3.10

Am Rande des Opernplatzes sitzt auf dem Trottoir ein Mann, er hat nur noch ein Bein. Entlang dieses Beines, beschwert von seinem darauf abgelegten Stumpf des anderen, hat er ein Stück Pappkarton ausgebreitet. Darauf sitzt ein weißer Hase. Ein Prachtexemplar der Rasse Farbzwerg, die ihren Ursprung in Holland hat. Obwohl im Rücken seines Herrn der Verkehr kreisförmig um das Opernhaus herumrauscht auf drei Spuren und obwohl, dies verwundert vielleicht noch mehr, vor seiner unablässig schnüffelnden und mümmelnden Schnauze die hochbeinigen und lange Schatten werfenden Menschen in flachen besohlten und hochhackig klackernden Schuhen vorüberziehen wie ein Zaun auf Schienen, liegt der Hase still da. Wie unbekümmert. Sein Auge wirkt größer, als es in Wirklichkeit ist, da es von einem breiten Ring aus schwarzem Fell wie eingefasst scheint. Dieser Ring, wie von sorgfältig verschmierter Mascara, gibt dem Hasen etwas Gedankliches, einen Anschein von existentialistischem Tiefsinn; dazu sein Schweigen, die Schmutzigkeit der Kleidung seines Herrn, der auf dem Trottoir im Schatten des Opernhauses sitzt, auf dessen Dach die zwei vergoldeten Figuren im Sonnenlicht leuchten, gegenüber die grüne Säule auf der Place Vendôme: Der Hase sieht all dies und weiß von nichts. 

Friederike hatte mich auf den Mann mit dem Hasen aufmerksam gemacht. Wir schenkten ihm einen kleinen Schein. Er war sehr freundlich und lieh mir den Hasen, damit ich mich mit ihm auf dem Arm fotografieren lassen konnte. Wenn der Mann ihm einige der in einem Park ausgezupfte Halme hinhielt, machte der Farbzwerg auf seinem Kartongrundstück Männchen. Er hieß Pinocchio.

In der Nacht wachte ich zwei Mal auf und beide Male dachte ich daran, dass ich in einem nahen Supermarkt eine Auswahl von Gemüse und einen Strauß Petersilie kaufen wollte, um sie Pinocchio zu bringen. Eine richtige Jardinière würden wir ihm überreichen, an der er sich einige Tage lang satt essen würde.

Als wir dem Mann den sorgfältig zusammengestellten und sortenrein in appetitlichen Papptüten mit Klarsichtfenstern verpackten Inhalt unserer Monoprix-Tüte präsentierten, zeigte der sich zuerst etwas kopfscheu. Behutsam führten wir dem Farbzwerg, heute früh war ein sonniger Morgen, es wurde im weiteren Verlauf ein herrlicher Tag, eine der küchenfertigen Babykarotten zu. Auch Pinocchio zeigte sich im Angesicht der ungewöhnlich wohlgeformten und frischen, aber halt auch da frisch aus dem Kühlregal entnommen, auch undelikat kühlen Köstlichkeit spröde. Erst bei einem Sträußchen Petersilie schlug er in alter Frische zu. Wir machten viele Fotos. Einige davon haben das Zeug zum Klassiker. Und dann, wieder zurück auf dem Boden der Tatsachen sozusagen, auf seinem Karton, nahm er in aufrecht stehender Position nun auch die Babykarotte aus der Hand seines Herrn an. Ein uns beruhigender Beweis dafür, das der Farbzwerg nicht etwa unter Drogen gesetzt und so dann beim Betteln als Anlocktierchen missbraucht wurde. Wie es ja beispielsweise im Reich der Mode beispielsweise für das Pony bei Ralph Lauren, für den Windhund bei Trussardi, für das Lamm bei Brooks Brothers et cetera gang und gäbe ist. Vom Duracellhasen, der Milkakuh, dem Bär der Marke Bärenmarke, also den Maskottchen generell und von den diesbezüglichen Automarken, ganz zu schweigen.