8.2.

»Je me rappelai que, le jour où Albertine s’était laissé embrasser par moi pour la première fois, j’avais eu un sourire de gratitude pour le séducteur inconnu qui avait amené en elle une modification si profonde et m’avait tellement simplifié la tâche.«

Beim Wiederlesen dieser Stelle im Buch der Stellen namens Sodom et Gomorrhe fand ich diesen Gedanken hochinteressant. Dass er annehmen will, es hätte einen unbekannten Verführer gegeben, der Albertine dazu gebracht haben könnte, sich von ihm küssen zu lassen, endelijk. Er spricht diesbezüglich von einem Vorgang, der von diesem Unbekannten in Albertinens Seele in Gang gesetzt worden war, so wie ein blockiertes Uhrwerk wieder zu laufen beginnt nach einer Ölung, oder was auch immer dazu nötig gewesen war. Wobei er doch im Grunde gewusst haben müsste, denn er war ja häufig genug mit dabei gewesen und hatte das ihn demütigende Werben Albertinens bezeugt, dass diese Figur eines unbekannten Verführers in Wirklichkeit der schnöde Robert selbst war, um den wiederum sich die von ihm umworbene Albertine vergebens bemüht hatte, weswegen es für ihn selbst halt viele Seiten lang nur Körbe gab und gekonntes Zappelnlassen. Das aber kann er so nicht sehen wollen, dafür liebt er Albertine zu sehr, beziehungsweise: sich selbst ja auch, denn was würde diese Einsicht für sein Selbstbild bedeuten, wenn er denn die Verhaltensänderung Albertinens auf ihren profanen Anlass hin analysierte – also dass Albertine ihn dann erst ranlassen wollte, als sie sich auf Robert keine Hoffnungen mehr zu machen brauchte?

Mit Selbstbetrug hat das nichts zu tun. Gerade weil er Albertine frei halten will von Profanität, kann die Figur des geheimen Verführers aus der Lücke ausgeblendeter Fakten heraus entstehen als eine Fantasie. Ein unbekanntes Wesen maskulinen Geschlechts, das als Fürsprecher seiner unerschöpflichen Liebe zu Albertine die Szene betritt. Er spricht ja dann auch von einer Aufgabe (tâche), die ihm kraft des Wirkens dieses Fürsprechers wahrlich erleichtert wurde. Da er sein Denken an Albertine dergestalt rein hält, ist es ihm selbst weiterhin möglich, sich als einen Helden, ja überhaupt zunächst als Handelnden in ihrer beider Geschichte zu erleben.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist eines der wenigen Bücher, die ich gelesen habe und von denen ich behaupten will, dass dies für mich Texte geblieben sind, die neuroplastizitäre Qualitäten besitzen. Bedeutet: So, wie ich mich verändere, verändert auch der Text seinen Gehalt (ich kann etwas Neues lesen darin). Das ist, in Anbetracht von schwarz auf weiß fixierten Sätzen, die doch stets die gleichen waren in einer unveränderten Abfolge; die fallweise schon seit über hundert Jahren unverrückbar an ihren dafür vorgesehenen Plätzen auf die Leser warten, ein Effekt, der wie ein Wunder wirken kann. Ein Buch, das mich kennt.

Vielleicht sitzen dann gerade zwei Fremde in Zügen, die auf einander gegenüberliegenden Gleisen in die jeweils entgegengesetzte Richtung unterwegs waren. Es gibt einen unerwarteten Aufenthalt, die Züge sind nebeneinander zum Halten gekommen, und ein jeder der beiden schaut nachdenklich aus seinem Buch, das ihn kennt, auf, und aus dem Fenster hinüber in das Abteilfenster des dort wartenden Zuges. Ein jeder der beiden entdeckt dort in einem jener in entgegengesetzter Richtung positionierten Züge diese eine andere Person, die, wie sie selbst auch, ebenfalls ein Exemplar jenes Buches in Händen hält. Da es das Buch ist, von dem sich die Person hüben, exakt wie jene dort drüben, soeben noch erkannt gefühlt hatte, ist es ihnen nun möglich, sich gegenseitig zu erkennen – durch ihre Bücher hindurch. Ein langer Blick. Dann ist die Störung im Betriebsablauf beseitigt und noch während ihres Einanderanblickens fahren die Züge los.

Friedrich Nietzsche hat über diesen Effekt in der Musik geschrieben. Sinngemäß schreibt er, dass die hundertmal gehörte Musik mit einem Mal zu jemandem zu sprechen beginnt. Seitdem sich dieser verliebt fühlt. Und dass dieser Jemand dann nicht anders könnte, als zu glauben, dass die Musik ihn erkannt habe, ja, dass die Musik nun selbst so empfinden könne wie er selbst. Dabei hat Friedrich Nietzsche vermutlich an sich selbst und an Lou Salomé gedacht.

»1. 68% sind wirklich passiert.

2. 32% sind es nicht.

3. Ich werde es nie verraten.« So fängt So bin ich nicht von Anneliese Mackintosh an. In mein Rezensionsexemplar ist eine Sperrfrist bis zum 18. April ´16 eingestempelt. Ich werde es von daher also auch nicht verraten, aber in einer nicht quantifizierbaren Schnittmenge zwischen den Fakten und den 32 Prozent entsteht die Fantasie eines geheimen Verführers, der mich dieses Buch zuende zu lesen macht. Gewiss, die Übersetzung klingt mir manchmal zu sehr nach Internetfernsehserie, beispielsweise weiß ich gar nicht, ob irgendwer im Deutschen vom hart küssen oder hart geküsst werden spricht. To kiss hard würde ich übersetzen mit heftig knutschen, oder mit einem auf Zunge, aber jetzt habe ich ja vor ein paar Wochen gefordert, die sprachlichen Mutationen zu umarmen, also bleibe ich dabei, denn Konsequenz ist bekanntlich meine Stärke.

Und dann passt dieser Neologismus ja auch bestens zu der vor ein paar Tagen erst beschriebenen Proletarisierung in der deutschen Gesellschaft, wo sich die nicht etwa schwer, sondern hart arbeitenden Frauen und Männer in ihren Freundeskreisen darüber unterhalten mögen, wen sie zuletzt hart geküsst haben.

Bei So bin ich nicht handelt es sich ebenfalls um eine Suche nach verloren gegangener Zeit, allerdings kommt Anneliese Mackintosh um sehr vieles schneller zur Sache, die Kapitel sind kurz und extrem auf Pointe geschrieben. Es geht dabei ständig um beinahe all meine Forschungsgebiete: Liebe, Tod, Selbstbestrafungsexzesse, Missverständnisse, sexuelles Elend. Selbst Hasen kommen vor, allerdings wird dieser Komplex eher gestreift. Macht aber nichts, denn auf der Seite 140 in meiner Ausgabe folgt nach der unauffälligen Überschrift Wärst Du ein Kaffeetrinker etwas wahnsinnig Schönes. Ich darf es ja nicht verraten bis zum 18. April, aber ich wette mal, dieses Kapitel allein wird das Buch zu einem von Hand zu Hand weitergereichten Megabuch des frühen 21. Jahrhunderts werden lassen. Bücher, in denen sich ein Satz finden lässt wie »Grausamkeit und Schwäche sind oft ein und dasselbe«, werden auch in einhundert Jahren noch dringend benötigt werden. Damit liefert Anneliese Mackintosh für den deutschen Markt die willkommene Frühjahrsergänzung zu Ronja von Rönne, deren Roman ja ebenfalls in wenigen Wochen erscheinen wird. Und das auch noch aus demselben Verlag (Aufbau). Es muss aber noch viel mehr solcher Bücher geben. Allein um, durch Abteilfenster benachbarter Züge hindurch, noch sehr viel mehr gleichgesinnte Reisende ineinander verliebt zu machen.