Die Obstdiebin

Die »Special Edition« von Bahlsen Butterkekse mit dem Aroma »Scharfer Salsa« schmecken wie versprochen spicy, also köstlich. Unerwarteterweise. Sie sind auch, das bestätigt Friederike, der ich meine halbe Packung gestern spät am Abend überreichte wie einen Stafelstab, auch mürber, vom Mundgefühl her also knuspriger als die vom Aussehen her identisch wirkenden Originale. (Nur echt mit den 52 Zähnen. Der erste Keks, der nicht nur nach einem Philosophen benannt wurde, Gottfried Wilhelm Leibniz auch der erste Philosoph, nachdem man einen Keks benannt hat; zudem noch einen, der mit seinen 52 nur sogenannten Zähnen – für jede Woche einen? – auch zurückbeißen könnte. So er wollte. Aber Kekse wollen nicht. Und Wollen kann man nicht sollen. Können aber ebenfalls nicht – weder sollen noch wollen.)

Meine Hälfte, die erste, hatte ich während der Zugfahrt verspeist. Dazu las ich in Die Obstdiebin, bei der ich mittlerweile am Rand jener Zone angelangt bin (vorgedrungen klingt scheußlich indiskret), jenem, wie Hermann Lenz es genannt hat: Inneren Bezirk. Dort regiert das Land und die Landschaft. Der Nachtwind weht und am Sockel eines Hauses wächst der wilde Portulak. Draußen, also vor dem Fenster meines Platzes im Großraumabteil war es schon dunkel geworden, nachtkrabbenschwarz. Da schreckte mich ein Wort auf aus meiner behaglichen Lektüre, die so behaglich, weil auch innerlich reibungslos, vor sich hinfließend war von ihrer Gestalt her wie auch das mich Umgebende, der durch Nordhessen dahinpfeilende Inter City Express.

Das Wort war »Eminem«.

Ich legte den angebissenen Keks zurück zu den anderen. Im Ganzen lautete der Absatz, aus dem ich hochgeschreckt war wie aus dem Waldsee, wenn ich von der Libellenlarve angestarrt ward: »Wie offensichtlich war dieser Mond, samt der ihn umkränzenden Wolken. Wie drängte er sich auf. Und wie überdeutlich unter dem Mond – es war, als sei der bei ihrem wiederholten Aufschauen inzwischen voll geworden – die Geräusche auf der ›Diagonale‹. Vor allem die Musik aus den eigens im Schritt fahrenden Autos drang ihr durch die offenen Seitenfenster oder überhaupt aus den dachlosen Untersätzen in die Ohren und trommelte ihr auf den Kopf. Die Obstdiebin war einmal eine Musiknärrin gewesen, und fallweise immer noch. Am tiefsten war ihr der Rap gegangen. Ah, Eminem, mit wahrem Namen ›Marschall…‹. Es war erst ein paar Jahre her, daß sie, wie anders als allein, eins der Elendsviertel von Detroit […]«

Wie konnte das angehen, wie konnte das sein – wie konnte mich das so angehen? Warum gerade dieses Wort, Eminem? Im Inneren Bezirk der Obstdiebin wimmelt der Text zwar nicht gerade vor, er ist auch nicht gespickt mit, aber es kommen doch Ortsnamen und Flussnamen andauernd vor. Worin aber unterscheidet sich Eminem von Courdimanche? War es so, dass ich Peter Handke zutrauen wollte, über Ortschaften in der französischen Picardie zu schreiben, das schien mir ihm machbar, von Eminem aber lasse er besser die Finger? Zumal ich ja selbst nur ungefähr etwas im Ohrgedächtnis hatte von Eminem; mehr sein Gesicht vor mir auftauchen lassen konnte; Slim Shady fiel mir dazu ein. Und Eminems Tochter.

Aber besser halt so, dachte ich mir dann, daraufhin. Zum Lesen konnte ich mich jetzt nicht mehr zusammenreißen, also spionierte ich durch den Spalt, den die zwei Vordersitzlehnen zwischen sich ließen, auf den Monitor einer Frau dort, die, so stellte es sich für mich heraus, an einem Förderantrag für ein Projekt mit Musikern mit migrantischem Hintergrund schrieb. Beziehungsweise baute, denn sie erstellte diesen Antrag in einem Google Doc. Auf einer der sogenannten Folien, die sie mit der Cursorsteuerung durchwechselte wie einen Diavortrag im Schnelldurchlauf, lautete die von ihr verfasste Überschrift »Warum ist Musik so wichtig?«.

Eine interessante Fragestellung, auf die sie sich Antworten holte per copy and paste von einer Internetsite in einem anderen Tab namens Aphorismen.de.