomieatlas oder oder oder. Und während wir uns das gegenseitig erzählten und aufzählten, unser angehäuftes Wissen austauschten, um somit unser beidiges zu vermehren, las mir Friederike aus der Zeitung vor (ich war ja noch zu schwach, um aufzustehen), dass in den neuen ICE-Zügen die Abteile abgeschafft worden waren. Es kann also halt doch sein, dass es die Postkarten irgendwann auch nicht mehr geben wird. Ob wir das erleben würden?