9.6.

Vor dem Easy Rider ließ ich mich beim Mittagessen in eine Gespräch über die Lebensmittelpreise verwickeln. Es ging dabei um den ominösen Texas-Burger, der dort auf der Karte steht. Es wird andauernd von ihm geschwärmt, aber ich war noch nie dabei, wie einer der Stammgäste ihn auch tatsächlich bestellt hat. Angeblich ist er extrem wohlschmeckend und dazu noch derart sättigend, dass man drei Tage lang nichts mehr zu essen braucht. In dem Gespräch wurde mir aber auch klar, dass einige der Stammgäste lange Wege auf sich nehmen, um zu Imbissen und Pizzerien zu fahren, weil dort die Margharita für 4 Euro serviert wird. Dazu wurde mir auch jeweils der Durchmesser der Pizza in Zentimetern und das Gewicht des Rumpsteaks in Gramm mitgeteilt. Dann kam ein Mann in Domestosjeans mit einem USB-Stick und verlangte vom Wirt des Easy Rider, dass er die Musik über die Lautsprecheranlage abspielte. Es handelte sich um eine seltsam wehmütige Melodie, und Shazam meldete, dass es Juliane Werding war, die da sang. Der Stick-Besitzer lauschte indes gebannt und hielt sich dabei mit einer Hand am Tresen vor der Durchreiche fest. Auf seinem T Shirt stand: »I Hear Voices / They Say I Don’t Like You«.

Das wurde mir dann insgesamt zu intensiv als synästhetisches Erlebnis, das Setting des Easy Rider an sich genügt mir ja schon vollkommen. Also wanderte ich über den Pfad durch das Gebüsch und ließ mich auf der Terrasse der Motorradrockerkneipe nieder. Da finden sich ja zur Mittagszeit längst nicht nur Zweiradfreunde ein, sondern vor allem auch die Rentner aus dem gegenüberliegenden Zehlendorf. Weil das Essen billig, die Teller prall gefüllt sind, und weil man in der Sonne sitzen kann. Rentner finden ja irgendwie so selbstverständlich zueinander wie Mitglieder einer Jugendkultur. Es ist wie in einer Innung. Man teilt die selbe Erwerbssituation und man hat die selben Gedanken: die Gesundheit, die Enkel, der Tod. Dass sich die Terrasse gegenüber einer Tankstelle und neben einer Autobahnausfahrt befindet, stört da nicht. Die Kellner tragen T-Shirts auf denen steht: »Ich bin eine Maschine«.

Die kleine Gruppe neben mir bestand aus drei Männern und einer Frau. Die Männer in großkarierten Hemden, teuren Uhren, mit gepflegten Zähnen. Es ging um Alexander Gauland und Frauke Petry. Der Fall sei doch klar, das seien doch alles keine dummen Leute. Frau Petry sei Chemikerin, so wie Angela Merkel Physikerin sei. Auch der Gauland habe doch früher keine dummen Sachen gesagt. Björn Höcke sei Lehrer gewesen. Dann ging es um Bernd Lucke, den einige der sich Unterhaltenden noch persönlich kennengelernt hatten. Mit Hans-Olaf Henkel waren sie alle drei persönlich vertraut. Nein, der Fall sei doch völlig klar, hier würde gerade die Situation von den Regierungsparteien im Verbund mit der Presse verdreht. Dann ging es um den Fußballspieler Jérôme Boateng und um die knifflige Frage seiner Identität. Unter der Mediation des Meinungsführers einigte man sich schließlich darauf, dass es sich bei Boateng um einen Halbdeutschen handele.

Der Meinungsführer hatte so eine Art zu sprechen, die mich an Dieter Bohlen erinnerte, was nicht allein an seinem hanseatischen Dialekt lag, sondern an dieser Mimik, bei der die Vorderzähne stets gebleckt wurden, während eine Art von Lächeln mit Grübchen das umliegende Gesichtsfeld beherrschte. Er brachte das Argument vor, dass es sich im Falle Deutschlands um gar keine Demokratie mehr handele, denn es sei doch nun ganz klar, was das Volk wünsche – es geht um die Flüchtlinge, um den befürchteten Nachzug deren Familienangehöriger, vor allem geht es um den fehlenden Anpassungsdruck an die deutsche Sprache und die deutsche Kultur. Die einzige tatsächliche Demokratie, so stimmten die drei Männer am Nebentisch überein, bestünde noch in der Schweiz. Dort würde regelmäßig und bei geringsten Anlässen das Volk selbst befragt. Und danach würde gehandelt.

Die Frau sagte nichts. Ihren Arm mit schöner, flacher Uhr und mit Ringen an den Fingern hielt sie die meiste Zeit über der Tischplatte in einer Schwebe, um nur manchmal, dann aber lautlos, ihre geballte Faust neben ihrem Teller abzusetzen. Sie hatte wohl gelernt, dass sie den Mund zu halten habe, wenn über Politik geredet wird und taute erst auf, als einer von den anderen das Eis holen ging. Der Redeführer erzählte beim Löffeln einer Straciatella, dass er sich selbst momentan als Zwangsdeutscher empfinde. Weil die Rückflüge in die Vereinigten Staaten derzeit zu teuer seien. Er war ja vor Jahrzehnten bereits dorthin ausgewandert, kannte sich von daher gut aus mit einer Zuwanderergesellschaft. Und dann kam das Übliche mit dem Hymnensingen und dass dort jeder sofort Englisch lernen müsse und dass es niemanden dort gebe, der nicht von sich behaupten würde, dass er stolz sei, ein Amerikaner zu sein. Genau dort aber, da waren sich alle einig, läge für Deutschland das Problem: Kein Araber sage, dass er stolz sei, ein Deutscher zu sein, weil ja die Deutschen selbst nicht stolz darauf seien usw.

Abends dann Besuch von Henning. Wir tranken ein Bier und schauten aufs Wasser. Die Tiere hatten sich versammelt, wie um sich vorzuführen. Und das, obwohl ein ziemlicher Wind ging, landeinwärts, und der See zeigte sich weindunkel und mit starken Wellen. Die wenigen Boote zogen schnell und schräg dahin. Gespräch über Schreibprobleme und Beziehungsfragen. Henning sagte: Eigentlich ist das kein See, das ist die See.

Musste ich ganz dringend noch eine Schicht Fernsehen drüberlegen. Auf Arte lief eine tolle Dokumentation über Uwe Johnson in New York: »Für Uwe Johnson und sein Alter Ego Gesine Cresspahl wird die New York Times zu einem Fenster zur Welt.« Ich freute mich auf die Zeitung, auf den Tagesanbruch und auf den Kaffee.