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»Zeit essen Texte auf«

Big Window

Essay
zuerst erschienen Herbst 2018 in Grisebach Journal
Ein Blick auf die Rückseite der Bundesrepublik, ihr brutales Schweigen, ihr leeres Zentrum und ihre mentale Innenausstattung. Und eine Anleitung, wie man sich von Günter Fruhtrunks Bildern schockartig in diese Parallelwelt hineinsaugen lassen kann

Die frühe Bundesrepublik war das Familienfest einer gefallenen Sippschaft, deren Angehörige sich Mühe gaben, einen Schein der totalen Normalität zu wahren. Die Deutschen machten es sich in einer Wunschvorstellung gemütlich, in der es durchaus sein konnte, dass es sich bei dem jovialen technischen Zeichner eine Reihenhausscheibe weiter um Willi Rudolf Sawatzki handelte, der sich nach dem Ende des Krieges, wie man so schön sagt, „nie wieder etwas zuschulden kommen ließ“.

1944 hingegen hatte Sawatzki sich in Auschwitz mit der Anweisung konfrontiert gesehen, vierhundert jüdische Kinder zu vernichten, obwohl die Vorräte an Zyklon B zur Neige gegangen waren. Sein Vorschlag zur Erfüllung war gewesen, die Kinder von Pritschenwägen bei lebendigem Leibe in lodernde Scheitergruben werfen zu lassen.

Die Bundesbürger hatten eine Kulisse vor das Grauen geschoben, vor Haare, Zähne, Fackeln, Fahnen, Fell, Filz, Fett, Knochen, Plomben, Rauch und Schienen.
Auch die sybillinischen Tableaus von Günter Fruhtrunk könnte man als Kulissen verstehen, in die das kaum Vergangene allerdings schwärende schwarze Risse geschlagen hat. Andererseits wurde Fruhtrunk als Designer wahrgenommen, als „Innenausstatter der Bonner Republik“, wie ein Kritiker schreibt, und mit dem Design, vor allem mit dem Interior-Design, ist es in Deutschland ja so eine Sache. Denn Letzteres könnte man in obigen Auszug aus dem Zeichensystem des 20. Jahrhunderts ohne Weiteres zwischen Fett und Knochen einschieben.

1938 erschien ein Feature über das „Chalet“ Adolf Hitlers in der britischen Homes & Gardens – auch die amerikanische Vogue war schon da gewesen, das New York Times Magazine –, in dem Hitler als „sein eigener Designer und Innenausstatter“ vorgestellt wurde, was offenbar zutreffend war: Dem hervorragenden „Hitler at Home“ von Despina Stratigakos zufolge war der Despot von der obsessiven Hoffnung beseelt, sich in der Gestaltung seiner Interieurs ausdrücken und seine Persönlichkeit darstellen zu können. Hätte er sich an der Akademie der Bildenden Künste in Wien nicht für den Malerei-, sondern für den Interior-Design-Studiengang beworben, wäre der Zivilisation ihr bisheriger Tiefpunkt wohl erspart geblieben.

Als Krönung seines Schaffens als Innenausstatter sah Hitler die sogenannte Große Halle seines Berghofs, deren Fluchtpunkt ein zehn mal vier Meter großes Fenster war, das einen frontalen Blick auf den Berchtesgadener Untersberg einrahmte und das sich zur Gänze versenken ließ – mithilfe zweier SS-Chargen, die auf einen Wink des Hausherrn hin hektisch zu kurbeln begannen. „Der Effekt ist einfach großartig“, schwärmte das Nazi-It-Girl Unity Mitford, „man kann es herunterfahren wie ein Autofenster und dann sieht man dieses umwerfende Bergpanorama, wie auf einer riesigen Kinoleinwand.“

Vor dem Hintergrund eines solchen totalen Realismus kann man umso mehr den in der frühen BRD gängigen Standpunkt nachvollziehen, dass allein die Abstraktion in der Lage sein würde, einen Neuanfang in der deutschen Kunst zu gewährleisten – auch wenn (oder gerade da) man ihr den Vorwurf machen konnte, „die Abkehr von der Wirklichkeit zum Stilprinzip erhoben“ und so die Zielsetzung verfolgt zu haben, wie sich ausgerechnet der Verdrängungsvirtuose Günter Grass echauffierte, „alles zu verdrängen, was die Vergangenheit heraufbeschwören und die Flucht nach vorn behindern könnte“.

Andererseits ist es ja gerade die Abstraktion, durch die sich die Deutschen in ihrem Genozidgebaren von allen anderen Völkern unterscheiden.

Und wie wollte man den Beweis führen, dass es sich bei der „Ineinanderwirkung von vier Räumen“, um die es hier ja gehen soll, tatsächlich um eine abstrakte Darstellung handelt? Kann man darauf nicht, nur zum Beispiel, den Ausschnitt eines Barcodes sehen oder eines Testbildes oder eines Polohemds? Oder aber eines als zu düster verworfenen frühen Entwurfs des Original-Covers von „Faserland“, dem letzten großen BRD-Roman, in dem Christian Kracht mit der „Architectural-Digest-Wohnung“ der Figur Nigel das ominöse Interior-Design-Motiv einführte, das in seinem zweiten Roman „1979“ dann näher an das leere Zentrum heranrücken sollte?

Wie man späte Arbeiten von Mark Rothko als realistische Darstellungen des Vakuums sehen könnte, das uns alle erwartet, so könnte man die kontrollierten Matrizes von Günter Fruhtrunk als gegenständliche Interpretationen bundesdeutscher Stimmungsfärbungen verstehen.

Im November ist bei Grisebach demnach ein orphisches Portal zu ersteigern, das man am ehesten in einen Flur seiner Behausung hängen sollte, um sich im Vorbeigehen hin und wieder schockartig hineinsaugen zu lassen, in eine Parallelwelt, die irgendwo weiter existiert: in die Buchhandlungen, die Fixerstuben, die Schalterhallen, die Unterführungen, die Sauna-Oasen, die Vorstandsetagen, die konspirativen Wohnungen, in die Stollen der Bergwerke, in die Bleiwüsten der Titelseiten und in die Reaktorhallen der Atomkraftwerke.

In das graue Licht über den Kassen der Aldi-Filialen, an denen die Deutschen ihr Hackfleisch in stylischen Plastiktüten verstauten, die ein gewisser Günter Fruhtrunk gestaltet hatte, was diesem ziemlich peinlich war – an einem Morgen des Jahres 1970 trat er mit den Worten „Ich habe gesündigt“ vor seine Münchner Meisterklasse, um sein Aldi-Honorar dann zerknirscht in deren Kaffeekasse einzuzahlen.

Die Reise mit Günter Fruhtrunk führt in die kargen Interieurs eleganter Mittelklasselimousinen, in die lichten Räume der bescheidenen Repräsentationsarchitektur der Bonner Republik und vielleicht sogar in das bronzene Licht des New Yorker Seagram Building, eines Totems des Endsieges der Vorkriegsavantgarde, aus dessen oberen Etagen man das Hauptquartier der Vereinten Nationen sehen kann, in dem Fruhtrunk als Interior-Designer im Auftrag der Bundesrepublik den Vorraum des Sicherheitsrats gestaltete.

Und weiter in das Atelier dieses immer noch halb vergessenen Meisters, in dem er sich 1982 das Leben nahm, der Legende zufolge, indem er toxische grüne Farbe verspeiste – das berüchtigte Schweinfurter Grün, so möchte man sich das vorstellen, dasselbe Grün, das in der „Ineinanderwirkung von vier Räumen“ mit Rändern aus Kobaltblau einen unheilschwangeren Schlussakkord bildet. Kupferarsenitacetat, das Grün van Goghs, Gauguins und Napoleons, mit dem der Künstler die Belastung, die Deutschland ja auch immer bedeutet, wohl endgültig hinter sich lassen wollte.

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