»The Life Naija«

»The Life
Ghanatic«
Tagebuch

12.11.

Am Abend muss ich nach Ouaga: Irgendwo stand, dass in der großen Kathedrale jeden Morgen um 5.45 Uhr eine Messe stattfindet; die will ich mir anschauen. In die kleinen Vereinsheim-Kirchen in Ghana habe ich mich bislang nicht getraut, aber in einer Kathedrale, denke ich, falle ich ein bisschen weniger auf. Außerdem zeigt sich der oberste Mossi-Häuptling Burkinas einmal wöchentlich um 8 Uhr morgens vor seinem Palast und vollführt eine Zeremonie, bei der man zuschauen darf. Am Abend dann wird im Nationalmuseum eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst eröffnet – praktisch ein Pflichttermin.

Issa hat auch irgendetwas zu erledigen und so steigen wir zusammen aufs Moped in Richtung Stadt. Die Sonne tut, was sie am schönsten kann: Statt heiß zu brennen, taucht sie alles in dieses Licht, das es nur hier gibt. Wir nennen es die blaue Stunde, dabei ist sie das ganze Gegenteil. 

Als wir die schnurgerade Straße entlangfahren, die der Reiseführer als die beste des Landes würdigt (»Sogar mit weißen Streifen!«), frage ich Issa, ob er hier wirklich nichts mag, nichts schön findet. 

»Was ist mit dem Taxifahrer, wegen dem Jeannette neulich zu spät kam, weil der auf dem Weg zu ihrem Ziel noch seine vier Kinder von der Schule abholen wollte.«

»Was ist mit dem Mädchen auf dem Moped, das mit den Zöpfen, wie sie Beyoncé im Formation-Video trägt, und dem Bayern-München-Trikot mit der Nummer 10, wie Arjen Robben, dazu der Mundschutz, der aussieht wie eine Schlafmaske.«

»Was ist mit dem alten Mann neulich in der Bank, der einen Tweedanzug trug bei 37 Grad, der an manchen Stellen zu kurz war und an anderen zu weit, aber der einen Tweedanzug trug, weil man Bankgeschäfte nun mal nicht im T-Shirt tätigt.«

»Was mit der Melonenverkäuferin am Straßenrand mit den sorgfältig manikürten Fingern mit dem bunten Blütenmuster darauf, für das sie sicher ziemlich viele Melonen verkaufen muss, aber die sie sich eben doch machen lässt.«

»Was ist mit der Bar, die La Consolatrice heißt, die Tröstende, und vor der vor die Barleute am Abend ihre Tischchen aufstellen und jeweils zwei Plastikstühle, beide so ausgerichtet, dass man zur Straße hinschauen und das Schauspiel dort beobachten kann, genau wie in Paris. Und daneben halten zwei, drei Reihen Männer auf Teppichen still und in einer perfekt synchronen Bewegung ihr Freitagsgebet ab, auf die Knie, den Kopf auf den Boden, aufstehen, dann wieder von vorn. Und dann trinken da also manche und andere beten und keinen stört es, weil es schließlich heißt: Burkina - La Tolérance. L’Unité. La Paix

»Was ist mit dem Herrenfriseur, der Obamacare heißt und mit einem lachenden Obama wirbt – hast du jemals einen genialeren Friseurnamen gehört? Komm, den musst du mir zugestehen!«

Er schüttelt den Kopf, schüttelt den Kopf, schüttelt den Kopf. Und sagt: 

»Die Landschaft hier draußen. Die finde ich schön.« Ich schaue mich um und sehe nur Büsche mit harten grünen Blättern, vertrocknetes Gras, rote Erde, Steine. Ab und zu eine versprengte Herde magerer Zebus mit ihren leeren Wasserhöckern auf den Rücken und ihren großen Hörnern. Jemand hat mir erzählt, dass die Rinder aus Mali stammen und nach Süden durch Burkina getrieben werden, mit dem Ziel Ghana, weil es da Tierärzte gibt. Oder sie landen auf dem Rindermarkt in Ouaga, wo sie für 400.000 Francs das Stück verkauft werden, als Festessen für Geburten und Beerdigungen. 

Der letzte Abschnitt der Strecke in die Innenstadt besteht aus einer noch unbefestigten Strasse. Ein breiter Streifen aus festgetrampelter roter Erde, über die sich Trucks, Mopeds und Fahrräder quälen, wenn man Glück hat, fährt man hinter dem mutmaßlich von der Stadt abgestellten Transporter mit dem Wassertank her, aus dem es beständig rinnt und der den Staub ein wenig festhält, solange bis das Ganze wieder trocken ist. Ich muss an die Szene in Blade Runner 2049 denken, in der Ryan Gosling durch diese flammend leuchtende Mondlandschaft geht, nur ist sie hier voller Menschen und Plastikrauchschwaden. Als wir nach einer Stunde am Ziel angekommen sind, ist es dunkel, Issas Afro rot und ich sehe aus, als hätte ich mir eine Packung Terrakottapuder ins Gesicht geschmiert.

Am nächsten Nachmittag fahren wir zurück ins Dorf. Auf dem Weg aus der Stadt flattern auf einmal Zettel am Ampelmast: »Wählen Sie das Geschlecht ihres Kindes! Rufen Sie diese Nummer an!«. Was, wie? Warum will ich gar nicht mehr wissen. An der nächsten Ampel sitzt ein junger Typ auf dem Boden, mit einem Fuß wie der Deformierte aus The Elephant Man. Das ist sein Job: da sitzen. Dafür wird er bezahlt, wenn er Glück hat. Auf einmal meine ich zu verstehen, was der Issa gesagt hat. Die Landschaft ist unschuldig, sie tut nichts weiter. Oder lässt irgendetwas sein.  

Das Operndorf empfängt uns mit Stille. Als ich uns etwas zu Trinken machen will, kommt Abdoulaye leise quakend die Treppe hinauf, drei Eier in der Hand. Gleichzeitig ruft Issa von unten und deutet mir, den Eierkarton noch in der Hand, mit Gesten an, dass Abdoulaye heute noch nichts gegessen hat und ich ihm bitte ein Omelette machen solle. Ich kann kein Omelette, aber Rührei mit Tomate und Gurke. »Ich habe dir ein deutsches Omelette gemacht«, sage ich, als ich Abdoulaye den Teller bringe, »dazu trinkt man am besten Bier. Voilà.« Er lächelt ein bisschen. Als ich wieder in der Küche stehe und aufräume, muss ich heulen. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist das alles hier doch in mich hineingekrochen.

9.11.

Ich liebe ja Routinen – also die schönen. Jeannettes und meine ist es, jeden Morgen gemeinsam in die nächste kleine Stadt zu fahren und dort zwei Baguettes zu kaufen. Wir springen in den Pick-up, den die Residenzkünstler benutzen, drehen die Scheiben runter und rollen das kurze Stück nach Ziniaré. Auf dem Weg ist immer viel Winken, von Kindern auf Fahrrädern meistens. Es sind diese Eselskarren unterwegs, die aussehen wie große rostige Schubkarren, die Leute sitzen an der vordersten Kante und baumeln mit den Beinen. Immer wieder ein spektakulärer Anblick: schwarz-vollverschleierte Frauen auf Mopeds, manchmal sieht man nicht mal ihre Augen. Issa will seinen nächsten Film über sie machen, seit eine von ihnen für ihn ihren Schleier gelüftet hat, als er ihr 2000 Francs bot. »Wenn jemand sowas macht, trägt sie den Schleier nicht aus tief empfundenen religiösen Glauben«, sagt er und hat wohl recht.

Vor der Boulangerie Wend Konta springe ich aus dem Wagen. Hinter einem langen gefließten Tresen steht ein großes Metallregal, in dem meist nichts liegt, die Brote werden von den in weiße Kittel gekleideten Mitarbeitern aus dem Backraum geholt. Verkauft werden nur Baguettes, danken und bitten ist bei so kleinen Alltagsgeschäften unter Einheimischen nicht üblich, das war mir in Ghana auch aufgefallen. Es würde also ausreichen, »deux« zu sagen und 400 Francs hinzulegen, die sie in eine Holzschublade werfen, aber »s’il-te plaît« kann ich mir nicht abgewöhnen. Man duzt sich meistens. 

An der Tankstelle gibt es schlechten importierten Rosé-Schaumi, der mit ausreichend Eiswürfeln und ein, zwei Stücken Wassermelone serviert aber einen ganz okayen Aperitif gibt. Davon kaufen wir ein paar Flaschen für den Abend, dazu Zigaretten ich nehme noch eine Tüte der scharfen Heuschrecken mit. 

Beim Frühstück sagen wir dann meistens so was wie »Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus« oder dass die Burkinaben und Senegalesen es mit den Franzosen besser getroffen haben als die Ghanaer mit den Briten, also essensmäßig. Da muss sogar der Senegalese ein bisschen kichern. 

Normalerweise lässt Jeannette den Motor laufen, aus irgendeinem Grund hat sie ihn heute ausgemacht. Als ich wieder neben ihr sitze, und sie den Schlüssel dreht, passiert nichts. Muss die Batterie oder die Lichtmaschine sein. Wir bleiben ein wenig sitzen, aus Unentschlossenheit ob wir gleich einen Mechaniker rufen oder doch lieber jemanden aus dem Operndorf informieren sollen, Motandi zum Beispiel. Wir entscheiden uns zu letzterem, Motandi mit seiner weichen, tiefen Stimme sagt, er kümmere sich später um das Auto. 

Wir steigen aus und gehen zur nächsten Kreuzung, wo ein paar Männer hinter einem Tischkicker auf einer schattigen Bank sitzen. Ein Taxi gebe es in Ziniaré nicht, sagen sie, aber es fände sich bestimmt jemand, der uns ins Dorf fahren könne. Bis der auftaucht, spielen Jeannette und ich eine Runde Kicker. Das heißt hier Baby-Foot, das Gerät ist aus grobem Holz gezimmert und bunt angemalt. Als Jeannette 5:4 gewonnen hat, hat sich um uns eine Traube aus Passanten gebildet. Baby-Foot ist wohl ein Männerspiel. Der Mann mit dem Auto, der uns dann fährt, heißt Idrissa und ist zufällig Mechaniker. 

Am Nachmittag heißt es, Ich könne mir mein Notfallgeld bei Western Union abholen. Ich bitte Issa, mich mit dem Moped zu fahren. Auf dem Markt müssen wir auch noch, ich bin am Abend mit Kochen dran. Western Union wird von der örtlichen Ecobank mitbedient (Motto: »Die Zukunft liegt im Panafrikanismus«). Wir passieren die Sicherheitskontrolle am Eingang und setzen uns in den klimatisierten Warteraum. Die Leute vor uns werden einer nach dem anderen am Sicherheitsmann mit Springerstiefeln und Maschinengewehr vorbei reingerufen und kommen wieder heraus. Als ich dran bin, sagt die Madame, das Internet gehe gerade nicht, aber ich könne meinen Pass und den Code dalassen, sie rufe mich dann wieder rein. Am Schalter nebenan stapelt ein Mann 100-Francs-Stücke aus einer kleinen Plastiktüte zu 10er-Haufen auf. Wahrscheinlich ein Busfahrer oder so, der den Tagesverdienst einzahlt. 

Als ich mich neben Issa fallen lasse und sage, das Internet sei kaputt, regt der sich auf. Das sei Afrika, einfach nichts funktioniere. »Was hast du. Wir sitzen im Kühlen, das Internet geht gleich wieder, wir haben keine Termine außer unser Abendessen. Alles ist gut. Und ganz viele Sachen funktionieren hier viel besser als woanders, das weißt du auch«.  »Du meinst das Miteinander der Leute?« - »Sicher.« - »Aber das verschafft ihnen keine Infrastruktur, keine funktionierenden Verkehrsmittel, kein stabiles Internet. Du fährst nach ein paar Monaten wieder nach Berlin, ich kann nach Paris, wenn ich genug von Dakar habe. Aber die Leute hier, die können das halt nicht. Das ist deren Leben, in denen sie nicht vorankommen. Mir als Afrikaner tut das weh.« 

Auf dem Markt starrt mich ein kleiner Junge an, bevor er in Tränen ausbricht und in Panik davon rennt. Mein Bräunegrad scheint noch nicht ausreichend zu sein. Der Issa lacht. Ich finde es schlimm, für eine wandelnde Tote gehalten zu werden. Der arme Kleine. Ich sage zu Issa, dass wir für das Pesto Nüsse brauchen. »Kokosnüsse«, fragt er. Nein, kleine Nüsse, ich weiss nicht, wie die auf Französisch heissen. Die Sorte, die aussieht wie ein kleines Gehirn.« Er schaut mich verständnislos an.

Als wir wieder zurück sind, zeige ich ihm die Walnüsse aus dem Herrenmenschensupermarkt in Ouaga, wie Jeannette ihn nennt, weil er von alten weißen Männern mit ihren sehr viel jüngeren, schönen burkinabischen Frauen frequentiert wird. Issa nimmt die Packung in die Hand und schüttelt den Kopf. Habe er noch nie gesehen, geschweige gegessen. Als er sich später eine süße Pampe aus Milchpulver, Kondensmilch, Zucker und Sorgho zusammenrührt, die mir das Wörterbuch mit Mohrenhirse übersetzt, was wiederum dazu führt, dass ich ihm das Wort Mohr erkläre, koste ich und wiege den Kopf. So war das wohl gedacht mit dem Kulturaustausch im Operndorf.

Mein Walnuss-Limonen-Pesto isst er dann begeisterter als ich die Mohrenhirsepampe. Was wir nicht schaffen, bringe ich runter zu Abdoulaye, der heute Nachtwache hat. Jeannette sagt, dass er am liebsten mit einem Löffel isst. Spaghetti? Ich nehme vorsichtshalber eine Gabel mit, aber er greift tatsächlich nach dem Löffel. Als er fertig gegessen hat, macht Abdoulaye auf der Treppe sein Entenquaken. Er bringt die ausgespülte Geschirr hoch und bittet um eine Zigarette.

Visa, deren hübsche Warteschleifenmusik, es ist eine Flötenweise, ich inzwischen mitpfeifen kann, ruft mal wieder an. Meine Karte wird für den 15. November in Ouagadougou erwartet. Das ist noch fast eine Woche. Wie schön. Mir ist unsere kleine WG hier sehr ans Herz gewachsen.

Als ich gestern mit Janne mailte, schrieb ich, dass ich am liebsten einfach hierbleiben würde, statt das Land zu bereisen oder nach Ghana zurückzukehren. Dann fiel mir ein, dass ich ja erwachsen bin und machen kann, was ich will. 

 

8.11.

La Vie Burkinabée III

Zurück im Operndorf. Hier kann ich bleiben, bis ich wieder an Geld komme. Was für ein Glück.

Abdoulaye, einer der Wächter, führt mich zu Ainos kleinem Haus auf dem Hügel und gibt mir seine drei Telefonnummern, eine funktioniere immer. Er und sein Kollege bewachen das Gelände rund um die Uhr. Tagsüber sitzen sie in der Mitte des Dorfes auf zwei Plastikstühlen unter einem Baum. Wenn man an ihnen vorbeiläuft, legen sie die Hände ineinander und senken grüßend den Kopf. Sie werden natürlich bezahlt, aber Issa hat beobachtet, dass sie sich nichts zu essen kaufen, sondern das Geld sparen. Deshalb bringen die Residenzkünstler ihnen oft ihr übriggebliebenes Abendessen vorbei. Allen ist klar, wie problematisch das ist. Aber unproblematisch ist in dieser Gegend nicht zu haben.

Aino, Claus und Diop sind abgereist, Jeannette und Issa bleiben noch ein paar Wochen. Ich wache um drei Uhr morgens auf und kann nicht mehr einschlafen. Das ist der Wein, an den ich nicht mehr gewöhnt bin, und der in meiner Leber wütet. Aber der Hund, der hinterm Haus sitzt (ich nehme an, es ist ein Hund), und dabei Geräusche macht wie eine Motorsäge, die nicht anspringen will, hilft auch nicht. Im Bad keckert der Gecko. Nach ein paar schlaflosen Stunden öffne ich die Tür, Abdoulaye schaut mit seiner Taschenlampe vorbei. Er sagt: »In 16 Minuten geht die Sonne auf, da hinten über den Hügeln«. Das tut sie allerdings, in Bildschirmschoner-Qualität. Um kurz vor sechs Uhr ist der Lärmpegel der Vögel und Grillen und Frösche am höchsten, es kommen die ersten Patienten auf dem Moped an, dann die Schulkinder. Sie tragen Daunenjacken, während ich mich über den kühlen Morgen freue. Gerade ist mit höchstens 38 Grad die angenehmste Zeit des Jahres, im April muss es unerträglich sein.

Wir verbringen den Tag auf der Küchenterrasse unterm Wellblechdach, warten darauf, dass Internet angeweht wird. Issa schneidet seine Film, Jeannette versucht zwischendrin, den roten Staub aus ihrem Haus zu vertreiben, ich telefoniere mit der Kreditkartenfirma und lese ein Buch über Thomas Sankara. Die Luft ist so trocken, dass einem die Schleimhäute austrocknen, die Haut spannt, die Lippen schuppen sich. Vorteil: Man kann eine offene Packung Cracker über Nacht liegenlassen und sie schmecken am nächsten Morgen immer noch gut. Issa kocht uns ein Mittagessen aus Sardinen und Tomaten, macht mir Liebeserklärungen, ich lache mich tot. Jedes Mal, wenn ich abwaschen will, nimmt mir der afrikanische Casanova, wie Jeannette ihn nennt, den Stapel Teller aus der Hand und sagt: »Ich mache das«. Wir sprechen über Geister. Issa ist Moslem, aber er sagt, alle Afrikaner seien auch Animisten. Er jedenfalls habe Zeit seines Lebens einen bestimmten Geruch in der Nase gehabt, bevor jemand, der ihm nah war, starb. Das sei in letzter Zeit weniger geworden, aber dennoch.

Denise schaut vorbei, die Köchin in der Schulkantine. Wenn Abdoulaye die Treppe hinaufkommt, macht er immer zwei kurze Entengeräusche, um sich anzukündigen. Der Handwerker Ambrose, der Claus‘ Bar baut, klatscht in die Hände. Denise kommt immer einfach so vorbei. Sie trägt ein Kleid und ein Kopftuch aus einem mit Madonnenbildern bedruckten hellblauen Stoff. »Bete für uns« steht darauf. Sie bittet um ein Bier, Issa teilt sich eines mit ihr. Ich frage Denise, ob ich ein Foto von ihr machen darf, sie willigt ein und posiert sehr gekonnt.

Um 16 Uhr beginnt Jeannettes Theaterklasse. Wir beide sitzen im Schatten der Kantine, als zehn staubige Zehnjährige angerannt kommen, fünf Mädchen und fünf Jungen. Aino hat bei den Häuptlingen zur Bedingung gemacht, dass im Dorf genauso viele Jungen wie Mädchen zur Schule gehen dürfen. Wenn die Mädchen hierher kommen, fehlen sie ihren Eltern aber als Arbeitskräfte auf dem Feld, deswegen überlegt sie, wie sie Landwirtschaft ins Operndorf integieren kann, damit beides geht: satt sein und lernen.

Die erste Aufgabe von Amandine, Nestor, Samira, Moussa, Elise, Mohazi (der Kleinste und Schmalste mit dem Erwachsenengesicht unter der Pulloverkapuze, den ich gleich am liebsten mag) und den anderen besteht heute darin, zu erzählen, was sie am Wochenende gemacht haben. »Ich habe Ball gespielt«, sagen die Jungen. »Ich habe Geschirr abgewaschen« und »Ich habe Kleider gewaschen« die Mädchen. Was machst du am allerliebsten? »Ich liebe es, Reis zu essen«, »Ich liebe es, mich zu waschen«. »Ich liebe es, meine Eltern zu respektieren«. Am Ende der Stunde teilt Jeannette Haribos aus. Für jedes Kind gibt es ein Gummitier. Sie erklärt, dass man es, anders als die Kaugummis vom letzten Mal, runterschlucken darf. Statt sich die Süßigkeit wie ich sofort in den Mund zu stopfen, halten die Kinder ihre alle noch für einen Moment in den Händen.

Dann ist die Schule vorbei und alle Kinder versammeln sich in ordentlichen Reihen am Fahnenmast. Während die Sonne untergeht und ein kleiner Junge ganz langsam die Flagge einholt, singen sie die Nationalhymne, Musik und Text: Thomas Sankara.

L’amour et l’honneur en partage avec l’humanité / Le peuple du Burkina chante un hymne à la victoire / A la gloire du travail libérateur, émancipateur / A bas l’exploitation de l’homme par l’homme!

7.11.

The Life Burkinabè II

Manche Leute in Burkina glauben, das zurückliegende Jahr sei deshalb ein so trockenes gewesen, weil sie Thomas Sankara exhumiert haben. Sankara war von 1983 bis zu seiner Ermordung 1987 Präsident, eine Art Che-Guevara-Figur und ist bis heute ein Volksheld. Er hat, erzählt Aino, zum Beispiel einen Frauentag eingeführt, an dem beide Geschlechter Kleidung aus denselben Stoffen tragen und die Männer alle Aufgaben der Frauen übernehmen sollten.

Man hat ihn also neulich exhumiert, um den Umständen seines Todes auf die Spur zu kommen. Aber man darf Tote nicht aus der Erde holen, das verärgert die Welt der Geister und Ahnen. Deshalb das Unglück mit dem wenigen Regen, der schlechten Ernte.

Mein Vergehen war, glaube ich, dass ich mich über das Gebäude der Banque Commercial du Burkina in Ouaga lustig gemacht habe. Also eigentlich habe ich ihm ein Kompliment gemacht, aber uneigentliches Sprechen ist bekanntlich schwer zu vermitteln. Als ich nach drei Tagen im Hôtel Les Palmiers auschecken will, ist meine Kreditkarte nicht mehr da. Mir bricht der Schweiß aus, aber weit kann sie nicht sein, ich trage die wichtigsten Dinge ja immer nah bei mir. Die Kreditkarte ist hier sowieso ziemlich wertlos, außer zum Geldholen und Bezahlen der teureren Hotels. Aber auch Bargeld ist kompliziert. Die Angestellten im Hotel haben Probleme, einen 5000-Franc-Schein im Gegenwert von nicht mal 10 Euro zu wechseln, selbst 2000 sind manchmal schwierig. Bei den Straßenhändlern und im Taxi kommt man am besten mit noch kleineren Scheinen zurecht, wenn nicht mit Münzen. Das Internet hat sich auch noch nicht flächendeckend durchgesetzt.

Meine Sorge darüber, dass jemand mit meiner Karte Quatsch kauft, ist also begrenzt, zumal ich Profi darin bin, sie in ausländischen Automaten zu vergessen. Das wäre das dritte Mal. Ich lasse mein Gepäck an der Rezeption und trete vom Hotelgarten auf die Straße hinaus. Oumar hatte gesagt, er sei immer da, und wenn nicht, sei er nicht weit, und tatsächlich steht er mit dem Torwächter unter dem Baum. Er hatte mich am ersten Tag angesprochen, mit seine Lizenz zum Touristenführer und sein Moped gezeigt und gesagt: »Ich heiße Oumar, aber alle nennen mich Jordan, wie der Basketballer«, was mir unmittelbar einleuchtete. Er ist wirklich sehr groß. Als er mich am Vortag in die abgelegeneren Viertel der Stadt fuhr, zum Denkmal für die 46 Märtyrer der Revolution 2014 und des Putsches im Jahr darauf, hatte er mir erzählt, dass er früher mal auf einer Kaffeeplantage gearbeitet habe und eine zeitlang mit Kunsthandwerk. Seit 2000 sei er Führer, aber die Geschäfte liefen nicht gut. Es kämen nicht viele Touristen derzeit.

Er trabt auf mich zu, den Kopf gesenkt, wie hochgewachsene Menschen das oft tun, »Guten Morgen, ça va«. Ich schildere ihm die Situation und frage ihn, ob er mich zur Bank fahren kann, wo ich gestern um dieselbe Uhrzeit Geld gezogen habe, er erinnere sich sicher? Klar tut er das. Sein Moped sei gerade zur Reparatur, ich solle kurz warten. Er fragt den Typen, der im Schatten der Hotelmauer jeden Morgen seinen Kunsthandwerksstand aufbaut nach seinem Moped, damit fahren wir zur Bank. Er besteht darauf, mit reinzukommen und ich verstehe schnell, warum. Er besitzt Autorität und er spricht Moré, von dem ich nichts verstehe, außer »danke«. Ich schildere dem Mann von der Bankverwaltung auf Französisch die Situation, Oumar sagt dasselbe noch mal, mit ein paar zusätzlichen Worten in Moré. Der Mann von der Verwaltung hört zu.

Dann passiert, was oft passiert: Sein Blick schweift in die Ferne oder nach innen, das kann man schwer sagen. Es dauert ein paar lange Sekunden, dann lässt er sich von seinem neben ihm sitzenden Kollegen den Telefonhörer reichen und eine Nummer wählen. Und dieses burkinabische Phlegma bringt mich selbst auch runter. Ich zwinge mich dazu, nur an den jeweils nächsten Schritt zu denken und nicht: »Wie komme ich hier weg, wenn ich kein Geld mehr habe. Wie nach Accra, oder wie, l’horreur, vorzeitig zurück nach Berlin.« Die Karte ist ja da, im Automaten. Weil das Geld zuerst aus dem Schlitz kam, habe ich vergessen, sie rauszunehmen. Es dauert etwas, dann erscheinen zwei Damen im afrikanischen Dress. Sie gehen  gemeinsam zum Automat und schauen nach, wir dürfen nicht mit. Als sie zurückkommen, sprechen sie mit Oumar. Ich stehe neben ihm, ich habe bewiesen, dass ich einigermaßen Französisch spreche, es geht um meine Kreditkarte. Aber sie sprechen mit Oumar, der zuhört und sich dann mir zuwendet, um mir zu sagen, was ich schon weiß: keine Karte.

Der nächste Schritt: Das ghanaische Geld, das ich noch besitze, muss gewechselt werden. Die Bank kann das nicht. Euro oder Dollar könnten sie, Ghana-Cedis: nein. Oumar sagt, er kenne einen Ort. Die Wechselstube ist ein Stand mit sehr schönen Halsketten aus bunten Perlen, die man wie einen Latz trägt. Der Schmuckhändler ist auch der Geldwechsler. Damit es die Umstehenden und -liegenden Männer nicht hören. sage ich leise zum Geldmann, ich bräuchte ungefähr 165.000 Franc, er tippt mit die Rate in einen großen, staubigen Taschenrechner. Ich rechne zwei Mal nach, aber ich habe auch keine rechte Wahl. Dann zähle ich halb versteckt hinter seinem Stand 30 der 35 Scheine aus meiner Plastiktüte ab. Das ist alles Geld, was ich noch habe. Er hält sich diskret im Hintergrund. Als ich sage, ich sei fertig, kommt er mit seiner Plastiktüte und zählt für mich ab. Ich halte ein paar seiner Scheine ins Licht, sie sehen sehr echt aus. Er spürt meine Nervosität und reicht mir seine Visitenkarte, sie ist laminiert, darauf sein Name, das Logo von Western Union, der Name eines teuren Hotels, das Wort »officiel«.  Viel mehr Vertrauen flößt mir ein, dass er so ruhig ist und still. Er scheint das öfter zu machen: Mit einer Plastiktüte voller Scheine im Wert zweier ortsüblicher Monatsgehälter an einer Straßenecke stehen. Als ich ihn bitte, mir einen der 10.000er-Scheine kleinzumachen, tut er auch das.

Oumar fährt mich zurück zum Hotel, ich steige vom Moped, danke und sage, es täte mir leid, aber ich könne ihm oder dem Besitzer des Mopeds gerade nichts zahlen. Er winkt ab. »Y’a pas de problème«. Das ist auch, was die Hotelangestellten mir sagen und der Torwächter, als ich endlich mit der Kreditkartenfirma telefoniert, die Karte hab sperren und mir eine Notfallkarte auf den Weg bringen lassen: »Y’a pas de problème«. Ich rufe Jeannette an, um ihr den Stand der Dinge durchzugeben. Sie sagt: »Ich sitze im Auto und werde eben von der Polizei angehalten, weil ich telefoniert habe. Ich muss denen jetzt auf die Gendarmerie folgen.« Kein so guter Tag heute. Sie wird ihre Papiere gegen die Zahlung von 10.000 Francs zurückbekommen. »Du wirst sehen, deine Karte ist bald hier. Mach dir nur keine Sorgen«, sagt der Wächter. Der Hotelbesitzer jedoch, ein Franzose mit nikotinschwarzen Zähnen, jault auf. »Das ist Afrika hier. Das kann Monate dauern!« Ich glaube ihm kein Wort.

5.11.

The  Life Burkinabè

Ouagadougou ist gemächlicher, aufgeräumter, sichtbar ärmer auch, weiter, sechziger- und siebzigerjahrehafter als Accra – eindeutig schöner. Ich mag es sofort. Der Verkehr, der sich weniger aus Autos, denn aus Fahrrädern und Mopeds konstituiert, fließt dahin, niemand hupt. Überall stehen spektakuläre Gebäude herum, eines hübscher als das andere – oder irrer. Ich gehe kurz vor Sonnenaufgang los, um in der Gegend um den Markt herum ein paar Bilder zu machen, bevor die Leute ihre Stände aufbauen. Die Banque Commercial du Burkina wirkt, als hätte ein Kind aus Pappkartons, Rasierklingen und Klopapierrollen einen Roboter gebaut. Beides – die Institution der Bank und den Bau selbst – hat das Land angeblich Muammar al-Gaddafi zu verdanken. Es gibt eine Place du Cineastes mit einer grün-weißen Kreisverkehrskulptur, ein Viertel heißt Petit Paris, ein anderes, ganz neues: Ouaga 2000.

Sévérin sammelt mich an der Tankstelle am Boulevard Charles De Gaulle ein. Er ist ein schmaler, sanfter Ivore, dessen elegantes Deutsch den Effekt hat, dass man sich sofort gewählter ausdrückt. Im Germanistik-Studium hat er zu Brechts Der gute Mensch von Sezuan und dessen Religions- und Kapitalismuskritik gearbeitet. Christoph Schlingensief hat er durch ein Praktikum am Goethe-Institut kennengelernt, heute ist er Projektleiter im Operndorf. In Deutschland war er noch nie.

Als wir 35 Kilometer von Ouagadougou entfernt von der Strasse abbiegen, sehe ich lange nur gelbes Gras und Steine. Dann taucht eine Reihe bunter Container auf, schmale lehmbacksteinrote Häuschen mit silbern darüber schwebenden Wellblechdächern, ein paar Bäume, roter Staub. Den bringt der Harmattan, der aus der Sahara wehende heiße Wind.

Über dem Operndorf liegt die Wochenendruhe, außer den deutschen und afrikanischen Residenzkünstlern sind nur ein paar der Angestellten da und deren Kinder statt der 270, die hier wochentags zur Schule gehen. »Es sind mal mehr, mal weniger«, sagt Aino, »manche verlieren wir, meist an die Malaria.« Die Krankenstation liegt ein kleines Stück den Hang hinunter. Es ist da, wie auch in den Häusern, auch jetzt zur Mittagszeit unwahrscheinlich kühl. Francis Kéré, seinerseits das erste Kind seines Dorfes, das eine Schule besuchte, hat natürliche Ventilations- und Beleuchtungslösungen eingebaut, brutal lokal würde man wohl sagen. Durch die quadratischen Fensteröffnungen weht der Wind herein, die Dachvorsprünge werfen Schatten, ist luftig und, was die Anmutung der Materialien angeht, warm. Kein Desinfektionsmittelgeruch, nirgends. Es handelt sich ziemlich sicher um das schönste Krankenhaus der Welt. Die Innenhöfe sind als Aufenthaltsräume für die üblicherweise mit anreisenden Familien gedacht.

Wir verbringen den Rest des Tages damit, im offenen Küchenbereich eines der Häuser zu sitzen, auf die sich im Licht verändernde Savanne zu schauen und nach sauberen Gläser zu suchen. Das Wasser geht gerade nicht, das wackelige Internet auch nicht. Jeannette arbeitet mit einer Handvoll Kindern an einem Theaterstück, Claus baut im Zentrum der Schnecke, die das Operndorf aus der Luft betrachtet beschreibt, eine Bar, die er mit mehr als tausend im nächsten Dorf hergestellten Fliesen kacheln wird. Dann leben hier gerade noch der Maler und Bildhauer Mouhamadou Moustapha Diop und Issa, der Mann, den es nicht gibt. Er ist Senegalese, schneidet gerade seinen hier entstandenen Film. Er beginnt irgendwann zu kochen und stellt immer neue Portionen frittierter Kartoffel- und Kochbanananscheiben auf den Tisch. Aino erzählt Anekdoten von Christoph. Wie er auch in der größten Hitze voller Enthusiasmus über das Gelände jagte, in seinem Windschatten fielen erschöpfte Besucher in Ohnmacht. Wie er das Anti-Moskito-Spray namens Nobite konsequent Nobité aussprach – französisch eben –, was in der Apotheke niemand verstand. Wie er und die Häuptlinge der Stämme aus den umliegenden Dörfern sich verständigten, ohne dieselbe Sprache zu sprechen. Wie die Häuptlinge nach seinem Tod die Ahnen fragten, ob Aino die neue Direktorin des Dorfes werden solle. Sie sollte. 

4.11.

Der Muezzinwecker hebt um 5:10 Uhr zu seinem Lied an. Es gibt ja wenig, was ich lieber höre. Vor ein paar Jahren verstieg ich mich mal zu der Behauptung, der minutenlang leiernde Gesang erinnere mich an den Probealarm zum Test der Sirenen in der DDR, das war jeden Mittwoch um dieselbe Zeit - ein regelmäßiges und irgendwie heimeliges Geräusch. Wobei der Muezzin sehr viel schöner klingt.

Eine Stunde später wage ich es, auf die Suche nach Kaffee zu gehen. An der Hauptstrasse Pagas reihen sich kilometerweit Trucks in Richtung Grenze auf, sie haben, soweit ich das erkennen kann, Orangen, Wassermelonen und Benzin geladen. Ich gehe erst in die eine Richtung, kaufe bei einer Frau einen dieser faustgroßen Teigbälle, den sie aus dem Frittieröl hebt und mir in einer Plastiktüte überreicht. Irgendwann wechsle ich die Richtung, frage ein paar staubige, auf einem Teppich sitzende Jungen nach Kaffee, sie antworten auf Französisch und schicken mich in die andere Richtung. Tatsächlich kocht da jemand auf einem Holzkohlefeuer Wasser in einem Blechkessel. Ich bestelle einen doppelten, er wäscht eine rosa Plastiktasse in einem Eimer ab, schüttet zwei Tütchen Instant-Pulver hinein und gießt es auf. Dazu Kondensmilch aus der Dose. Néstle ist ein unmenschliches Unternehmen, das schreckliche Dinge tut, und wo es geht boykottiert gehört, aber ich bin jeden Tag sehr dankbar für ihren Kaffee.

Als ich auf der Bank hinter dem Wasserkessel sitze, streicht mir eine papierdünne Katze um die Beine. Ich streichle sie und beobachte dabei einen der Fahrer. Die meisten schlafen nachts auf Euro-Paletten, die mit Seilen an der Unterseite ihrer LKW hängen. Der hier aber hat eine Art Zelt: eine Metallkonstruktion auf Beinen, über die eine Zelthaut und ein extra Regenplane gehüllt wird. Daraus holt er jetzt nacheinander eine Decke, ein Moskitonetz und einen Kindermatratze mit Micky-Maus-Motiv, faltet alles sorgfältig zusammen, verschnürt es zu Päckchen und verstaut alles in seinem Fahrerhäuschen.

Der Weg über die Grenze ist dann wieder so: Bevor ich mich fragen kann, was als nächstes zu tun sei, passiert es schon. Ich muss nur nicken und ab und zu einen Schein herausholen. Ich laufe durch die erste Absperrung, da kommt einer im gelben Fußballshirt auf mich zu. Ob ich Westafrikanische Franc bräuchte. Brauche ich tatsächlich. Er führt mich unter ein Sonnendach, unter dem eine Gruppe von Männern sitzt und ein Fleischer halbe, an Haken in der Luft baumelnde Rinder anbietet. Die Wechselstube ist einer mit kleinen Tätowierungen neben beiden Augen, der vor einen Tischchen sitzt, darauf eine auf den Börsenseiten aufgeschlagene Zeitung (welche Zeitung ist das, welche Börsenkurse?), darauf ein paar Scheine und ein Handy. Ich frage ihn, wieviel Franc ich für 100 Ghana-Cedis bekomme. Er sagt 12.000, was 1000 weniger ist, als ich mir ausgerechnet habe. »Ist das dein letzter Preis?« frage ich. »Ja«. Als ich wissen will, ob es günstiger wird, wenn ich mehr Geld tausche, lächelt er und sagt: »Der Preis bleibt gleich. Wir handeln nicht, wir kaufen die Währung ja auch nur«. Ich tausche 200 Cedis, das sollte mich bis Ouagadougou bringen, und mir ein Foto von ihm erkaufen. »Klar kannst du mich fotografieren, du darfst alles hier fotografieren. Und er hier«, er zeigt auf den im gelben Trikot, »wird dich auf seinem Motorrad bis über die Grenze bringen«. Dann wie immer: Der Gelbe sagt einen Preis, ich sage einen, der ein Drittel darunter liegt, und wir einigen uns in der Mitte.

Die ghanaischen Grenzbeamten, zwei Frauen und eine Handvoll Männer, tragen kleinteiligen grünen Flecktarn, der aussieht wie Leopardenmuster. Sie sind sehr gut drauf, einer telefoniert die ganze Zeit und lacht immer wieder laut auf. Die von Burkina Faso tragen hellgrau und sitzen an einem kleinen Tisch unter einen Sonnendach. Ich laufe auf sie zu, grüße und will dem meinen Pass geben, der am wichtigsten aussieht. Der zeigt mit der Hand auf den, der am zweitwichtigsten aussieht. Der nimmt meinen Pass und reicht ihn an den Ersten weiter. Aha. Alle anderen schauen auch noch rein, ich muss viel erzählen, unter anderem mal wieder, ob ich verheiratet bin, dann aber: »Bonne Arrivée!«.

Wieder aufs Motorrad. Während wir weitertuckern, besorgt mir der Gelbe rufend einen Platz im Gruppentaxi. Als ich sage, ich bräuchte aber noch eine SIM für Burkina, hält er an einem SiM-Kartenstand. Als die Karte nicht in mein Telefon passt, geht der SIM-Karten-Verkäufer los, um sie zurechtschneiden zu lassen. Der Motorradfahrer beschwichtigt derweil die im Auto brütenden vier Männer, meine Mitfahrer. Als die Karte passt, bezahle ich den Gelben, er sagt: »Gott schütze dich« und ich werfe mich auf den letzten freien Sitz.

3.11.

Aino antwortet auf meine Mail vom Vorabend, in der ich fragte, ob ich einfach so im Operndorf auftauchen könne. Sie sitze gerade zufällig im Flugzeug von Berlin nach Ouagadougou, ich könne sie dort treffen – nein, müsse!

Den Abend verbringe ich mit der Recherche. Auf dem Landweg würde ich in Burkina Faso eintreffen, wenn sie schon wieder zurück in Berlin wäre, ich buche also für den nächsten Morgen einen sehr günstigen Flug nach Tamale im Norden Ghanas. Weitere drei bis vier Stunden mit verschiedenen Verkehrsmitteln bis an die Grenze, dort kann man hinüberlaufen. Noch mal 160 Kilometer mit dem Trotro, das dort taxi-brousse heißt, dann umsteigen und weitere 20 Kilometer und dann bin ich schon da.

In der Halle von Terminal 1 vom Flughafen in Accra, von wo die inländischen Flüge gehen, reihen sich drei mannshohe sogenannten Aufsteller auf. Der erste wirbt mit einer lachenden Dame in ihren 50ern für die China European Business School: »Made to Fit a Busy Woman’s Schedule«, der zweite für allerlei Vorsichtsmaßnahmen gegen Ebola, beim dritten handelt es sich um eine sich an französischsprachige Nicht-Ghanaer richtende Warnung des Ministery for Natural Ressources davor, sich Verbrechen gegen einheimische Minenarbeiter zuschulden kommen zu lassen.

Der Security-Mann am Check-in fragt mich, ob ich Flüssigkeiten außer Kosmetik bei mir habe. Ich sage nein, was in etwa stimmt, er glaubt mir ohne nachzuschauen. Ein Schild weist auf die neuen restriktiven Bestimmungen zur Mitnahme von Flüssigkeiten im Flugzeug hin, drei Unzen pro Produkt und die in einer durchsichtigen Ein-Liter-Plastiktüte, aber das scheint ein bisschen egal zu sein. Meine Halbliterflaschen Moskito-Haut- und -Kleidungssprays habe ich lose in die karierte Plastiktragetasche geworfen, die bei uns Türkentasche oder Polenkoffer heißt. In Nigeria nennt man sie Ghana must go, weil die eine Million illegale ghanaischen Immigranten, die während des Öl-Booms ins Land gekommen waren, darin alles transportierten, was sie tragen konnten, nachdem die nigerianische Regierung sie 1983 auf einen Schlag ausgewiesen hatte, weil sie nach dem Crash nicht mehr geduldet wurden. Wie die Tasche hier in Ghana heißt, weiß ich gar nicht.

Die ganzen Flüssigkeiten stören die Durchleuchter nicht, aber meine Linkshänder-Haarschere. Wobei ich mir sicher bin, dass ich mit dem giftigen DEET in meiner Tasche schneller jemanden verletzten könnte als mit einer Schere, die ich außerdem niemals für etwas anderes benutzen würde, als um mir den Pony abzusäbeln. Alles andere macht die doch stumpf. Jedenfalls muss ich die Tasche doch einchecken.

Mein Sitznachbar in der 30-sitzigen Propellermaschine ist ein junger Typ mit einer Frisur, die in Richtung Basquiat verweist. An drei Fingern der rechten Hand trägt er Ringe, zwei davon mit blauen und weißen Strasssteinen. Aus irgendeinem Grund schafft er es trotzdem, nicht wie ein Arschloch auszusehen. Er hilft mir beim Ausklappen meines Tisches, als ich von der Bordtoilette zurückkomme, räumt alles aus dem Weg, was mir der Stewart in der Zwischenzeit an eingeschweißten Kuchen und eine Flasche Wasser und ein Päckchen Ananassaft hingestellt hat, sodass ich mich wieder setzen kann. Er stellt sich als Halid vor. Auf mein: »Ein muslimischer Name«, sagt er: »Eigentlich Isaac Halid. Ja, mein Vater war Moslem, meine Mutter Christin.« Seinen dritten Namen, den der den Wochentag anzeigt, an dem er zur Welt gekommen ist, weiss er nicht, seine Mutter sei nach dem Tod seines Vaters zu beschäftigt gewesen, als dass sie ihm das habe sagen können. Er habe in Accra seine Onkel und Tanten besucht, in Tamale studiere er an einer Computer-Schule. Am Ende des kurzen Fluges sagt er, er werde sicherstellen, dass ich schnell und sicher an mein Ziel komme. Wir tauschen Nummern, er speichert mich unter Anne, Nachname: Friend ab. Als wir die Maschine verlassen, gibt er einem offenbar mit ihm bekannten Security-Mitarbeiter mit Springerstiefeln unsere Boardingkarten, anderthalb Minuten später kommt der mit den Taschen um die Ecke. Auf dem Vorplatz wartet ein anderer Freund mit Halids Motorrad. Wir steigen auf, wie der Freund nach Hause kommt, ist mir nicht klar. Meine Tasche zwischen uns, fährt er die 20 schnurgeraden Kilometer ins Zentrum Tamales, extra behutsam, wie mir scheint. Tamale ist ganz anders: Auf einmal gibt es runde Lehmhütten mit Strohdach, statt Kirchen kleine Moscheen in den schönsten Farben. Rosa, Rost und Vanille ist eine irre gute Mischung. Sehr viele enorm luftig designte Tankstellen, schmales pastellfarbenes Dach auf hohen Säulen, viele davon nicht mehr in Betrieb. Die Töne alles übrigen sind wie von der Sonne ausgeblichen: die Mauern, das Gras, die Laubbäume. Nur die Kleider der Frauen glitzern. Sie sind aus einfarbigem Stoff, körpernah und knöchellang, und überall sind kleine Spiegel oder Glanzfäden. Die Kombination Kleid und Wollmütze ist das Allercoolste. In Accra hat es eine Woche gedauert, bis ich darauf kam, warum mir auch viele nicht-traditionell gekleidete Männer so überdurchschnittlich gut angezogen vorkamen: Statt Jeans tragen die meisten Stoffhosen, dazu zu spitze Lederschuhe.

Die Tops und Meerjungfrauen-Kleider aus knallbunt bedruckten Stoffen, Waxprints, sind sowieso toll, aber in Accra waren die Männer die mit den liebevollsten Outfits: der rundgesichtige Teenager, der im weißen Hemd, breiten Hosenträgern und weiter Kreidestreifenhose aussah wie ein als Mafioso verkleideter Notorious B.I.G. Der im mauvefarbenen Hemd, lange Ärmel und bis oben hin zugeknöpft, schmale graue Hose zu Monkstraps mit kleinem Absatz. Ich meine: Monkstraps! Hatte ich außerhalb Italiens und der GQ noch nicht gesehen. Der Kokosnussverkäufer mit dem Afro, in dem ein türkisfarbenener Plastikkamm steckte.

Ich quieke auf, als ich die Motorradfahrerinnen bemerke. In Accra gibt es nicht einmal Frauen auf Fahrädern, dort fahren sie alle Auto. Hier heizen sie mit Sonnenbrillen zu bunten Kopftüchern und ihren Babys auf dem Rücken umher, no fucks given.

Ein kurzer Abstecher in Halids kleines Häuschen mit der weißen kunstledernen, von rotem Staub bedeckten Couchgarnitur und der Palmentapete und einer gerahmten Bleistiftzeichnung von Bob Marley unter der Decke. Ich ziehe mich um. Die Hitze hier oben ist anders: heißer und trockener. Die geringe Wasser in der Luft macht die 37 Grad bizarrerweise so viel angenehmer als die feuchtigkeitsschwangeren 32 Grad in Accra. Weiter zum Busbahnhof. Er findet mir das richtige Trotro, bezahlt es, sagt »relax«, als ich protestiere, quetscht meine Tasche unter die Sitzbank, bittet mich, ihn anzurufen, wenn ich in Bolgatanga ankomme und verschwindet. Als das Trotro losruckelt, fallen die Babys auf den Schößen ihrer Mütter in einen tiefen Schlaf, das kleinste, ein Mädchen, noch mit der Brust seiner Mutter im Mund. Die ist ebenfalls eingenickt. So kann ich ihr Gesicht betrachten, das mit feinen geraden Schmucknarben überzogen ist, in die man schwarze Farbe gerieben hat. Das regelmäßige Muster sieht aus wie die Adern eines Birkenblattes. Nach zweieinhalb Stunden kommen wir in Bolgatanga an, Halid meldet sich: Er habe mir einen Taxifahrer besorgt, der mich vom Bus zu seinem Auto und damit nach Paga bringe.

Als hätte ich das nicht selbst gekonnt. Ich weiß nicht, warum das so ist. Weil Gäste nun mal umsorgt werden oder weil ich eine einzelne Frau bin. Oder weil ich mich mitten in einem Seminar des Fachs befinde, das René mal in Bezug auf Togo »angewandte Weißseinsforschung« nannte.

Der Fahrer steht schon an der Tür des Buses, als ich aussteige und sich fünf Männer gleichzeitig um meine riesige, unterm Sitz eingeklemmte Tasche kümmern. Die 90-Minutenfahrt schafft Salomon in einer Stunde. Auf dem Armaturenbrett laufen auf einem kleinen Bildschirm die größten Afrobeat-Hits, Davido ist der Star, Tekno der nigerianische Produzent der Stunde, die Videos sehr gut. Es geht immer um Liebe zu Frauen, die Ähnlichkeit mit Rihanna haben. Ich esse Reis mit Scharf aus einer Plastiktüte, die es in der Bahnhofskantine gab, es ist ganz köstlich. Einmal läuft uns ein Schwein gerade so nicht vors Auto. Die Glühsonne fällt in einem unglaublichen Tempo vom Himmel, und als es gerade dunkel geworden ist, erreichen wir Paga. Ich melde Halid meine erfolgreiche Ankunft und danke ihm. Der vom einzigen Hotel des Ortes sagt, er habe ein Zimmer für umgerechnet 8 Euro, aber das habe kein Wasser, deshalb vergäßen wir das besser schnell wieder. Das für 10 Euro habe einen Fernseher, aber kein eigenes Bad. »Dann nehme ich das für 12«. Dazu überreicht er mir eine einzeln verpackte Rolle Klopapier und ein großes Stück Seife. Als ich darum bitte, bekomme ich auch ein staubiges Handtuch, das weder frisch gewaschen noch gebraucht riecht. Das Neue Testament auf Deutsch, Englisch und Französisch liegt dagegen schon auf dem Zimmer bereit, gleich neben der in eine Plastiktüte verschnürten Fernbedienung. Frühstück gäbe es bei den Händlern auf der anderen Straßenseite.

Ein Muezzin ruft, 500 Meter von hier fängt Burkina Faso an. 830 Kilometer von Süd nach Nord in 9 Stunden und 11 Minuten. Speedy Tours Ghana.

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