9.1.

Den Tag über am Fenster gesessen, das Licht von draußen so halb im Rücken. So müssen die sich im Mittelalter gefühlt haben, wenn es dann endlich mal geschneit hatte im Winter: Ah, mehr Licht, Kerzen sparen. Alles drin sieht anders aus, anders auch als im Sommer, im umseitig reflektierten Schneelicht. Erinnerungen an Skiferien, auch wenn die ewig her sind (und da auch ganz und gar nicht immer die Sonne geschienen haben wird).

Am Nachmittag dann den Stapel alter Zeitungen, circa sechs Wochen in täglichen Ausgaben werden es gewesen sein, auf einen Stuhl neben den Tisch gelegt und wirklich versucht, nachzuvollziehen, was in jeder einzelnen Ausgabe ausschneidenswert beziehungsweise aufbewahrenswert oder verwertbar mir erschienen war. Es bliebt verblüffend wenig übrig. Ganz ganz selten finde ich eine tatsächliche Anstreichung auf den Seiten. Manchmal bin ich beim Lesen zu faul, oft glaube ich, das war jetzt so sensationell gut (oder bizarr), dass mir das auch noch Wochen später ins Auge stechen wird (wie ich ja, leider, auch so gut wie nie Knicke mache in Bücherseiten, weil ich wider besseren Wissens zu wissen glaube, ich besäße ein sogenanntes fotografisches Gedächtnis, mache dann, cargo-culthaft snap mit dem Blick auf der Seitenzahl der mir wichtig erscheinenden Stelle und glaube dann wirklich, ich hätte die mitsamt des angeblichen Mentalschnappschusses wie zusammengeheftet in mein Gedächtnis ablegen lassen; obwohl ich genau weiß, dass nicht nur meines, dass kein Gehirn so organisiert ist! Woraufhin es dann in dem Moment, da ich das Zitat gerne zur Verfügung hätte – denn dass ich es irgendwo habe, dass ich es kenne, das behalte ich schon – eine unsägliche Sucherei losgeht; zuerst in meinem Gehirn, dann, wenn ich es endlich selbst vor mir selbst zugeben kann, dass ich es nicht finde, in dem fraglichen Buch. Dort dann, wieder liege ich dabei im Wettstreit mit mir selbst, kann es gut sein – das heißt, es war schon oft so – dass ich lieber dreimal das Kapitel V durchblättere (die mental abfotografierte Seitenzahl ist freilich verschlampt, beziehungsweise die Aufnahme ist damals nichts geworden und wurde, was ich mir verheimlichen konnte, stillschweigend weggeschmissen), als auf die Vernunft zu hören, die übrigens tatsächlich mit einer Stimme spricht: »Da steht es nicht. Das war woanders in dem Buch. Wo ganz anders. Noch nicht einmal in der Nähe. Vielleicht ganz hinten. Oder ganz vorn.« Diese Stimme, ganz klar stimmenhaft, spricht allerdings in einer nicht menschlichen Sprache. Es ist nicht so, dass ich tatsächlich deutsche Worte vernehme, die mich innehalten lassen und deren Diktat ich aufnehmen soll (wie Martin Walser). Dennoch äußert sich die Vernunft deutlich genug, dass ich sie ignorieren will. Wenn ich aber dann die gesuchte Stelle ganz wonders finde, schäme ich mich, beziehungsweise bin ich wütend. Vor mir selbst, beziehungsweise auf mich selbst in jedem Fall.

Gestern etwas fassungslos, wie wenig tatsächlich geblieben war von meiner Faszination in den letzten Wochen. Auf einigen der Titelseiten waren die Bilder, die sich Daniel an jedem Morgen hatte von mir erklären lassen, weil er die Unterzeilen nicht hatte lesen können. Der war nun längst zurück in seinem kleinen Haus in Los Angeles. Ich schnitt weder die verschleierte Ruth Leuwerick aus, noch die Indiander vor dem blauen Himmel. Daniel hatte ja besonders gut der chinesische Drache gefallen. Ich mag Drachen nicht. Überlebt hatte die Faszination für das Straßenbild in Mauve und Flieder aus, ich glaube, Valparaiso. Ich schneide die Erklärzeilen grundsätzlich weg (früher habe ich noch mit Bleistift den Zeitungsnamen und das Datum, phasenweise sogar das Ressort am Bildrand vermerkt), so ist es jetzt auch bloß noch eine märchenhafte Lichtstimmung, alles wirkt friedlich und wie fertig eingeleuchtet für einen langersehnten Filmkuss, dabei wurde die Aufnahme angeblich während (oder kurz nach) einer Naturkatastrophe gemacht. Die Seite über die Luisenbündlerinnen, überhaupt alle Seiten, über denen »Die Geisteswissenschaften« steht: Wie lange es die wohl noch geben wird?

Was soll I Cover The Waterfront überhaupt bedeuten? Ich stoße jetzt schon, wie mein fotografisches Gedächtnis beweisen kann, mein ganzes Leben lang immer mal wieder auf diesen stehenden Ausdruck. Erst gestern, als der Sohn eines Jazzmusikers auf Twitter Meldung machte, sein Vater sei im Kreis der Familie entschlafen »listening to Billie Holliday«. Danke fürs Mitteilen. Mir fiel da natürlich I Cover The Waterfront ein – Breit wie’n Hafen? Und wie ließe sich das ins Deutsche übertragen für eine Kolumne, geschrieben in, sagen wir: Berlin? Lang wie die Mauer? In den Armen der Mauer? Allumfassend wie die Mauer? Seltsam, dass mir zu Berlin noch immer nichts anderes einfällt als die Mauer. Wo es die Mauer doch schon längst nicht mehr gab, als ich damals hierher gezogen bin. Nina Simone hat I Cover The Waterfront nie aufgenommen. Verblüffenderweise! Wie ich dann feststellen musste, obwohl ich mir freilich todsicher war, dass. Es gibt schon einen guten Grund, weshalb ich beim russisch Roulette nie mitgemacht habe und Spielbanken generell meide. Das Stück von Nina Simone ist eine Coverversion von Alone Again, Naturally. Darin singt sie über den Tod ihres Vaters. Möglicherweise also deswegen. Falsche Stichwortsuche. Unklar abgelegt.

Und schwupps war’s wieder dunkel. In der Lindenstraße will ein als Frau gekleideter Mann im Flur mit seiner Freundin schlafen. Sie ist schon halb ausgezogen, er küsst gerade, vor ihr kniend ihr Nabeltattoo, wehrt sich aber dagegen, dass sie ihm die blonde Perücke abzieht. Daraufhin kommt es zum Streit, der Zuschauer erfährt, dass er sich schon seit längerem als Frau kleidet, von ihr zwar nicht, aber von den Nachbarn und von seinen Kollegen im Start-up als Frau angesprochen werden will. Und auch so behandelt, wie auch immer das sein mag. Seine Frau jedenfalls, sie sieht ganz konventionell aus, insbesondere aufgrund ihres Nabeltattoos, erklärt ihm, dass sie nur mit ihm schlafen kann, wenn er im Flur (oder im Bett) die blonde Langhaarperücke absetzt. Das ist jetzt also in demselben Sender (Das Erste, früher ARD) die genaue Umkehrung der Kir-Royal-Folge Adieu Claire, in der Mona, gespielt von Senta Berger, dem sogenannten marines look verfällt, und sich die tizianfarbenen Haare raspelkurz schneiden lässt. Woraufhin ihr Mann, der Baby heißt, gespielt von Franz Xaver Kroetz, seine Frau, die Mona, am Abend bitten muss, sich eine blonde Langhaarperücke aufzusetzen, damit er mit ihr schlafen kann.

Tjaja. Wie lange mag das jetzt her sein, wieviel Zeit ist vergangen – ich war da ja noch beinahe ein Kind.