16.6.

Der »Fürsprecher« und der »Verfüger«: Den einen habe ich von Gerhard Merz, der andere Begriff stammt von Botho Strauß (aus seinem Partikular), und seitdem war mein Leben und mein Schreiben wie oszillierend zwischen diesen beiden Sehnsuchtsorten gefangen, aber halt nicht aufgehoben. Und dann kamst Du.

Ab irgendwann hatte ich Dich die Muse genannt – das kam einfach so zu mir, war wohl auch einer von Dir induzierten Eingebung zufolge in mir entstanden. Ich musste aber nie darum bangen, nie fürchten, ob oder wann mich die Muse das nächste Mal küssen würde; weil ich es bald wusste, und es ist bis heute so geblieben: Wann immer wir sprechen, was auch immer Du mir sagst, es wirkt so, wie dieser Kuss einer Muse auf mich.

Gestern hast Du gesagt, ich solle doch wieder mehr schreiben, längenmäßig hattest Du das gemeint, und auch mehr über das, weswegen Du mich einst geheiratet hattest. Du sagtest: Schau doch einfach mal eine Woche lang aus dem Fenster. Und schreib mir über das, was Du dort draußen siehst. Über die Vögel, die Bäume, über die Wolken und über das Licht.

Und ich lachte.

Weil es ja das ist, genau das, so fiel es mir in diesem Moment ein, da ich es Deine Stimme aussprechen hörte, was ich am liebsten auch tun würde (All Night Long).

Jemanden zu lieben bedeutet für mich, ihm dabei zu helfen, zu dem zu werden, wozu er aus eigener Kraft nicht imstande ist.

Und dann sagte ich: Ja, aber die anderen.

Und Du sagtest: Wie? Du hattest mir einst gesagt, Du schriebst das nur für mich!

Und das stimmt auch. Natürlich. Und so soll es auch sein und bleiben. Ich pflege meine Versprechen zu halten. Im Zweifel gebe ich sie gar nicht erst ab.

Aber das solltest Du wissen und auf jeden Fall stieß ich dann gestern früh, nachdem wir gesprochen hatten, an der Fußgängerampel auf diese Frau, sie trug eine Regenjacke in acid yellow mit Reflektorstreifen, auf denen stand aufgedruckt »Fahrstreckenpersonal« — ich meine: Hello!, beziehungsweise: Hâllo Vetements!

Unter dieser mein Aufsehen erregenden Jacke hatte sie einen Hoodie an aus malvenfarbenem Fleece, aber was mich ungleich mehr interessierte, das hing an einem Band um ihren Oberkörper: Es war ein Instrument aus Messing mit zahlreichen Ventilen. Wie sie mir zeigte, handelte es sich dabei um eine Tröte, schalmeienhaft, mit drei oder vier Schalltrichtern, die davon entsprossen. Und ich fragte: »Aha, kommt da noch eine Druckluftdose unten dran?«, und sie sagte: »Nein, das bin ich.«

Der Beruf nennt sich Postenwache, sie arbeitet im Dienst der Deutschen Bahn und ihre Aufgabe besteht einzig darin, auf Streckenabschnittsbaustellen ihren Posten zu beziehen, und bei Gefahr, also bei herannahenden Zügen o. ä., in ihre Tröte zu blasen, damit die Arbeiter, die Schwellenleger und Gleisschotterschütter sich rechtzeitig verziehen.

Stehen, wachen, auf dem Posten sein und bei Gefahr tröten: Darin besteht ihr Beruf. Ich dachte an die Blässhühner und an meine Enten und stellte mir vor, dass die Wachfrau, anders als jene, sich aus einer persönlichen Wahl heraus für diesen Beruf entschieden hatte, weil sie gerne an der frischen Luft hatte ihr Leben verbringen wollen. Und dass es, wo ich bereits angefangen hatte, darüber nachzudenken, doch noch einige Berufe gibt, meinem inklusive, die einem Menschen das ermöglichen können. Also draußen zu sein:
Vogelforscherin
Försterin
Gärtnerin
Gerüstbauerin
Archäologin
Matrosin
Heißluftballonfahrerin
Hirtin
Winzerin
Bergführerin
Naturdichterin
Landschaftsmalerin
Hydrographin
Sprengmeisterin
Stadtbilderklärerin
Tierforscherin
Zeugin Jehovas
Graffitisprüherin
Industrieklettererin
Fahrradkurierin
Briefträgerin

Und unsere Wege trennten sich ohne einen Abschiedsgruß. Dann hatte ich in der Stadt zu tun, davon kann ich Dir wenig berichten, aber auf der Rückfahrt, in einer S-Bahn, kam es zu etwas, das ich nicht erwartet hatte, das geschieht selten, aber wenn, dann. Ich hatte einen Stehplatz und schaute von dort aus herunter auf das Buch, das dort aufgeschlagen auf dem Schoß einer Lesenden lag, und schon nach wenigen Augenblicken, während derer ich versucht hatte, zu entziffern, was dort geschrieben stand, wandte die Buchbesitzerin ihr Gesicht in Richtung meines Blickes – woran liegt das, dass wir Menschen spüren können, wenn jemand und so weiter und so fort?

Wunderwerk der Empathie.

Kurz darauf rollte sich ein Mann in den Wagen. Seine Haut war grau und grün zugleich, er schien wie aus Stein. Die Kleider völlig verdreckt und er hatte nicht einmal Schuhe an oder Socken. In seinem Rollstuhl schob er sich ultralangsam voran und bat um Geld für das Übliche: Übernachtungsmöglichkeiten und etwas zu essen. Er legte vor jedem Sitz eine Pause ein, und die Möglichkeit, seinem Betteln Nachdruck zu verleihen bestand in dem infernalischen Gestank, den er verströmte: Verwesungsgeruch. Ich kramte nach meiner Dose Carmex, fand sie nicht, denn es war ja zu spät. Auch als ich nach hinten ins Abteil lief: Der Gestank stand im Raum und wurde noch dichter. Eine Frau hatte sich bereits in ihren Schal übergeben. Mir fiel ein, dass ich durch den Mund atmen müsste, aber es war auf diesem Abschnitt der Strecke, wo lange, sehr lange keine weitere Haltestelle mehr kam. Als aber dann – ich fiel mehr nach draußen auf den Bahnsteig, als dass ich stieg. Ich konnte endlich die Sterne sehen, weil ich hyperventiliert hatte.

Neun Minuten warten auf die nächste Bahn nach Hause. Der Geruch haftete an mir, vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet, es war auf jeden Fall wie ein Fluch.

Ich setzte mich entgegen der Fahrtrichtung und sah den Fesselballon des Springerverlages hoch in der Luft, doppelt so groß in seinem Umfang wie die Kugel des Fernsehturms, und dann fuhr der Zug um die Kurve. Ab der Sundgauer Straße wurde es draußen endlich menschenleer.

Daheim saß ich eine Ewigkeit herum und ließ mir die Alphawellen vom Flimmern des Akaziengrüns glätten. Ich dachte an Dich und auf einem Subchannel auch daran, ob wir Menschen, aus einer himmelweiten Vogelperspektive heraus betrachtet, nichts weiteres waren als lauter Ameisen, auf der Suche nach diesem einen, ihnen mega erscheinenden Zuckerwürfel. Und danach, ganz schlagartig, erhielt ich eine Lieferung, und wusste nun, wie der Einstieg zu der Geschichte über Götz Kubitschek lautete.

So war, in etwa, mein Tag.