8.7.

Gestern Abend traf ich mich mit Jan vor einem Supermarkt. Er hatte mir vor einiger Zeit schon einen Spaziergang versprochen als Geschenk, jetzt war die Gelegenheit. Damals war ich noch in Cagnes und es schien mir fast unglaublich, dass angeblich erst knapp zwei Wochen vergangen sein sollten, seitdem ich dort gewesen war. Damals schrieb er mir, er könnte mir eine Welt in Charlottenburg zeigen, in der alles anders ist.

Es war Starkregen angesagt worden. Am Himmel hing schon eine dunkelgraue Fläche und vor dem Imbissstübchen auf dem Parkplatz klappten die Betreiber ihren Sonnenschirm ein und umwickelten das Gestell zur Sicherheit mit Dönerfolie. Ein schmaler Weg führte hinter den Supermarkt auf eine Packstation zu und dann entlang des Bahndamms bis auf eine Anhöhe, von der aus wir die Fassaden der Häuser sehen konnten auf der einen Seite, auf der anderen die Haltestelle der S-Bahn und dazwischen, wie aufgespannt von Wohnen links und Fahren rechts, war alles grün und buschig – ein waldiges Tal. Eine Kleingartenkolonie. Aber was für eine. Wie vergessen. Mit krummen Wegen, die auch einmal vor ein Gebüsch führten, vor dem eine Bank stand und es also nicht weiter ging. Mit überwachsenen Schienen einer Kleinbahn, die immer wieder auch freigelegt waren. Mit Obstbäumen. Und nur in einem einizigen Garten waren überhaupt Menschen zu sehen. Sie saßen vor ihrem niedrigen Haus dort, vielleicht aßen sie etwas, das Gebüsch war verwildert. Es war sehr still. Bis auf die Vögel. Vom S-Bahn-Verkehr war hier nichts zu hören. Bald hatten wir einen Teil des Gartens erreicht, der grenzte an die Autobahn. Und dahinter ragte der absurd silberfarbene Block des Messehallengebäudes auf.

Das Vereinsheim, es lag auf einer weiteren Anhöhe, erreichten wir gerade noch rechtzeitig – auch hier nur drei Leute, zwei Hunde und die Wirtin, die im Inneren vor einem riesigen Bildschirm, der Angela Merkels Rede vor den G20 in Hamburg zeigte, Gläser sortierte. Kaum hatten wir unter der Markise Platz genommen, fing es zu regnen an. Man ist ja mittlerweile verwöhnt, was den Regen angeht. Starkregen war das jedenfalls nicht, denn durch den grauen Schleier waren noch immer die Fassaden der Stadt dort unten zu entziffern. Und ich fragte mich, weshalb ich von diesem Garten in all den Jahren nie erfahren hatte. Ich fuhr ja nun wirklich beinahe täglich mit der S-Bahn ganz nah dort vorbei.

Von unten her glich die Markise sozusagen zunhemend einem blau und weiß gestreiften Beutel der mit Hochdruck von Wasser gefüllt wurde. Es knarzte dort schon. Im Inneren drohte der laute Fernseher. Aber ansonsten? Es gibt ja kaum noch gemütlicheres, als bei Starkregen im Juli mit einem Freund unter einer Markise zu sitzen mit Ausblick über üppig grünendes Land mitten in der Stadt. In die man jederzeit zurück könnte. Und dies an einem Ort, für den das schöne Wort verwunschen erfunden wurde. Die Frau neben uns, vielleicht war sie einst Schauspielerin, erzählte uns von ihrem Gefühl, als sie zum ersten Mal die eiserne Pforte, die es damals wohl noch gab, aufgedrückt hatte, und dahinter die Gartenkolonie entdeckte: »Ich dachte, ich bin Alice im Wunderland«.

Nach dem Regen gingen wir heim auf gewundenen Wegen. Bald stieg nebliger Dampf auf zwischen den Hütten. Bäume und Boden schwitzten aus. Und immer wieder, da ist das Einmalige an dieser Anlage, im Hintergrund städtisches, oder auch mal geradezu ein Talblick und dort unten lag die Bahnstation. Mal war es Caracas, das wir dort sahen, mal war es wie dort, wo ich aufgewachsen war. Mittendrin auch eine Brücke aus verrostetem Eisen quer über ein vom Efeu erobertes Tal.

Und kaum steht man wieder auf der Straße, mit den Häusern im Rücken, und vor sich hat man nun eine nichtssagende Garagenwand, in der sich die kleine Pforte befindet, kann man es wirklich nicht glauben, dass auf derart wenig Land sich eine reichhaltige Welt verbirgt. Aber es war so: Hier drüben sieht man das Messegebäude, dort verläuft die Autobahn, das ist die Lautsprecherstimme vom Bahnsteig her.