»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.1.

Langsam, wirklich Schritt für Schritt bewegte ich mich am Vormittag auf mein Ziel zu. Wie ein Pinguin. Zum Glück hatte ich nicht auch noch einen Smoking an. So ähnlich geht mein Lieblingswitz. Der einzige, den ich gut auswendig kenne. Er stammt aus der Fernsehserie Twin Peaks. Dale Cooper, ein Detektiv, erzählt ihn in einer der letzten Folgen der zweiten Staffel, die ansonsten sehr schlecht ist. Es ist der einzige Pinguinwitz, den ich kenne. In der Sonntagszeitung hatte ich gelesen, dass die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie eine an Pinguinen orientierte Fortbewegungsmethode empfiehlt für den Fall, dass Bürgersteige und Wege, wetterbedingt, eine Gefahr bedeuten. Dieser Fall war gestern Vormittag plötzlich eingetreten, als ich die Choriner Straße bergan ging. In dieser Straße wird traditionell nicht gestreut oder geschaufelt. Es handelt sich schließlich um eine Museumsstraße. Zumindest auf ihrem unteren, dem vergleichsweise steil bergan (oder bergab, je nachdem) führenden Teil. Zwar wurde just dort, an der Einmündung zur unaussprechlichen Querstraße, die vom für Radfahrer tödlichen Weinbergsweg herüberführt, das letzte noch nicht fassadensanierte Haus kurz vor Wintereinbruch noch fassadenrenoviert, auch wurde auf eben diesem unteren Abschnitt vor ein paar Jahren ein von den Alteingesessenen als hinterrücks empfundenes Apartmentgebäude mit Tiefgarage und verglastem Deli im Erdgeschoss errichtet (»hochgezogen«), aber hier und da lebt sie dort halt noch, die ehemalige DDR. Kulissenhaft. Und dies als Kulisse der ehemaligen DDR. Also im Stile des Berlins in den wenigen Jahren nach dem sogenannten Fall der Mauer, als das Alltagsleben in diesem Viertel, Prenzlauer Berg, noch so aussah. Zumindest so ähnlich. Nur mit schlechteren Kaffeemaschinen. Und mit anderen Kunden und Gästen. Die Betreiber hingegen sind noch echt. Auch von ihrer Feindseligkeit her. Wer beispielsweise in der Gaststätte Schwarze Pumpe mit EC-Karte zahlen will, sollte sich auf einiges gefasst machen. Auch das Berganschreiten mit Methode Pinguin ist dort nicht gern gesehen. Das heißt, man sieht’s halt schon ganz gern. Speit dann aber auch demonstrativ aus auf den ungeschaufelten Schnee. Gepriemt wird dort ja selbstverständlich auch. Die Ware stammt mittlerweile allerdings aus Dänemark, weil im Südharz, dem ehemaligen Zentrum der deutschen Kautabakproduktion, wurden so lange und überall immer mehr Apartmentgebäude mit Tiefgarage und verglastem Deli im Erdgeschoss hochgezogen, bis die deutsche Kautabakproduktion erstickt ward. Mir rollte ein Apfel entgegen. Der war dem Betreiber des Spätkaufs neben dem Souterrain aus einer Holzkiste geplumpst, die er, gefüllt mit noch mehr von diesen Äpfeln, auf den dick verschneiten Stufen seines Ladens, der übrigens Späti heißt, abgesetzt hatte. Ein den Spätkauf verlassender Gast ließ die Ladentüre offenstehen. Der Spätibetrieber knallte sie mit der Hacke zu und grinste den ihm entgegenwatschelnden Pinguin herausfordernd an. Ich sagte nichts.

Damit lag der steile Teil der Straße auch bereits hinter mir. Der auf einer gedachten Ebene voranführende Abschnitt bis zur Einmündung in die Schönhauser Allee ist bis auf den Spielwarenladen und die Bäckerei Zässin nur noch wenig museal anzuschauen. Hier gab es aber bis vor kurzem noch die letzte Baulücke des Viertels, das ja ansonsten aufgrund des sogenannten Milieuschutzes den Neubaulustigen keine Chancen mehr lässt. Es sei denn, man kennt sich aus, wie beispielsweise um die Ecke von der Baulücke, wo sich einst der für die in seinem Inneren herrschenden Zustände völlig zu Recht gefürchtete Supermarkt der Berliner Traditionsmarke Kaiser’s befunden hatte. Im Grunde war’s ein nur dünn maskierter Bolle, in dem bekanntlich einst in den Achtzigerjahren die traditionellen Maikrawalle erfunden worden waren. Damals noch mit Plünderungen. Also so ähnlich, teilweise aber noch härter, ging es in dem Kaiser’s gern auch schon am Vormittag zur Sache. Aber mittlerweile ist dort nur noch ein tiefes Loch, wo früher das traditionell ufohafte (aber DDR-Ufodesign) Zweckgebäude jahrzehntelang alles ausgehalten hatte. Als mir der Architekt Wolfram Popp, der sich mit solchen Dingen hervorragend auskennt, im Sommer zuvor erzählte, dass die Pachtverträge beinahe aller Kaiser’s-Filialen zum damaligen Jahresende ausliefen und ich mir doch einmal vor dem geistigen Auge, zur Not dürfte ich mein Fahrrad zur Hilfe nehmen, vergegenwärtigen sollte, auf welchen sogenannten Filetstückgrundstücken diese Supermärkte einst hochgezogen worden waren, da bedauerte ich zutiefst, nicht Architekt geworden zu sein. Oder noch besser Bauunternehmer wie Dieter Bohlen. Stattdessen halt leider Komponist. Kopfschüttelnd ging ich damals nach Hause. Ich wachte in jener Nacht sogar einmal auf, lachend: Nein, dieser Wolfram! Kurz darauf schloss erst der Kaiser’s. Und dann passierte das, wovor in diesem Stadtviertel sich alle fürchten, zu Recht, was aber keiner, auch nicht mit Nichtschaufeln, noch verhindern kann: Die Architekten der Bürogemeinschaft Graft stellten an der künftigen Baugrube, die Leiche war, wie es heißt, noch warm, ihr Schild auf. Zu deren Entwurfsstil gibt es nichts zu sagen. Interessant ist allerdings schon, dass Architektur zu einem gesellschaftsfähigen Thema geworden ist. Man unterhält sich über Gebäude. Auch mal über Grundstücke. Ein Architekt wie Thomas Kröger beispielsweise ist auf privaten Feierlichkeiten ein gern gesehener Gast. Jahrelang fiel er vor allem durch sein Tragen einer rosa Pudelmütze aus flauschiger Wolle auf. Dann mehrten sich die Erfolgsgeschichten, die unter den Freunden der Architektur in Berlin von den Häusern erzählen. Als es hieß, die letzte Baulücke auf der Choriner Straße würde von Thomas Kröger geschlossen, ging ein Raunen durch die Wohnzimmer und Galerien. Man war gespannt. Was würde er damit machen, wie es bei Edward Bulwer-Lytton hieß. Nicht weniger als die komplette Transformation, so viel sei verraten, denn zuvor befand sich auf diesem Grundstück ein Gebrauchtwagenhändler. Das Grundstück ist also groß, nicht breit wie’n Hafen, dafür aber lang. Die ursprüngliche Bebauung war kaisershaft. Der Gebrauchtwagenhändler hauste in einem blauen Container. Der Rest des verschneiten Grundes ging für die Gebrauchtwagen drauf. Der berühmte erste Spatenstich ist noch nicht erfolgt. Auch steht dort, an der gänzlich von sämtlichen Überresten des Gebrauchtwagenhandels geräumten Baulücke, noch immer kein Schild. Gestern standen davor zwei Zugezogene mit Mützen auf und unterhielten sich leis‘. Ihr Blick ging auf die weiße Weite hinaus, die sauber aufgeräumte Leere dort, den Schnee.

Irgendwo anders in der Stadt atmete Thomas Kröger tief ein.

9.1.

Den Tag über am Fenster gesessen, das Licht von draußen so halb im Rücken. So müssen die sich im Mittelalter gefühlt haben, wenn es dann endlich mal geschneit hatte im Winter: Ah, mehr Licht, Kerzen sparen. Alles drin sieht anders aus, anders auch als im Sommer, im umseitig reflektierten Schneelicht. Erinnerungen an Skiferien, auch wenn die ewig her sind (und da auch ganz und gar nicht immer die Sonne geschienen haben wird).

Am Nachmittag dann den Stapel alter Zeitungen, circa sechs Wochen in täglichen Ausgaben werden es gewesen sein, auf einen Stuhl neben den Tisch gelegt und wirklich versucht, nachzuvollziehen, was in jeder einzelnen Ausgabe ausschneidenswert beziehungsweise aufbewahrenswert oder verwertbar mir erschienen war. Es bliebt verblüffend wenig übrig. Ganz ganz selten finde ich eine tatsächliche Anstreichung auf den Seiten. Manchmal bin ich beim Lesen zu faul, oft glaube ich, das war jetzt so sensationell gut (oder bizarr), dass mir das auch noch Wochen später ins Auge stechen wird (wie ich ja, leider, auch so gut wie nie Knicke mache in Bücherseiten, weil ich wider besseren Wissens zu wissen glaube, ich besäße ein sogenanntes fotografisches Gedächtnis, mache dann, cargo-culthaft snap mit dem Blick auf der Seitenzahl der mir wichtig erscheinenden Stelle und glaube dann wirklich, ich hätte die mitsamt des angeblichen Mentalschnappschusses wie zusammengeheftet in mein Gedächtnis ablegen lassen; obwohl ich genau weiß, dass nicht nur meines, dass kein Gehirn so organisiert ist! Woraufhin es dann in dem Moment, da ich das Zitat gerne zur Verfügung hätte – denn dass ich es irgendwo habe, dass ich es kenne, das behalte ich schon – eine unsägliche Sucherei losgeht; zuerst in meinem Gehirn, dann, wenn ich es endlich selbst vor mir selbst zugeben kann, dass ich es nicht finde, in dem fraglichen Buch. Dort dann, wieder liege ich dabei im Wettstreit mit mir selbst, kann es gut sein – das heißt, es war schon oft so – dass ich lieber dreimal das Kapitel V durchblättere (die mental abfotografierte Seitenzahl ist freilich verschlampt, beziehungsweise die Aufnahme ist damals nichts geworden und wurde, was ich mir verheimlichen konnte, stillschweigend weggeschmissen), als auf die Vernunft zu hören, die übrigens tatsächlich mit einer Stimme spricht: »Da steht es nicht. Das war woanders in dem Buch. Wo ganz anders. Noch nicht einmal in der Nähe. Vielleicht ganz hinten. Oder ganz vorn.« Diese Stimme, ganz klar stimmenhaft, spricht allerdings in einer nicht menschlichen Sprache. Es ist nicht so, dass ich tatsächlich deutsche Worte vernehme, die mich innehalten lassen und deren Diktat ich aufnehmen soll (wie Martin Walser). Dennoch äußert sich die Vernunft deutlich genug, dass ich sie ignorieren will. Wenn ich aber dann die gesuchte Stelle ganz wonders finde, schäme ich mich, beziehungsweise bin ich wütend. Vor mir selbst, beziehungsweise auf mich selbst in jedem Fall.

Gestern etwas fassungslos, wie wenig tatsächlich geblieben war von meiner Faszination in den letzten Wochen. Auf einigen der Titelseiten waren die Bilder, die sich Daniel an jedem Morgen hatte von mir erklären lassen, weil er die Unterzeilen nicht hatte lesen können. Der war nun längst zurück in seinem kleinen Haus in Los Angeles. Ich schnitt weder die verschleierte Ruth Leuwerick aus, noch die Indiander vor dem blauen Himmel. Daniel hatte ja besonders gut der chinesische Drache gefallen. Ich mag Drachen nicht. Überlebt hatte die Faszination für das Straßenbild in Mauve und Flieder aus, ich glaube, Valparaiso. Ich schneide die Erklärzeilen grundsätzlich weg (früher habe ich noch mit Bleistift den Zeitungsnamen und das Datum, phasenweise sogar das Ressort am Bildrand vermerkt), so ist es jetzt auch bloß noch eine märchenhafte Lichtstimmung, alles wirkt friedlich und wie fertig eingeleuchtet für einen langersehnten Filmkuss, dabei wurde die Aufnahme angeblich während (oder kurz nach) einer Naturkatastrophe gemacht. Die Seite über die Luisenbündlerinnen, überhaupt alle Seiten, über denen »Die Geisteswissenschaften« steht: Wie lange es die wohl noch geben wird?

Was soll I Cover The Waterfront überhaupt bedeuten? Ich stoße jetzt schon, wie mein fotografisches Gedächtnis beweisen kann, mein ganzes Leben lang immer mal wieder auf diesen stehenden Ausdruck. Erst gestern, als der Sohn eines Jazzmusikers auf Twitter Meldung machte, sein Vater sei im Kreis der Familie entschlafen »listening to Billie Holliday«. Danke fürs Mitteilen. Mir fiel da natürlich I Cover The Waterfront ein – Breit wie’n Hafen? Und wie ließe sich das ins Deutsche übertragen für eine Kolumne, geschrieben in, sagen wir: Berlin? Lang wie die Mauer? In den Armen der Mauer? Allumfassend wie die Mauer? Seltsam, dass mir zu Berlin noch immer nichts anderes einfällt als die Mauer. Wo es die Mauer doch schon längst nicht mehr gab, als ich damals hierher gezogen bin. Nina Simone hat I Cover The Waterfront nie aufgenommen. Verblüffenderweise! Wie ich dann feststellen musste, obwohl ich mir freilich todsicher war, dass. Es gibt schon einen guten Grund, weshalb ich beim russisch Roulette nie mitgemacht habe und Spielbanken generell meide. Das Stück von Nina Simone ist eine Coverversion von Alone Again, Naturally. Darin singt sie über den Tod ihres Vaters. Möglicherweise also deswegen. Falsche Stichwortsuche. Unklar abgelegt.

Und schwupps war’s wieder dunkel. In der Lindenstraße will ein als Frau gekleideter Mann im Flur mit seiner Freundin schlafen. Sie ist schon halb ausgezogen, er küsst gerade, vor ihr kniend ihr Nabeltattoo, wehrt sich aber dagegen, dass sie ihm die blonde Perücke abzieht. Daraufhin kommt es zum Streit, der Zuschauer erfährt, dass er sich schon seit längerem als Frau kleidet, von ihr zwar nicht, aber von den Nachbarn und von seinen Kollegen im Start-up als Frau angesprochen werden will. Und auch so behandelt, wie auch immer das sein mag. Seine Frau jedenfalls, sie sieht ganz konventionell aus, insbesondere aufgrund ihres Nabeltattoos, erklärt ihm, dass sie nur mit ihm schlafen kann, wenn er im Flur (oder im Bett) die blonde Langhaarperücke absetzt. Das ist jetzt also in demselben Sender (Das Erste, früher ARD) die genaue Umkehrung der Kir-Royal-Folge Adieu Claire, in der Mona, gespielt von Senta Berger, dem sogenannten marines look verfällt, und sich die tizianfarbenen Haare raspelkurz schneiden lässt. Woraufhin ihr Mann, der Baby heißt, gespielt von Franz Xaver Kroetz, seine Frau, die Mona, am Abend bitten muss, sich eine blonde Langhaarperücke aufzusetzen, damit er mit ihr schlafen kann.

Tjaja. Wie lange mag das jetzt her sein, wieviel Zeit ist vergangen – ich war da ja noch beinahe ein Kind.

8.1.

Seit dem letzten Update weiß das Betriebssystem des iPads präzise, was mit der Zeitangabe »Nachmittag« gemeint ist. Schreibt mir jemand, was manchmal vorkommt, ob man sich am Nachmittag auf einen Kaffee treffen wolle, schlägt das Programm mittlerweile vor, ein Ereignis am betreffenden Tag um 15 Uhr zu erstellen. Vielleicht auch nur bei mir, vielleicht beginnt auch nur bei mir der Nachmittag um 15 Uhr, weil das Programm alle meine früheren in die Cloud geladenen Kalender auswertet, und ich Verabredungsanfragen, die gemütlich auf Nachmittag hinausliefen, tendenziell mit 15 Uhr bestätigt habe. Und fortan verstärkt noch tun werde, obwohl ich vom Gefühl und von meiner Erziehung her den Nachmittag, wenn schon, um 16 Uhr ansiedele auf dem inneren Ziffernblatt. Gut möglich, dass ich mich in naher Zukunft präzise auf 15 Uhr verabredet fühlen werde, während ich noch immer unbestimmt Nachmittag sage. Dass sich eine scheinbar vage Zeitangabe* mit einem schnöden Zahlenwert füllt.

Es war also kurz nach Nachmittag gestern, da fing es an zu schneien. Und dieses Mal, dem ersten in diesem Jahr, schneite es so, wie es musste: leicht, wie beinahe schwerelos, wiegten sich die Flocken, die groß waren, zu Boden, wo andere bereits lagen, und blieben dort liegen. Ich war kurz vor Nachmittag noch im Städtchen gewesen, zu Fuß, da komme ich sozusagen automatisch durch den kleinen Park am Ufer des Sees an ein paar flachen Stufen aus Stein vorbei, die bis unter die Wasseroberfläche führen. Ich weiß nicht, wozu diese Stufen einst gedient haben mögen. Es gibt diese gartenarchitektonische Laune ja nicht nur am Wannsee, ich war schon an vielen Seen, wo eine Stelle am Ufer treppenhaft abwärts bis an oder sogar unter die Wasseroberfläche führt. Die Vögel sammeln sich dort, sogar die Krähen und Tauben, weil ab und an eine Greisin kommt oder ein Greis, der sie mit Toastbrot füttert. Auf der dem anlappenden Wasser nächstgelegenen, einer mit dem eiskalten Wasser überfluteten Stufe standen dort gestern die Enten. Sie saßen nicht. Offenbar sind die Schwimmfüße noch unempfindlicher gegen den Frost als ihr zusätzlich mit Daunen gepolstertes Unterbauchkleid. Ich habe an der Canal Street mal Entenfüße abgenagt, kann mich aber nicht erinnern, dass der Genuss irgendwie bemerkenswert gewesen war. Neulich auf der Kaiserstraße gab es im Schaufenster des Hot-Pot-Restaurants auch ein kleines Glasgefäß, ähnlich einem Aquarium, voll mit Entenfüßen zum In-die-Suppe-bestellen und dann wieder zum Herausholen und Abnagen. (Kulinarische Archäologie! Neulich las ich bei Ernst Jünger in den Tagebüchern aus den Siebzigerjahren: Da ist er zum Insektenfangen in Brasilien und seiner Frau und ihm wird kurz vor Nachmittag eine Mango serviert. Die damals anscheinend noch komplett unbekannt war in Europa. Noch nicht einmal Ernst Jünger, der Vielgereiste kennt die Frucht; lobt aber den Geschmack der »Mangopflaume«, wie er sie in seinem Eintrag nennt.)

An der Kirche der Baptisten hängt seit dem Herbst schon ein Plakat, das die Ausgabe einer warmen Mahlzeit verkündet: »Jeden Dienstag, von 12 bis 15 Uhr«. Ich musste gleich wieder an den Obdachlosen vor dem Peter-Behrens-Haus denken und an den am Savignyplatz und an den vor dem Bahnhof hier und an die vielen am Bahnhof Zoo. Noch schlimmer als kalt und kein Geld, keine Wohnung ist die Einsamkeit vor aller Augen. Klar, ich habe auch mal Rayuela gelesen und Die Liebenden von Pont Neuf gesehen, aber dass ein Mensch, für den sich die Frage »zu mir« praktisch nicht stellt und der, praktisch gesagt: sich nur selten waschen oder auch nur umziehen kann; der maximal ungesund und unhygienisch lebt, einen anderen Menschen findet, oder von dem gefunden wird: das wäre dann ein Wunder.

Also keine Liebe. Und auch kein Geld, um jemanden zu bezahlen, der andauernd an einen denkt, wie das sonst ganz normal ist, natürlich und selbstverständlich, wenn man geliebt wird. Dem, der ohne Obdach leben muss, ist nichts inbegriffen**. Er schläft ziellos und unbegleitet, er wacht alleine auf. Am See gibt es eine Stufe, die ist komplett von einer Schicht Eis überzogen. Da die untere am Wasser von den Enten besetzt wird, schlidderten auf der Eisfläche die Tauben hin und her. Auf der nächsthöheren wachen die Krähen, die doppelt so groß sind wie die Tauben, allein ihr Schnabel ist gigantisch im Vergleich zum zierlichen Pickinstrument einer Taube. Blässhühner wechseln hüpfend zwischen Entenetage und Krähenpodest. Sie haben die größten Füße von allen hier. Die überfrorene Stufe überspringen sie mit Bedacht.

* Was die Kulturgeschichte zum Thema Nachmittag hergibt, siehe den betreffenden Eintrag in der Wikipedia, der bereits ein paar Anreize bereithält: Stephane Mallarmé, Claude Debussy, Billy Wilder und Éric Rohmer und in Folge derer vor allem Marianne Faithfull (<3), sowie, in Japan, der Kosmos des 夕方.

** In einer der Broschüren aus der hervorragenden Edition des Hauses der Berliner Festspiele gab es die Protokolle eines künstlerischen Arbeit, den Namen des Künstlers habe ich leider vergessen: Er hatte eine Telefonzelle aufgestellt, von der aus jeder umsonst telefonieren konnte, wenn er sich damit einverstanden erklärt hatte, dass der Künstler die Gespräche anonymisiert protokollieren würde. Das Angebot wurde auch von Obdachlosen genutzt, die häufig kein Mobiltelefon besitzen. Ich kann mich beinahe wörtlich an ein Gespräch erinnern, da ruft einer nach Jahren seine Mutter an. Es ist fürchterlich.

7.1.

Wenn es dazu nicht so kalt werden müsste: Von den Lichtstimmungen her ist die Winterluft die zweitschönste nach dem Sommerdunst; beide hierbei in der Stunde vor dem Sonnenuntergang, die gestern kein bisschen die Blaue war, sondern klar und hell bis zuletzt. Dass dieser ganze Zauber allein durch die sich langsamer bewegenden Moleküle hervorgerufen wird, ist schwer einzusehen. Selbst der siffigste Feldwegrand macht nun einen ordentlichen Eindruck. Gefroren schaut offenbar alles manierlich aus, selbst Schlamm. Selber stillstehen kann ich nicht, muss mich andauernd bewegen. Inklusive hin- und hergehen, auf der Stelle auf und ab hüpfen et cetera. Geniale Erfindung: Handschuhe. Ich tippe, dass die nach denen für die Füße erfunden worden sind. Sozusagen von den Fußschuhen abgeschaut. Gar nicht einmal ihres Namens wegen. Auf Englisch heißen sie ja unverdächtig eigenständig. Aber andersherum ist die Erfindungsübernahme halt auch allein von der Körperhaltung her doch schwer vorstellbar. Beziehungsweise: Was bedeutete das für das Menschenbild?

Am Savignyplatz kam die Bahn bis zum Westkreuz vier Minuten vor einer, die mich direkt bis nach Hause brächte. Nahm ich erst die bis zum Westkreuz, stieg dort wieder aus und wartete noch immer vier Minuten auf die besagte, wie ich auch am Savignyplatz hätte auf sie warten müssen. Eine Problemverlagerung, wie sie ganz typisch für mich ist. Allerdings war ich kurz, immerhin zwei Haltestellen lang, in einem warmen Zug mitgefahren. Als ich dann in meine endgültig zielführende Bahn einsteigen konnte, fiel es mir zunächst nicht auf; allerdings ging mir das Blättern ungewohnt schwerfällig von der Hand. Dabei hatte ich kurz nur nachschauen wollen, warum Fran Lebowitz womöglich bei der sechsten Folge ihrer Kolumne I Cover The Waterfront das The im Logo des Kolumnenkopfes, bei dem die Buchstaben aus lauter Schattenrissen von den Hochhäusern einer Skyline gezeichnet war, in denen hier und da noch Licht an war (megahübsche Idee!!!), gestrichen und handschriftlich (mit Filzstift, einem sog. Sharpie vermutlich) daraus ein La gemacht hatte, sodass die sechste Kolumne in ihrer noch jungen Serie für Interview I Cover La Waterfront hieß (und in der achten war es dann ein El, also I Cover El Waterfront).

Zuerst fiel mir ein, dass ich meine Fäustlinge anbehalten hatte (ungünstig fürs Blättern), dann, warum (ich die anbehalten hatte): offenbar instinktiv, denn in dem Waggon war es tierisch kalt. Und dementsprechend still. Alle hielten die Luft, so gut es ging, an, weil selbst die ja wärmt von innen. Niemand sprach. Keiner wollte sich die Kälte in Form des Atemhauches vor dem eigenen Gesicht vergegenwärtigen, sonst bräche die kollektive Kältepanik aus. Erst beim Aussteigen sah ich die blauen Zettel in Din A4, die auf den Glasscheiben der automatischen Türen pappten: »Wagen nicht geheizt«. In schwarz auf blau, ich muss doch sehr bitten! Warnhinweise zur Ergreifung der Täter werden doch ansonsten auch nicht in diesen dezenten Farben gehängt. Die Strafgebühren fürs Schwarzfahren von der Farbstellung der Aufkleber her geradezu posaunt. Aber nun gut. Immerhin waren die Hinweiszettel bewusst schräg ins lange Viereck der Fenster geklebt worden, um Aufsehen erregen zu können. Wie jede Putzfrau ja auch immer sämtliche Gegenstände und Möbel diagonal in den Raum dreht, sie hinstellenderweise, ganz gleich wie sie vorher aufgestellt waren, bloß um zu beweisen, dass sie dagewesen ist.

Ein Gutes hatte der Kühltransport: als ich ausgestiegen war, fror ich einfach weiter, anstelle von neuem und schon wieder. Einmal war ich in Sibirien gewesen, weil ich Frank Schirrmacher überzeugt hatte, dass es eine gute Geschichte werden könnte, wenn ich mich zwei Wochen lang der magnetischen Strahlung eines der letzten Magneterzgebirge der Welt aussetzen würde. Und eben dort, in Magnitogorsk war es im November freilich auch tierisch kalt. Also noch tierischer, aber man merkte das nicht. Kalt ist irgendwann, also nach unten hin auf einer Skala gemessen, bloß noch kalt. Es gibt da keinen fühlbaren Unterschied mehr zwischen Minus zehn und Minus dreißig. Jedenfalls konnte ich keinen feststellen. Vielleicht war ich aber auch abgestumpft. Na ja, jedenfalls gab es dort Menschen, also Sibiriaken, Marktfrauen, die standen bei Minus dreißig Grad ohne Schuhe im Schnee herum, um drei Rote Bete zu verkaufen, die sie auf einer Radkappe angeordnet hatten. Ganz barfuß waren sie nicht, ihre Füße, nackt, steckten in Schläuchen aus Filz, die aber vorne offen waren, sodass man, also ich in dem Fall, die nackten Zehen der Marktfrauen sehen konnte. Eventuell eine Art Hybrid aus fingerlosem Handschuh (in den Achtzigern bei Saxophonisten beliebt, heute trägt sie nur noch Karl Lagerfeld) und Sandale. Aber ich will nicht zynisch sein: die Sibiriaken von Magnitogorsk waren schlicht arm. In der Straßenbahn saß man auf einem Blecheimer als Sitz, der war nach oben hin, also zur nichtexistenten Sitzfläche offen, darunter, also darin lagen glühende Kohlen. Die Straßenbahn fuhr sehr langsam. Aber so, nur so kam man zum Stahlwerk, das am Fuße des schon beinahe abgetragenen Magnetberges lag.

Ich war jedenfalls froh, als ich wieder zuhause war.

Der See friert zu. Im kleinen Hafenbecken wächst zungenförmig das Eis bis hinüber zum Steg. Es geschieht von den Rändern her. Am Ufer fängt es also an. 

6.1.

Heilige Drei Könige. Wunderschöner Sonnenaufgang: am Horizont die klaren Farben. Der See nicht zugefroren. Er lebt noch, so to say. Die Wellen spielen (ein graues Spiel). Als ich gestern in der Dunkelheit nach einem langen Tag der Lektüre uralter Interviews nach Hause kam, da schien die Heizung schon seit Stunden ausgefallen. Hilfe war unterwegs. Ich fand es drinnen trotzdem sehr beruhigend und gemütlich – allein schon meiner Türen wegen, die ich schließen konnte, um Räume nur für mich zu erzeugen. Nach stundenlangem Aufenthalt in einem Büro, wo zu jeder Zeit jemand anderes hereinkommen kann, oder manchmal auch nur plötzlich etwas sagt, oder zu telefonieren beginnt, seine Stimme laut werden lässt, ist das, sind die privaten Räume etwas, gehe ich in ihnen raumgreifend umher, weil ich sie leider nicht umschließen kann, obwohl ichs vom Gefühl her gerne würde aus lauter Dankbarkeit, dass es sie, die lieben Räume für mich gibt.

Am Morgen war ich am Savignyplatz die Treppe auf der hinteren Seite des Bahnsteiges hinuntergegangen. Dort lag zwischen Treppenabsatz und halb eingeklapptem Stahltor eine Gestalt. Komplett eingehüllt in einen sogenannten Mumienschlafsack aus rotem Kunststoff, der wie neu aussah und noch ganz sauber. Daneben ein Buch: ein dicker Krimi, Strandlektüre mit Metallic-Cover, John Mc Irgendwas, das neben dem Kopf der Mumie auf den schmutzigen Fliesen des Fußbodens lag. Ich nahm das zur Kenntnis, weil alles am Obdachlosen kaputt, geflickt, gebraucht, zerfleddert auszusehen hat, sonst stimmt etwas nicht mit seinem Bild und es ist am Ende nicht einmal ein Obdachloser. Ich müsste mich sofort um diese Person in dem Mumienschlafsack kümmern, die hier bei minus fünf Grad einen Selbstversuch im Extremcamping am Savignyplatz durchzuziehen droht. Oder ausgesetzt wurde, von ihrem Ex-Partner, von der eigenen Familie. Also mindestens 110 anrufen. Vielleicht sogar psychiatrische Hilfe, Notaufnahme am Morgen.

So aber: Nicht einmal angetippt worden, ist die oder der Schlafende, möglicherweise auch bereits Tote, die oder der von mir, oder einem der vor mir die Station am Savignyplatz verlassenden Leute. Wir, die wir Arbeit haben und eine Wohnung mit Räumen, in denen wir machen können, was wir wollen, ohne dass uns jemand anstupst und fragt, ob wir noch leben.

Gegenüber des Zoologischen Gartens auf dem Weg zur Schleuse gibt es eine lange Mauer, auf der die Gleise geführt werden. Sie bietet Schutz vor Wind, außerdem hat man vermutlich gerne etwas Festes im Rücken, wenn man schon unter freiem Himmel wohnen muß; also ich hätte das gern. Dort wohnen schon, seit ich denken kann, Männer das ganze Jahr über. Sie schlafen und liegen und essen dort Seite an Seite. Ob immer friedlich, weiß ich nicht. Ich habe da noch nie Halt gemacht, bin oft mit dem Fahrrad vorbeigefahren auf dem Weg durch den Tiergarten. Seit einigen Jahren nimmt dort in dieser Population an den Gleisen der Anteil von Frauen zu. Und zwar beträchtlich. Überhaupt nimmt die Zahl obdachloser Frauen in Berlin zumindest, woanders in Deutschland kann ich es nicht gut beurteilen, zu.

Obdachlose Frauen.

Dann lange nichts.

An dem Haus, in dem ich zur Zeit arbeite, um mir meine Wohnung leisten zu können, klebt eine dieser Gedenktafeln von KPM, die an Berliner Persönlichkeiten erinnern. So eine, wie sie in der Hauptstraße 155 seit vergangenem Jahr an David Bowie erinnert. In der Mommsenstraße 57 erinnert sie an Günter Neumann, »ein Mann, dem Berlin viel verdankt«. Er gilt als Urheber des Liedes Der Insulaner verliert die Ruhe nicht. Na gut. Entstanden halt zu einer Zeit, an die auch der Savignyplatz erinnert: Savignyplatz/Erkennen Sie/Die Melodie? Ein ganzer Platz im Walzerglück.

Im Frühjahr letzten Jahres verschwand wie von einem Tag auf den anderen der Mann, der vor dem leerstehenden Gebäude von Peter Behrens am Kleistpark gelebt hatte. Im überdachten Eingangsbereich, hinter einem hüfthohen Schutzwall aus prall gefüllten Müllsäcken und vielen, vielen aufeinandergestapelten leeren Erdnussdosen. Damals schrieb ich, dass ich annehmen wollte, er habe sich in einer karmischen Wandlung verflüchtigt mitsamt seinen Dosen und Tüten. Kurz vor dem Einbruch des Winters, als im Park nebenan die letzten Blätter weggeblasen waren, saß er wieder da. Und täglich wuchs die Anzahl seiner Tüten. Nur das mit den Dosen fängt später im Jahr erst an, wie es scheint. Oder es handelte sich um ein jahresbezogenes Ding für 2016.

5.1.

Seltsam, dass es ausgerechnet Giuseppe Arcimboldo ist; kein Künstler sonst, dessen Werke ich derart abstoßend finde. Als ich die Zeitung holte, gestern, erschrak ich regelrecht, als ich sie über die Mitte zusammengefaltet auf den Kiosktresen legte, um sie zu bezahlen: da erst sah ich auf das Bild unter dem vertrauten Schriftzug aus Frakturbuchstaben. Ich weiß bis heute nicht, um was es in den Zeilen unter dem aus Gemüse geformten Gesicht ging, weil ich die gesamte obere Hälfte der Titelseite auslassen musste, um den Arcimboldo nicht mehr mit Blicken streifen zu müssen. Es ist tatsächlich Ekel, den ich empfinde, wenn Arcimboldo malt. Und das war, so lange schon hatte ich keinen mehr zu Gesicht bekommen, dass mir das gestern unweigerlich klar wurde: schon immer so gewesen; jedenfalls, so lange ich mich erinnern kann. Die erste Begegnung mit einem Gemüsegesicht war demnach im Kunstunterricht. Man sollte die nach herrschender Ansicht meisterlich komponierten Gemälde des Italieners mit Kasein-Tempera auf grundierten Holzplatten nachempfinden. Ich brachte leider nichts zustande, denn ich fand die Vorbilder einfach nur fürchterlich. Allein die Augen: Wenn ein so einer anguckte, mit seinem Weintraubenblick hinter den Wülsten aus pickligen Cornichons, die ihm die Lider wären. Das schleifende Geräusch seines Atmens ganz hinauf durch das engporig schwammartige Fruchtfleisch einer Aubergine. Dass es ihm ein Leben lang schon auf den Lippen brennt, weil die in seinem Fall aus Peperoncini sind. (Und wie wächsern sich das anfühlen müsste, auf solchen zu küssen; gleich nun, ob als Normalfrau, oder als eine aus Arcimboldos grünem Labor, weil die dann ja, im Zweifel unter ihrer Bluse zwei Köpfe Romanesco herzuzeigen hätte, und ihre Lippen wären dann vielleicht gerade noch die ideale Ergänzung zu den seinen, weil sie kühlend wirken könnten, auf seinen ewig brennenden Kuss – aus Minzblättern? Ist processed food wie Joghurt erlaubt?)

Beim Mittagessen mit Götz Offergeld konnte ich mich manchmal nur schwer konzentrieren, weil ich nebenher noch damit beschäftigt war, die Gedanken an Arcimboldos Gemüsegesichter abzuwehren. Besonders das eine, vorwiegend aus Tomaten und anderen roten Früchten zusammengesetzte, wo die Zähne aus Kirschen sind: Wenn der erst zubeißt, dass die Kerne splittern – Gänsehaut der unguten Art, als ob ich auf dem Stiel eines Stieleises herumkauen müsste!

Dabei saßen wir im Café Einstein Unter den Linden, das, seit Stefan Landwehr und Boris Radczun (Google ergänzt automatisch zu »Boris Radczun Nachname«) es beinahe stillschweigend übernommen haben, zum neuen Treffpunkt für mittägliche Besprechungen geworden ist. Man sitzt dort halt wie in Paris im Café de Flore. Preise dementsprechend. Essen aber mindestens genauso gut. Also ziemlich gut! Besonders die Ente. Götz trank Bier. Das, also Bier zum Mittagessen und überhaupt, das Sich-im-Einstein-Unter-den-Linden-verabreden, gehört bekanntlich zu seinem politischen Programm, denn wie er uns allen mit einer SMS am 24. Dezember mitgeteilt hatte, will er jetzt Bürgermeister werden. Hendrik Lakeberg, der Wasser trank, beurteilt die Chancen einer Kandidatur seines Verlegers als gut. Ansonsten kam von ihm nicht mehr viel, wohl weil er in Gedanken schon an dem Essay schrieb, den er uns zu Anfang des Gespräches vorgeschlagen hatte. Thema: Der weiße Mann ist am Ende. 60 Jahre nach Norman Mailers The White Negro. So ungefähr.

Zwischendurch machte ich Offergeld den Vorschlag, eine im Fahrwasser von Beef und Wolf positionierte Zeitschrift herauszubringen mit dem Titel Pils. Die Zeitschrift für den Mann, der gern in Kneipen geht. Mit so Themen wie: »Kleiner Feigling Ja oder Nein – eine Frage der Haltung«, »Futschie deluxe – aus Bio-Cola und mit Rum aus Martinique«, »Hotspot Düsseldorf: An der längsten Theke der Welt«.

Der Privatmann Offergeld fand das lustig und vielversprechend. Der Geschäftsmann eher so medium.

Danach planten wir das Frauenheft. Das es ja schon gab am Markt, und dessen Themen sich von daher tendenziell mühseliger finden ließen. Vor allem: wie nur die Charybdis des Feminismus umschiffen wieder einmal? Lakeberg zeigte auf dem Display seines Telefons die aktuelle Titelseite der Glamour aus den USA herum: die sogenannte Lena Dunham zeigte dort im Kreise von Freundinnen und Kolleginnen ihre nackten Oberschenkel vor, mit Grübchen ihrer Orangenhaut besetzt, so tief diese auch unter anderem, das man Erbsen drin verstecken konnte, ohne diese jemals wiederzufinden – schon war ich wieder in meiner Angstwelt gefangen. Mit lustigen Gesprächen hatte ich es also lediglich geschafft Arcimboldo für einige Zeit zurückzudrängen. Aber er war noch immer präsent.

Erst als wir nach vier Stunden alles, wirklich alles besprochen hatten, und es schlicht keinen Grund mehr gab, nicht nach Hause zu gehen, gingen wir nach Hause. Ein jeder zu sich.

Müde. Eventuell ein Anflug von Lust auf Protestschlaf. Es war ja auch schon wieder dunkel. Und ich noch immer auf Frankfurter Zeit, wo die Sonne ja, gefühlt, einige Stunden später unterzugehen pflegte. Außerdem kalt. In der Post ein Buch mit Besonderen Liebesbriefen aus der Zeit. Einer von mir. Außergewöhnlich hübsch gestalteter Umschlag. Lauter grüne Herzen. Eines in Rot. Mit Prägung sogar: Arche. Wie passend. Wie schön.

4.1.

Im Himmel hing ganz tief ein Flugzeug, wie an den Wolken festgefroren. Ganz vorn in meiner Reihe hing ein Freak über seinem Textblatt und flüsterte die Lyrics eines mitreißenden Songs, den aber nur er über seine schallisolierten Headphones zu hören bekam. Nervte ein bisschen, war aber okay, weil er, der Freak also, dieses Seinen-Song-üben-müssen vor Antritt der Fahrt ganz artig den Umsitzenden angekündigt hatte. So dann auch mir. Und außerdem saßen wir alle zusammen nicht in einem Ruheabteil, bei dem, so eines hatte ich für die Hinfahrt irrtümlich reserviert gehabt, über den Fenstern ein Fries aufgeklebt ist aus Piktogrammköpfen, die im Profil ausgeschnitten ermahnend die Psst-Geste zeigen. Also durfte der Freak schon vom Prinzip unseres Abteilwagens her leise Geräusche machen. Sogar lautere noch als ein herkömmliches Psst. Wobei sich wahrscheinlich keiner von uns bei der Zusage richtig hatte vorstellen können, wie das dann werden würde mit ihm, dem mitten unter uns im Flüsterton performenden Freak.

Aber hätte man auf eine Probe seines Probierens bestehen dürfen? Seltsam, dass man sich dann mit verquältem Gemüt auf die gemachte Zusage besinnt, und sich unterschwellig den Kontrolleur herbeiwünscht. Dass der dann und final das Proben im Flüsterton untersagt, während er dem Freak das ausgedruckte Onlineticket zwickt – mit seiner Zange noch aus alten Dampfrosstagen. Ihn eventuell, diese Hoffnung schwang bei mir zumindest seidenleicht dahinter fühlbar mit: mit einem oldschool, bundesbahnschaffnerhaft erhobenen Zeigefinger darauf hinweisen könnte, dass »ein ICE kein Probenkeller ist«. Oder ähnliches dergleichen.

Wer Kinder dabei hat, die noch lauter schreien, als der Freak flüstern kann, den lässt das alles kalt. Freilich klingt ein Buchvorlesen aus rätselhaftem Grund auch labsalhafter in meinen Ohren als die im Bühnenflüstern vorgetragenen Refrainzeilen des Freaks, bei dessen Combo, Gruppe, Truppe, Band oder Formation es sich, so war ich mir nach einigen Probedurchläufen seines Songs, der mittlerweile auch schon halb zu unserem geworden war, zu meinem zumindest, so sicher wie das Amen in der Kirche: um eine Rage-Against-The-Machine- oder Marc-Ribot-hafte Formzertrümmerungsinstanz handelte, deren von ihr just selbst zertrümmerte Formrestbrocken umgehend und von ihm, dem Freak vermittels des Refraingesangs zu diesem bombensicheren Ungetüm von einem Monsterlied zusammengeleimt würden, von dessen Konturen ich zumindest während seiner Probe eine konkrete Vorstellung hatte gewinnen können. Das Bilderbuch, das dem unsichtbaren Kinde vorgelesen wurde, blieb mir hingegen schleierhaft.

 »Die sind so arm, dass sie sich nicht einmal Schuhe kaufen können«, erklärte die Großmutter.
Das Kind, empört: »Die sind doch noch klein!«
»Ja, aber die Eltern sind arm. Deshalb haben die Kinder auch kein Geld mehr.«
Dann, rasch ging es zurück aufs klassische Kinderbuchterrain: »Das ist gar kein Vogel, das ist der Fuß von der Hexe!«

Vor dem Fenster hatte sich das malerisch, weil in eine nicht zu hohe, nicht zu flache Hügelkette hinein entstandene Eisenach herausgeputzt, um von mir wahrgenommen zu werden. Ich sah es nämlich zum ersten Mal. Gerade heute, da alles hinter Frankfurt von einer dünnen Schneeschicht bedeckt war, sah Eisenach sehr hübsch aus und auf mich wirkte es dort auch lebenswert. Rasch spielte ich die Jahreszeiten durch, dann fuhr der ICE schon wieder weiter. Erfurt kannte ich schon, hatte mich aber trotzdem darauf gefreut, weil: bloß angenehme Erinnerungen. Auch weil Erik hier so glücklich war und ist. Nach den Heiligen Drei Königen würde ich mich bei Boris Lochthofen melden müssen, um die Sache mit dem Relaunch von Thüringen voranzutreiben. Wahljahr 2017 – wann, wenn nicht jetzt! (»Herrliches Eisenach«/»Märchenhaches Eisenhaft«/»Eisenhaft, hier werden Märchen mit Köpfchen gemacht«—s-trike!)

Nach seinem Schläfchen brach der Mann im gelben Unterhemd, der in der Zeit vor seinem Schlaf noch Freak gewesen war, in Richtung Zugspitze auf, wo er sich offensichtlich einen Wagen weiter, im kleinen Laden des Bordbistrots, dort zwei ganze Plastiktüten hatte vollmachen lassen mit Snacks, von deren Wohlgeschmack und Knusprigkeit er, zumindest klang es jetzt für uns danach, schon in Gedanken schwelgte. Denn beim Vorübergehen mit seinen Tüten machte er mit dem Mund Geräusche wie bei einer Weinprobe, aber halt ohne Wein.

Delitzsch: Der extrem weite (flach sind sie ja alle!) See und ringsum Ödnis war noch nicht einmal ein schwacher Trost für mich, der ich heute um die Kinzigtalsperre geprellt mich finden musste. Dafür reiste ich in einem sogenannten Sprinter schräg durch den Osten hinauf nach Berlin. Nun ja, die alte Route war mir auch lieb. Wenn nicht lieber – immerhin hatte es um Fulda herum noch etwas Schnee gegeben zum Angucken. Jetzt war der weg. Und aus der flach und immer nur noch flacheren, von Pfützen durchsiebten Einöde entstand bald, allzu bald schon The Empire of Siff, Berlin. Aus nackten Bäumen, triefend noch von schwarzem Lack, dahinter Dächer in den Farben unabgeschrubbter Möhren. Noch sah man die Menschen nicht.

Ich kenne gar nicht einmal so wenige Menschen, die hier leben und die sich, wenn sie zutraulich geworden, mir gegenüber mit dem mehr oder weniger gleichlautenden Problem offenbaren: sie können sich hier in Berlin schlecht bis gar nicht konzentrieren. Sind im Grunde nicht arbeitsfähig, beziehungsweise kriegen nur das Nötigste hin. Der Rest ihrer Energie geht fürs Energiesammeln beziehungsweise Regenerieren flöten. Sie, denn zur beinahe unisono klingenden Klage gehört ein gleichwohl oder übel geäußerter Verdacht: Glauben, dass es an den Menschen hier liegt. Das Problem vieler Menschen hier in Berlin wären demnach viele Menschen hier in Berlin. Unlösbar also. Von daher Punkt Punkt Punkt. Gut für die Reiseindustrie. Vermutlich ist deswegen der nichtfertigwerdenwollende Flughafen. Unter anderem. Zeichenhaft! Oder halt auch gerade nicht.

Ganz dunkel ist es erst dort wieder, wo ich aussteigen darf. Dunkel und schwarz, weil hier alles glitschig ist vom kalten Regen, aber deshalb halt auch null Schnee. Dafür ein Wind wie ausgedacht. Gibt es aber nur wenige auf der Erde: Freunde des Windes. Windgourmets, die beispielsweise auf Ferien in Chicago sparen. Der Wetterfrosch im Fernsehen fährt aber genießerisch mit beiden Händen an den langen roten Linien seiner Europakarte rauf und runter, und weist anhand dieser Klimaschründe auf die in den nächsten Tagen drohenden Stürme hin. Man hört es schon. Die ehrwürdigen Mauern des Gemäuers ächzen wie im Hörspiel. Auf dem Weg zum Supermarkt fällt mir Regen ins Gesicht und ich stelle fest, dass es nichts bringt, rechts abzubiegen in den kleinen Park, weil es dort ebenfalls regnet.

Dafür gibt es bei Kaiser’s heute Glückskekse geschenkt, weil von der Silvesteraktion noch ein halber Karton übrig ist.

Auf meinem Papierstreifen steht: »Ein Tag ohne Dich ist wie ein Glückskeks ohne Zettel«. Wenn mein Leben ein Roman wäre, würde ich den Satz – was schade gewesen wäre.

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