Weihnachten

In der Dunkelheit losgefahren und in der Dunkelheit dort angekommen, wo ich noch nie gewesen war. Hier und da dann noch ein Haus, zu erkennen daran, dass in einem seiner Fenster der Schwippbogen leuchtete. Am Morgen des Heiligabends zeigte sich das ehemalige Zentrum der deutschen Kautabakproduktion in trübes Licht gehüllt; die Burgruine auf dem schwippbogenhaft geschwungenen Ausläufer des Südharzgebirges blieb gleich im Nebel versteckt. Auf der von den Pferden verschmähten Wiese neben dem Haus las ich sechs große und ein kleines Schneckenhaus aus dem nass verfilzten Gras. Drumherum lagen noch ganz viele, aber halbierte. Und Trümmer davon.

Im Fenster des Cafés Zur Herrenwiese hing ein Schild: »Kluge Frauen folgen ihren Männern / Wohin sie wollen«. Das Café hat über die Festtage geschlossen. Eigentlich waren wir auf der Suche gewesen nach Kerzenhalterungen. Im einzigen Gemischtwarenladen lief gerade ein Gespräch über die Niederungen des weihnachtlichen Konsumterrors, dass man sich früher noch über eine Orange hatte freuen können, und das auch noch ehrlich, aber heute musste es ja unbedingt gleich das Tablet sein. Kerzenhalterungen aber ebenfalls Fehlanzeige. »Nichts, das nicht schwände«, wie Botho Strauß, der Naumburger, es einst hatte feststellen können. Und mittlerweile hoffentlich noch immer kann.

Demenz in all ihren Formen, die Mannigfaltigkeit der Demenz, als da wären: die wütende, die anschmiegsame, fast unzertrennlich wirkende Demenz, und die galoppierende, die schleichende, die allfällige, sowie auch die weihnachtlich zahme, die gute und brave Demenz. Im Zweifel aber doch stets die Demenz ist als Thema hier allgegenwärtig. Demenz des Ostens, des einstigen Lebens, des Harzes, der Kautabakproduktion, die Demenz Naumburgs und die Demenz von Botho Strauß. Nichts, das nicht schwände. Vor der ehemaligen Bäckerei Slash Konditorei fegte der ehemalige Bäcker und Konditor den Bürgersteig und beantwortete sehr gerne meine Frage nach der verschwundenen Kautabakproduktion. Sein Vater beispielsweise hat noch gepriemt. Dann bat er uns herein, um uns den Verkaufsraum und die dahinter gelegene Backstube seines vorzuführen. Klaffend, und an den gekachelten Wänden noch die Spuren der herausgerissenen Maschinen. Vor allem der Ofen fehlte (wie in vermisst). Dafür stand nun ein Tischtennistisch mitten im Raum. Auf der Platte standen die zum Überwintern eingestellten Pflanzen in Eimern aus Plastik dicht beieinander. Aus Dosen entnahm er rollgriffweise Weihnachtskekse, überreichte eine kleine Tüte. Ein Relief aus Bronze mahnt den Betrachter, das Brot zu loben, weil es doch Frucht der Arbeit sei. Die Kekse schmecken noch genau so wie früher, also gar nicht. Nichts, das nicht schwände? Von wegen!

Die Kirche innen: verblüffend schön. Was ihr von außen nicht anzusehen gewesen war. Vermutlich liegts aber an den Jahrzehnten des praktizierten Atheismus, dass der Gottesdienst herzlos durchgezogen wurde und nicht gefeiert. Am Mikrofon stand eine junge Frau mit dunklem Schopf, die sich als Vertreterin des Pfarrers vorzustellen hatte, der an diesem Abend in einer anderen Gemeinde den Gottesdienst an Heiligabend hielt. Es offenbarten sich dann noch weitere Probleme im Umgang mit der Feier des christlichen Ursprungsmythos: Der Organist war auf dem Sprung, hatte nach vier von fünf Liedern noch woanders zu tun und verabschiedete sich deswegen sang und klanglos vor dem Segensspruch. Während die reizend verkleideten Kinder vor dem Altar ein Krippenspiel aufführten, meldete sich von der Kanzel herab die Handpuppe eines Rabens, um dort ein Kasperletheater zu veranstalten, beziehungsweise mit unverstellter Männerstimme die Weihnachtsgeschichte vorzutragen. Dann kamen die heiligen drei Könige, allerdings ohne ihren Kumpel aus dem Morgenland. Dann wieder Singen. Dann musste der Organist zum Bus. Na ja. Ohne Ton hätte es allen viel besser gefallen. Mittlerweile ist es aber auch so, dass auf den unteren Etagen recht bald die Smartphones herausgeholt werden, wenn der Gottesdienst nervt. Plus es fehlt halt auch Schnee. Wenigstens war es schön dunkel.

Kerzenhalterungen, allerdings für Grablichter gedacht eigentlich, fanden wir dann in einer Art 1-Euro-Shop am Wegesrand. Alles, vom Nagellackfläschchen und der Wunderkerzengroßpackung über das grüne Gästehandtuch bis hin zur Grablichtbefestigungsklemmhalterung kostete hier pro Stück 1 Euro 49. Es war also genaugenommen ein 1-Euro-49-Shop, der aber vom Konzept her demjenigen eines 1-Euro-Shops folgte, wie wir sie aus unseren Heimatstädten Frankfurt, beziehungsweise Berlin bereits kannten. Neuartig war, neben dem beinahe um die Hälfte höheren Preis für die einzelnen Produkte eines wie gewohnt beinahe willkürlich zusammengewürfelt oder -gekippt anmutenden Sortiments, auch die kompetente Beratung der Inhaberin betreffs unseres Anliegens. In der Großstadt undenkbar, hier auf dem ostdeutschen Land aber quasi natürlich, erteilte man uns Ratschläge, wie die zahlreich vorhandenen Kerzen an den Zweigen des Weihnachtsbaumes zu befestigen waren. Improvisierenderweise. Die uns für ebenfalls 1 Euro 49 verkauften Wäscheklammern aus Holz wurden dann letztendlich doch nicht benötigt, da sich die langen Dorne der Grablichtbefestigungsklemmhalterung anstandslos durch das zähe Holz der Zweige treiben ließen.