9.4.

»Morgen früh, um 9 Uhr 30, findet eine Venusbedeckung statt«, sagte ich zu Jan. »Ist total selten, angeblich, ich habe mir heute schon mal ein Fernrohr gekauft.«

»Aha«, sagte Jan. Und schaute in die Speisekarte des Fischrestaurants Ergüns Fischbude, in dem wir schon lange nicht mehr gewesen waren. Viel zu lange, wie wir beide feststellen mussten, als wir den schönen Raum in den Kasematten gegenüber der Wohnschlange betreten hatten. Es hatte sich dort nichts verändert. Noch immer waren sämtliche Wände, teilweise sogar die Deckenfläche des Lokals, mit gelben Pappstücken gepflastert, auf denen die Gäste in schwarzer Handschrift ihr Lob auf Ergün und seine Fischgerichte hinterlassen hatten. Es war außer dem Durchgang zur Küche und zu dem des Toilettenlabyrinths nur noch ein Fleck frei, da hing der große Fernseher mit den Fußballspielen. Mal schauen.

Die Speisekarte zeigte mit Blitzlichtaufnahmen die verschiedenen Meeresbewohner, die zur Auswahl stehen, auch daran hatte sich nichts geändert, noch nicht einmal die Preise. Sogar der obskure Blaufisch wurde angeboten und wir gedachten der herrlichen Szene aus Inherent Vice von Paul Thomas Anderson mit dem unübersetzbaren Wortwitz, wenn Doc Sportello den Aal »nach Art des Troubadours«, den »Eel Trovatore« bestellte.

»Erzähl mir doch mal, wie Friederike aussah, in deinem Traum«, sagte Jan.

»So, wie sie halt aussieht«, sagte ich. Das war in diesem Traum so, ich glaube, es ist in fast allen meinen Träumen so, dass ich spüre, das ist jetzt die oder der, aber ich habe da keine Bilder vor mir, ich spüre die Anwesenheit. Und die ist gewiss.

»Schlimm, diese Kombination aus Traum und Frau«, fiel mir ein, aber das behielt ich für mich. Und dachte noch kurz an die Zahl Zehn und an Blake Edwards und halt leider auch an Bo Derek und diese traumatische Szene mit ihren vielen Rastazöpfen, und dass dabei ausgerechnet und geradezu natürlich der Bolero von Maurice Ravel gespielt wurde.

Dann kam das Essen und wir sprachen abwechselnd darüber, wie gut es schmeckte und über Hegel, der noch recht hatte, und über Marx, der dann irgendwie schon nicht mehr so, und darüber, dass ich es jetzt ja leibhaftig erleben dürfte, dass einem etwas zweimal widerfahren kann, aber eben beim zweiten Mal als Idyll. Und dass dieses Erlebnis gewaltig war; ich hoffentlich eines Tages darüber würde schreiben können, aber halt nicht allein. Denn das Ding am Vertrauen war, dass man als Schreiber beinahe unerbittlich darauf gepolt wurde, alles von einer Seite heraus zu betrachten. Man musste auf sich selbst vertrauen, und dass das alles so stimmte, wie man es sah, um es ausdrücken zu können. Zumindest so, dass ein stimmiger Text dabei herauskam. Dazu brauchte ich Liebe für die Welt, für die Dinge, die Tiere und Blumen, für die Literatur, weil sonst würde das unschön. Wenn diese Welt aber in einem anderen Menschen bestand, der mir dieses Vertrauen zurückgeben konnte und gibt und mich mit diesem liebenden Blick anblickte und blicken würde, fänden sich zwei dieser Autorenperspektiven überkreuzt. Sie kommen aus zweierlei Welten und fänden in einer dritten zu sich.

»Wenn du das abbilden willst, also diese dritte Welt, die ja auch ein Wachstum bedeutet und zugleich auch noch Wandlung und Heilung, alles zugleich – und das will ich auf jeden Fall –, dann kann ich das nicht alleine und von mir aus, auch wenn ich mir durchaus im Klaren bin, dass das der Job wäre.«

»Finde ich nicht«, sagte Jan. Mach alles so, wie du es willst.

Dann lange nichts.

»Wieso eigentlich ausgerechnet Raki zum Fisch?«

Jan setzte die Lesebrille auf und sah in die Speisekarte: »Hier steht’s doch: ›Durch das Hineinschütten des Wassers entstehen im Anisschnaps die typischen Wolken.‹«

Er faltete die Lesebrille zusammen und verstaute sie in der Tuchtasche seines Jackets: »Wasser und Wolken, damit ist der Himmel des Meeresbewohners hergestellt. Mehr bekommt er davon nicht zu sehen.«

Als Jan vom Händewaschen zurückkam, hielt ich ihm eine gelbe Postkarte hin, darauf stand in meiner Handschrift:

DIES IST DEIN SELFIE:

DEIN GESICHT BESTEHT AUS LAUTER BUCHSTABEN