1.6.2020

Samstags erscheint als letzte Seite das Feuilleton «Literarisches Leben». Immer schaue ich es mir an, oft stelle ich auch fest, dass ich mich samstags schon früh auf diese Sonderseite freue. Ich mag Sonderseiten und -teile in der Zeitung generell. Sie strukturieren mein Wochengefühl (Generation Sams). Die Freude am Literarischen Leben ist freilich von ambivalenter Qualität. «Warum freilich?» Unter dieser Rubrik erscheint sehr selten ein Text, den ich auch lese — zum letzten Mal etwa vor einem Jahr, als es um eine Muse Oskar Kokoschkas ging, die kokainsüchtig war und sämtliche Künstler im Wiener Nachtleben verrückt machen wollte (nach sich; kirre vor sexuellen Gelüsten nach ihr). Sie hatte einen Roman darüber geschrieben, der aber bloß in Paris veröffentlicht werden konnte, auf französisch, und obskur geblieben ist. Seitdem suche ich nach diesem Roman, teils auch mit vereinten Kräften, aber er scheint unauffindbar bleiben zu wollen. Hoffentlich existiert er gar nicht. Dass dieser Text im Literarischen Leben erscheinen konnte, halte ich ohnehin für ein Versehen. Er könnte dem für das Literarische Leben zuständigen Redakteur unterlaufen sein, denn ich bin mir sicher, dass es sich um einen Einzelnen handelt. Tatsächlich sendet dieses Unternehmen einen morsehaften Unterton, den eines Verstoßenen aus der aufgegebenen Strafkolonie. Als Chiffre verfolgt er sein völkerkundliches Programm, das sich deutlich von den interessanten Formaten der Berichterstattung vom Leben mit Texten, wie beispielsweise denen in der London Review of Books, absetzten soll. Aber der Ordnungsruf ob seiner leblosen Seite erfolgt einfach nicht. Nicht einmal der. Er erfolgt nie (Kafka). In der Dystopie vom literarischen Leben geht es um tote Bulgaren, um einen verschwundenen Brief (verschwunden allerdings vor 1050 Jahren — Man ist sich dort sicher, dass es in jenem Jahr geschehen war), oder um eine junge Dichterin aus Odessa, die nach Berlin gezogen ist, und die sich darüber beschwert, dass am Kottbusser Tor niemand ihr Russisch versteht. Afrika, Asien, nicht einmal Indien kommen jemals vor. Immerhin. Aber auch das juckt keinen. Am Samstag wurde ich so gesehen überrascht vom populistischen Move einer monothematischen Zusammenstellung aus dem Tagebuch von Volker «Holzgewehr» Hage. Abgedruckt waren seine Einträge nach den Begegnungen mit Marcel «Mein Leben» Reich Ranicki. Dessen 100. Geburtstag an einem dem Gedenkdatum voraus gelagerten Samstag gedacht wurde — warum aber nicht eine Woche darauf, fragte ich mich. Für den großen Dienstag selbst (GDS) war dann noch eine Sonderbeilage angekündigt, die er selbst wohl sehr gern gelesen hätte — schade (Hesse); in der Sonntagszeitung dazwischen ein monothematisches Feuilleton mit seinen witzigsten Briefen, die man noch nicht kennt. Ich fing an zu lesen, aber bei wirkte sein literarisches Leben nicht so, dass ich ihn vermisste. Im Gegenteil. Analog zum Déjà Vu wurde mir gleich wieder fühlbar gemacht, wie ekelhaft ich ihn schon zu seinen Lebzeiten empfunden habe. Und da kannte ich die neuesten Details von seinem Umgang mit den sehr verehrten Schriftstellern noch gar nicht. Wie sie gelitten haben. Alle bis auf Goethe und Thommie Mann, die waren schon tot. Wat hebt wi lacht.