8.11.

Saufrüh erwacht (kurz nach 5 Uhr), weil es schon hell wurde, aber das waren die Straßenlaternen; das Laub fehlt, ihr Licht dringt ungehindert zu mir durch. Auf dem Fensterbrett liegen zwei Postkarten aus Sardinien. Sie zeigen den Sommer und wurden im Sommer an mich abgeschickt. In den Nachrichten hieß es, dass es heute schneien soll. Noch regnet es, das sind schon einmal gute Vorraussetzungen, denn zu kalt darf es dafür nicht sein. Aber die Luft riecht nicht danach (und ich kann mir nicht vorstellen, dass es im sogenannten Lauf des Tages noch kälter werden kann).

Ich habe das nur ganz wenige Male erlebt, dass ich erwachte und mich fragen musste, wo ich bin. Ich kann mich nicht einmal mehr präzise erinnern, wann überhaupt – vermutlich als Kind? Nein: im Krankenhaus. Am frühen Morgen des 3. Oktober 2011. Bei Damasio las ich, dass man diese unbewusste Gedächtnisleistung, also vom Prinzip her schon vor dem Aufwachen zu wissen, wo man sich befindet, als Situiertheit bezeichnet. Funktioniert sogar im Flugzeug, im ungewöhnlichsten aller Schlafzimmer, das sich von selbst auch noch durch Raum und Zeit fortbewegt, während man darin bewusstlos ist und schläft. Selbst dort erwacht man und weiß: Ah, jetzt kommt der Landeanflug auf diese Stadt in jenem Land, wo ich noch nie war. Und selbst noch davor, also inmitten des Fluges, wenn alle anderen Passagiere um einen herum im dunkelgrünen Dämmer schlafen, schaut man aus dem Fenster und weiß so ungefähr, welches Land da unten liegt (einmal, als ich nach Hongkong flog, erwachte ich und unter den Flügeln, es war schon Tag, war ein Gebirge aus den merkwürdigsten Felsen, die alle nach demselben Strickmuster sozusagen gebrochen zu sein schienen: wie Kegel aus braunem Gestein. Dazwischen auch alles braun und ich dachte: Das muss jetzt China sein.)

Jan hatte mal diese Idee zu einer Sammlung sämtlicher Filmszenen, in denen eine Person (oder Figur) zur anderen sagt: »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?« – also sich selbst unterbricht und dann entsteht diese vielsagende Pause, in der die sich selbst unterbrochen habende Figur etwas über ihre Persönlichkeit verrät. Ich war damals, glaube ich zumindest, der Meinung gewesen, dass es sich dabei halt nicht um einen Trick des Drehbuchschreibers handelt, sondern dass es diesen Moment tatsächlich gibt im Miteinanderreden. Aber seitdem achte ich darauf, seit mehreren Jahren schon, und es ist in meiner Gegenwart noch kein einziges Mal dazu gekommen. Genau so mit der Einstellung, in der jemand aufwacht und noch schlaftrunken, halb vergiftet, punch drunk oder panisch sagt: Wo bin ich! Das würde mich sehr interessieren, wie oft das wirklich passiert in einem Leben; vor allem zu welchen Gelegenheiten. Ich glaube: so gut wie nie (außer nach einem Unfall mit Amnesie oder vergleichbarem Substanzenmissbrauch). Es ist eine künstliche Erinnerung, die ins kollektive Gedächtnis eingepflanzt worden ist. Und trotzdem hält man sie für total wahrscheinlich und sogar wahrhaftig. Dabei haben die wenigsten mit dem Ereignis selbst ihre Erfahrung gemacht.

Wenn jetzt demnächst die Videosuchmaschine von Google freigeschaltet wird, die es ja schon gibt, wird man solche Dialogzeilen, die auf künstlichen Erinnerungen basieren, eingeben können und Youtube oder ein anderes Programm wird hunderte und tausende von Szenen ausweisen, in denen jemand fragt »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich« oder »Wo bin ich«. Aber halt auch »Wollen Sie noch auf einen Kaffee mit hinaufkommen« und rein Gestisches (Tränen fallen auf einen Brief und verwischen die Schrift, ein Mobiltelefon läutet und leuchtet, aber keiner nimmt das Gespräch an, eine Kühlschranktür öffnet sich und man sieht durch die gläserne Rückwand, wie eine Figur etwas herausnimmt, ein Blick fällt an der Fassade eines Hochhauses entlang auf die Straße herab).