7.2.

Bei jeder Platane hier muss ich noch immer an Hardy Blechman denken.

Und es begab sich, dass zur Zeit der Mimosenblüte, als die Orangen schon reif an den Bäumen hingen, selbige wiederum polyphon rufend: »Schüttel’ mich, bitte, schüttel’ mich«, dass also genau dann, während in Berlin der Fernsehturm wie ein Mittelfinger des real existierenden Sozialismus aus dieser Narbe namens Alexanderplatz aufragte, ein Mann mit so einigermaßen unzähligen Eigenschaften, einige davon wirklich, die meisten allerdings angedichtet, in einem Dorf am kalten Mittelmeer umherging. Indes wehten die Lüfte bereits linde und zunehmend warm. So klein war Cagnes/M: und »dabei so groß« wie Goethe schon schrieb.

Gestern schon hatten sich, währenddessen ich skypte, die Spalten der Berge gegenüber mit Nebeln gefüllt. Das war ein wirklich herzhafter Anblick, gleichzeitig wusste ich auch, dass es am nächsten Morgen schlechtes Wetter geben würde. Dementsprechend schlief ich tief und auch lange, ein Albtraum, der schlimmste seit langem: und ich wachte um 4 Uhr 02 von meinem eigenen Geschrei auf. Dann wieder eingeschlafen, nachdem ich alles, so gut wie, noch erinnerlich notiert hatte (sechs Seiten, so lang!!!).

Beim Morgenkaffee, es war bereits bedeckt und der Sonnenaufgang ward mir verheimlicht, ging es unter den Einwohnern auch bloß um das eine Thema, dass in der Nice-Matin der Regen für Montag angekündigt war, das Küstenradio aber bereits den anstehenden Abend als dafür gültig vorhergesagt hatte.

Der Softeisladen an der Strandpromenade hatte zu, eigentlich hat ja beinahe alles zu, was ich hier gerne mache und nach dem Mittagessen legte ich mich mit einer Wärmflasche ins Bett, wachte dann überraschenderweise erst kurz vor der Stunde des Aperitifs wieder auf.

Und es regnete bereits, es regnete auf diese gelangweilte Art, wie sonst nur in Paris, der Himmel war demnach perlgrau und sozusagen indifferent, und immer wenn es regnet, muss ich halt doch immer und leider an Max Herre denken: eine Morsemelodie aus zwei Piepstönen, sie ist abwechslungsreich, überraschend, Freude bereitend und von daher.

Das Haus ist semi-perméable, es kühlt in seinem Inneren recht fix auf die Außentemperatur herunter. Und da auf dem Burgplatz oben nichts anderes mehr offen hat als das Grimaldi, gehe ich halt dort hin. Da läuft Fußball auf dem Mega-Screen, und ich bin für lange Zeit der einzige Gast. Stuttgart gewinnt gegen Frankfurt 4:2. Rien n’importe, aber ich treffe ja auch immer wieder auf Frauen, die ich gut zu kennen glaubte, und die eröffnen mir dann plötzlich, dass sie im Grunde total auf Manuel Neuer abonniert sind (diesen Torwart). Irgendetwas muss also dran sein an Fußball. Die Fernbedienung des Grimaldi ist zu dieser Stunde aber glücklicherweise à discrétion - und auf BeIN Sports gibt es Nuru-Catchen.

Der saisonale Hit, der parallel aus der auf dem Tresen platzierten Stereoanlage kommt, ist ein ultraluftiger Take auf Fast Car von Tracy Chapman – dermaßen megazuckrig, dass es kaum auszuhalten ist (also im Sinne eines Sitzenbleibenkönnens), vor allem aber dann auch, vermutlich, wenn man, wie in meinem Fall, so um die 17 Jahre alt war, als Fast Car in der Originalversion heftig trendete, und ich mich halt bei der Zeile »Remember when we were young« unweigerlich an das Konzert von Tim und die Tapire erinnern muss; wo das hinterher lief – im Jugendhaus von Heslach, vielleicht war das auch in Stuttgart-Rot. Jedenfalls fragte ich Tim Eitel damals, wie er das genau so genial hingekriegt hatte mit dem 7-Finger-Picking und Tim sagte: »Vernon Reid«.

Dann habe ich mir erst Cult of Personality gekauft und daraufhin den Multi Effects Processor von Pioneer für – ich glaube: unfassbare 1000 D-Mark. Den dann mit einem giftgrünen Kabel an den Fender Princeton Chorus angeschlossen und den ganzen Sommer über und auch noch den gesamten Herbst hindurch geübt. Und an den Weihnachtswochenenden dieses Jahres habe ich dann mit Jesko Fezer vor der Fiorucci-Boutique hinter der Königsstraße insgesamt mehr als 2000 Mark verdient. Vor allem mit Scarborough Fair und mit The Boxer, weil das halt auch so herrlich zu den schwäbischen Herzen ging, wenn zwei Pickelgesichter mit Robert-Smith-Frisuren zweistimmig sangen (Silke Scheuermann).

Es sind hier oben zumindest sämtliche Häuser aus Strandkieseln gemauert (Gérard sagt, die wurden auf Eseln den Berg hinauf transportiert). An manchen der Fassaden sieht man es noch von außen, beim Grimaldi zum Beispiel, aber die meisten wurden irgendwann glatt verputzt. Im Wind über den Zinnen der Festung schlägt die Fahne mit dem Logo von Cagnes/M, das in einem Lorbeerkranz einen stolz einherschreitenden Windhund zeigt. Und selbst wenn das mit dem Dichterfürst in D wohl zu Lebzeiten nichts mehr werden wird, so liegt hier zumindest in jeder der zwei Bars, in der Immobilienagentur und im Postkartenladen namens Boîte à Prise jeweils ein Exemplar von Untitled aus. Worin zwar, in Ermangelung der hierfür notwendigen Sprachkenntnisse, noch keiner der Betreibenden gelesen haben wird, aber auf Nachfrage wird wohl das letzte Kapitel aufgeschlagen und dort steht ja für alle Welt lesbar: Cagnes-sur-Mer. Zwischen Nadine Gordimer und mir steht es 1:1.

Als dann aber die übrigen Männer von der Arbeit kommen, wird im Grimaldi rasch umgeschaltet auf Sports 365, da geht es zu wie früher noch bei Chatroulette: Dieser Sender zeigt scheinbar wahllos eine wirre Abfolge von Szenen aus Fußballspielen, die parallel und im Augenblick irgendwo auf der Welt stattfinden. Das ergibt einen zusammenhängenden und so sinnvollen wie zugleich sinnlosen, in jedem Fall aber ultrabrutalen, Film. Männer mit Türsteherfrisuren rasen mit unterschiedlich farbigen T-Shirts bekleidet aufeinander zu wie einst das Wildschwein beim Tapferen Schneiderlein: Stampf, stampf; schnauf, schnauf – immer kracht einer hin und dann ist wieder ein Knie kaputt, oder gleich der ganze Kopf. Die Rippen gebrochen, Arm ab (besser immerhin als Arm dran, wie wir Seyfried-Leser wissen!!!). Schweiß, Geschrei, Schlamm und Geschubse – ich find’s halt einfach bloß schwul und bescheuert, tut mir herzlich nicht leid, aber so lange es Fußballübertragungen, so lange es Stadien gefüllt bis an die Ränder mit den Freunden dieser Primitivunterhaltung geben wird, so lange kann sich doch auch nichts verändern – zwischenmenschlich betrachtet. Schade, dass ich da nicht einfach mal mitfiebern kann, aber es geht leider nicht. Ich fiebere ja auch nicht mit bei Porno. Ich finde es leider nullkommanull geil, wenn der sogenannte Rocco Siffredi einer Darstellerin beide Nasenflügel zukneift, während er ihr die übrigen Atemwege mit seinem Monsterpenis verstopft. Ich stehe nicht auf POV, ich finde Ass to Mouth unapetitlich und dazu ist es hardcore gesundheitsschädlich – Stichwort: Schmierinfektion.

In seiner Philosophy schreibt Andy Warhol: »I always run into strong women who are looking for weak men to dominate them«.

Andy war ja nicht hohl, wie Horst Jannssen behauptete, bevor er im Suff in die Glasplatten crashte. Andy Warhol war einer der Allerklügsten; Andy Warhol war ein Megadenker, ein Genie.

Und das mit den starken Frauen, das stimmt wohl. Das bleibt ein Dilemma.

Ich habe ein bisschen Heimweh nach Candida Höfer, merke ich gerade. Nach diesem Blick. Na ja, selbst ich kann halt nicht alles haben.

N’importe quoi.