9.3.

Passkontrolle für alle bei der Einreise nach Frankreich. Es hatte sich bereits eine Warteschlange gebildet, die durch ein Zickzacksystem aus Bändern gefädelt wird. Die Zollbeamten waren sehr freundlich. Mein Passbild wurde gründlich studiert und mit dem angeblichen Naturvorbild verglichen. Abschließend wies man mich darauf hin, dass es am nächsten Tag einen Generalstreik geben würde bei Métro, Bussen und Zügen. Hinter der Grenze dann, wie schon in Belgien, wie neulich an der Côte d’Azur: überall Soldaten.

Und ich fragte mich schon, weshalb man in Deutschland, also in Berlin zumindest, nie welche sieht. Brauchte es dafür erst einen Präzedenzfall, also muss zuerst etwas Schlimmes geschehen, bevor man sozusagen die Bewaffneten rausholt? Die vor Berliner Synagogen wirklich Wache schiebenden Polizeibeamten waren ja eher mitleiderregend. Die könnten gut jemanden gebrauchen, der wiederum auf sie aufpasste. Ich weiß allerdings nicht, ob das in anderen Städten Deutschlands anders ist, also ob da immer die Kettenraucher und die Dicken vor die Synagogen abkommandiert werden wie in Berlin. Beim Schwelgen in Berliner Szenerien fiel mir der bevorstehende Umzug ein und die ganzen Habseligkeiten im Keller und dass ich dann endlich mal wieder einen Nachmittag dem Studium des Prachtbandes Disrupted Pattern Material widmen würde. Und dem Betrachten des Geheimen Wissens der Frauen.

Es regnete ausnahmsweise nicht.

Kurzer Mittagsschlaf und dann gleich ins Café Colibri, um etwas zu dichten. Das Café Colibri ist das schönste Café weltweit, weil es die allerniedlichsten Stühle der Welt hat. Und das, obwohl das Café Colibri tatsächlich nicht nur klein ist, sondern, wie sein Name ankündigt, zierlich. Aber die Stühle sind noch viel zierlicher und trotzdem sitzt man auf ihnen supergut. Daneben lockt der Flagshipstore von Maille mit diesem superschönen Schriftzug. Vis-à-vis steht mein Hotel, wobei: Dazwischen versperrt der Megaklotz der Madeleine eben diesen Blickwechsel zwischen Colibri und dem Hotel und um den Megaklotz fahren die Autos im Kreis – ich finde das herrlich! Wann auch immer das angefangen haben mag unter deutschen Intellektuellen mit dem Fußball gut finden und Paris bescheuert und dämlich - ich mache dabei jedenfalls nicht mit. Ich habe Paris immer geliebt und wunderschön gefunden, und ich tue das immer noch.

Ein Kellner, übrigens weder zierlich noch auffallend dick oder riesig, sondern einfach so, wie er gewachsen war, servierte zu den Erdnüssen ein Glas des Hausweins, der im Colibri ein Château Palmer Jahrgang 2011 ist. Das mit dem Wein war auch schon mal anders, beispielsweise in den Jahren vor 2011 und auch in denen im zwanzigsten Jahrhundert, so lange komme ich schon hierher; beziehungsweise so lange schon fröhne ich vor dem Café Colibri sitzend dem Hauswein.

Dann ging die Sonne unter. Um die Ecke würde, wenn ich um diese Ecke herumgehen wollte, ein Riesenrad aufgebaut stehen auf der Place de la Concorde. Und dieses Riesenrad leuchtete in seiner Gänze als eine einzige Riesentrikolore. Und dahinter begännen die Champs-Élysées bis hinauf zum Triumphbogen. Dahin würde ich nachher noch einen Spaziergang machen. Auf den Champs-Élysées pfeife ich gerne die Melodie des gleichnamigen Liedes, es heißt Champs-Élysées. Das ist so ähnlich wie mit Rosé, der nur in Südfrankreich wirkt: Die Melodie des Liedes über die Champs-Élysées entfaltet erst auf den Champs-Élysées gepfiffen den intendierten Effekt.
Und weil Glück, so sagt Jörg Splett, auch einen Adressaten braucht, öffnete ich mein Notizbuch und schrieb eine Ode an die Muse hinein:

Oh, Prinzessin ohnegleichen
mit den Augen klar und hell,
mit dem zarten, seidenweichen
wunderschönen Hasenfell.

Niemand ist dir zu vergleichen
Mit den Augen klar und hell,
mit dem wunderschönen, weichen,
zarten, braunen Hasenfell.
ad infinitum