German Aquakultur

Essay
zuerst erschienen am 13. März 2014 in Freitag
Der Schriftsteller Alexander Schimmelbusch über Sinn und Unsinn der Schreibschule

Mit einem amüsanten Kommentar in der Zeit kitzelte der Publizist Florian Kessler im Januar ein Zittern in das feuilletonistische Weißweinglas, das derzeit halb leer zu sein scheint. Bei den jungen Schriftstellern deutscher Sprache, analysierte Kessler, handele es sich heute um ein homogenes Grüppchen von Strebern, die zu wenig söffen und nichtssagend schrieben, da ihre großbürgerliche Herkunft sie selbstzufrieden und die Schreibschule sie geschmeidig gemacht habe.

Maxim Biller fügte hinzu, ebenfalls in der Zeit, dass von „Nazi-Enkeln“ generell nichts zu erwarten sei, nur Leute mit Migrationshintergrund könnten es heute wirklich bringen, seien aber angepasst, servil und feige. Sie schrieben allesamt „Onkel-Tom-Literatur.“ Das könne sogar ein „kurdischer Rapper ohne Realabschluss“ besser. Es geht also mal wieder darum, woher man kommt, obwohl die interessantere Frage wäre, wohin man geht als junger Schriftsteller. Ob man nach Bagdad ziehen sollte, oder auch nur nach Brooklyn oder Berlin. Oder ob man sich in einer Kleinstadt aufhalten sollte, um dort ein paar Jahre lang zur Schreibschule zu gehen.

Diese Frage trägt die angenehm disparate Anthologie „MFA vs. NYC“, die soeben beim Brooklyner Zeitgeist-Kollektiv n+1 erschien, bereits im Titel: Macht es Sinn, als angehender Schriftsteller erst mal ein MFA-Diplom zu erwerben, einen „Master of Fine Arts in Creative Writing“? Oder sollte man einfach direkt nach New York City ziehen?

Die deutsche ist mit der amerikanischen Situation nicht vergleichbar, da es dort zum Beispiel nicht wie hier nur eine Handvoll, sondern mehrere hundert Schreibschulen gibt, sodass sich amerikanische Autoren immer mit den Verlockungen von Lehraufträgen  und somit der Gefahr konfrontiert sehen, als Wanderdozent auf ewig in den Mühlen eines flächendeckenden Schreibschulsystems zu verschwinden. Der Band bietet im deutschen Kontext demnach keine Handlungsempfehlung, dafür aber eine Vielzahl an Bonmots für einen Artikel wie diesen, etwa das folgende: Die Schreibschule, so der Literaturprofessor Eric Bennett, sei wie eine Muffin-Backform, in die man den Teig seiner Träume hineingieße. Man beginne mit etwas Undefinierbarem, und am Ende habe man – einen Muffin.

Klassisches Schreibschul-Bashing also, größtenteils in Beiträgen von Schreibschulabsolventen, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1987 des späteren Schreibschuldozenten David Foster Wallace zum Beispiel, den er unmittelbar nach seinem MFA-Abschluss an der University of Arizona verfasste. Darin sagt er eine Literatur der Schreibschulabsolventen voraus, die „betäubend gleichförmig“ und „fehlerfrei und nahtlos wie feines Linoleum“ sein werde.

Herausgeber Chad Harbach hingegen, der für einen süffigen Baseball-Schmöker vor ein paar Jahren einen Vorschuss von 650.000 Dollar einstrich, führt den „Trend zur Verkäuflichkeit und Zugänglichkeit“ nicht auf den vermeintlich nivellierenden Effekt der MFA-Schmieden, sondern vielmehr auf NYC zurück, auf hohe Lebenserhaltungskosten und die immer härteren kommerziellen Anforderungen der New Yorker Verlagsbranche: Wenn man keine signifikanten Verkaufserfolge erziele, müsse man New York schließlich verlassen, um in der Provinz an einer Schreibschule zu unterrichten – wo man wiederum, mit sicherem Salär ausgestattet, endlich schreiben könne, wie man wolle.

„Was einem an Gegenwartsliteratur aus New York zuerst auffällt“, schreibt Harbach, „ist, wie einleuchtend die Bücher sind. Die besten jungen New Yorker Romanautoren geben sich große Mühe, verständlich zu schreiben und ihre Handlungsstränge fein säuberlich mit einer Schleife zusammenzubinden. Wie sehr man sich dabei nach einem Ende wie dem von DeLillos erstem Roman sehnt, an dem sich alle gegenseitig einfach grundlos anpinkeln!“

Diese Sehnsucht scheint auch hinter den Schreibtischen der zunehmend gebeutelten deutschen Feuilletonisten zu herrschen, die offenbar keine Töchterchen- oder Söhnchenprosa mehr ertragen können. Als Leser deutscher Zeitungen bekommt man seit Jahren das Lamento vom Leipziger Einerlei verabreicht, von der Hildesheimer Häschenschule, von einer „Literatur, die sehr langweilig ist, da sie zu großen Teilen von Autorinnen und Autoren verfasst wird, die nichts erlebt und nichts zu erzählen haben“, sodass Gedanken an Schreibschulen heute unweigerlich Assoziationen an Dinge wie Nicki-Pullover hervorrufen, an Wuschelfrisuren und lange Unterhosen, oder aber an den Film Karate Kid.

Dessen Protagonist will unbedingt Karatekämpfer werden und macht daher ungelenke Kick-Übungen, wie er sie in einem Buch gesehen hat. Ein japanischer Handwerker kommt des Weges und sagt „Ah! Karaté!“ – in deutscher Synchronisation unerklärlicherweise französisch prononciert –, um dann die Observation „Lernen aus Buch“ zu machen. Mit diesen drei Worten definiert Mister Miyagi den ersten Weg, jenen des Autodidakten, der vom obsessiven Leser irgendwann zum Schreibenden wird. Rasch wird Miyagi allerdings vom Mister zum Meister, der den jungen Aspiranten La Russo – wohl italienischer Migrant der dritten oder vierten Generation – auf dessen Kampf vorbereitet, gegen die Profanisierung und Kommerzialisierung seiner erhabenen und uralten Disziplin durch die gleichgeschalteten Karatéschulabsolventen des Dojos Cobra Kai, der für die Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim steht.

Dem genormten Drill von Cobra Kai – „Furcht  existiert nicht / in diesem Dojo / Niederlage existiert / nicht in diesem Dojo“ – setzt Miyagi einfühlsame Weisheiten nach Art von „Karaté nicht hier“ (zeigt auf seinen Bizeps), „Karaté auch nicht hier“ (zeigt auf seine Stirn), „Karaté hier“ (zeigt auf sein Herz) entgegen. Aber ist somit nicht Miyagi bereits die Schreibschule?  Ist das Buch, an das sich der angehende Kämpfer zu Beginn klammert, bei dem es sich in aller Wahrscheinlichkeit um ein Lehrbuch à la „Karaté for Dummies“ handelt, nicht schon als rudimentäres Fernstudium zu verstehen?

Wenn dieses Bild keinen rechten Sinn ergibt, dann liegt das daran, dass die Frage, ob der Besuch einer Schreibschule sinnvoll ist, nicht beantwortet werden kann. Ich selber zum Beispiel kam nie auf die Idee, eine Schreibschule zu besuchen, trotz Studiums in Amerika, trotz einiger Freunde, die MFA-Programme absolvierten, trotz meines großbürgerlichen Elternhauses und österreichischen Migrationshintergrundes, was aber nicht bedeutet, dass ich davon abraten würde. Es ist generell kein gültiger Ratschlag möglich in dieser Hinsicht, so wie sich für jede Schreibregel in der Weltliteratur irgendwo ein gutes Gegenbeispiel finden lässt. Es geht nicht um gut oder schlecht, sondern um die simple Frage: Will man das? Will man ein Schreibschüler sein?

Die Vorteile liegen auf der Hand. Was zum Beispiel könnte besser dazu geeignet sein, den abwegigen Plan, Schriftsteller zu werden, vor einem ja meist skeptischen familiären Umfeld zu legitimieren, als der Besuch eines offiziellen Lehrgangs an einer Hochschule? Mit einem Minimum an rhetorischem Talent, das sicher jeder besitzt, der in Leipzig oder Hildesheim zugelassen wird, kann man seiner dominanten Professorenmutter das absonderliche Vorhaben womöglich sogar als Karriere verkaufen. Hinzu kommt, dass einem die Schulen ermöglichen, die Kontakte zu knüpfen, die man braucht, um seine Schriften dann auch unterzubringen.

Aber es gibt wohl auch Gefahren. Dass man zu viele Ratschläge annimmt zum Beispiel. Dass man zu viel über eine Arbeit redet, während sie entsteht. Dass man nicht allein ist mit seinem Vorhaben. Dass man sich schleichend einem Mikrokosmos anpasst, der für einen selbst vielleicht gar nicht entscheidend ist. Dass man, da alle so nett sind, seine Boshaftigkeit nicht zur Entfaltung bringen kann. Dass man seine Erfahrungen eben nicht in Bagdad oder zumindest in Brooklyn oder Berlin, sondern im Kuschelkontext von Leipzig sammelt, mit seinen 100-Euro-Altbauetagen, oder gleich in der Rentneroase Hildesheim. Dass einen das ständige Mitteilen-Müssen in einen Jähzorn treibt, den man in sich hineinfressen muss, um nicht unangenehm aufzufallen. Dass die Gedanken sich irgendwann nicht mehr von ihrem institutionellen Kontext emanzipieren können, der dazu verführt, die Frage zu vermeiden: Will ich schreiben? Oder will ich nur „Schriftsteller“ sein?

Auch ist nicht auszuschließen, dass die Kritik irgendwann keinen Bock mehr hat, dass sie an einem mehr oder minder spontan herausgegriffenen Schreibschüler im Vorübergehen ein Exempel statuiert, wie es gerade Fabian Hischmann widerfahren ist – möglicherweise, da er nicht nur in Hildesheim oder Leipzig, sondern gleich in Hildesheim und Leipzig gelernt hat.

In seinem Roman mit dem zugegebenermaßen anstrengenden Titel Am Ende schmeißen wir mit Gold schickt er seinen Protagonisten zudem mit einer MFA-Studentin ins Bett, die eine jener Schreibschulen besucht, die MFA und NYC zusammenbringen, nämlich das Creative Writing-Programm der Columbia University. Während es Richard Kämmerlings in der Literarischen Welt bei einem moderaten Abwatschen des Romans bewenden ließ, der „Kritikern der Schreibschul-Blutleere leider Recht gebe“, warf Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung die Kettensäge an: Hischmanns „verwuschelter kleiner Roman“, der „Erfahrungsbericht eines Bauchnabelpoplers“, sei als „Mittelstufen-Lektüre geeignet“, da er sich „mühelos in ein Diagramm an der Schultafel übersetzen“ lasse. Sein Fazit: „Institutsprosa.“

Macht man sich als Schreibschüler mit einem System gemein, das „große Literatur“, wie die Kritikerin Elif Batuman schreibt, und dies auch nur im besten Fall, durch „großartige Belletristik“ ersetzt? Kann es sein, dass man als Schreibschulabsolvent kein eigenwilliger Wildfang-Wolfsbarsch mehr sein kann, sondern lediglich eine optimierte Aquakultur-Dorade? Möglicherweise sind dabei die Lehrer entscheidend. In den 70ern am Iowa Writers‘ Workshop zum Beispiel von John Cheever zu lernen – wer würde zögern? Wer bräuchte Bedenkzeit?

„Ich predige über die Probleme der Gegenwartsliteratur“, schrieb Cheever aus Iowa seinem Nachbarn, „und zerschmettere mich sonst einfach über diesem Teil der Landschaft des Mittleren Westens.“ Cheever ließ sich nach den Seminaren von seinem jungen Kollegen Raymond Carver zum liquor store fahren, um seinen Studenten abends auf Partys dann Weisheiten nach Art von „Fellatio ist das Netteste, was ein Mensch für einen anderen tun kann“ zu predigen. Mein eigener bevorzugter Schreiblehrer wäre Grady Tripp, aus dem Schreibschulroman (Wann kommt der erste aus Deutschland?!) Wonder Boys von Michael Chabon, der seinem Schüler James, nachdem dieser gejammert hat, seine großbürgerlichen Eltern würden ihn wie einen Freak behandeln, den erlösenden Hinweis gibt: „You are a freak, James. Welcome to the club.“