»The Life Naija«

»The Life
Ghanatic«
Tagebuch

21.11.

Abschied und Abreise. Ich werde dann drei Wochen in Burkina gewesen sein. So lange hat es gedauert, um die Feinheiten wahrzunehmen: Dieses Geräusch, das manche Leute im Gespräch machen, das klingt, als würden sie bei geschlossenen Mund einen kleinen Stein in der Kehle bewegen. Es hat Ähnlichkeit mit dem Keckern der beiden Geckos, die immer an der Decke meines Badezimmmers sitzen, und bedeutet Wohlgefallen oder Zustimmung. Das Abstützen des rechten Arms mit der linken Hand auf Höhe des Ellenbogens, beim Überreichen einer Sache oder beim Händeschütteln: Ausdruck besonderer Höflichkeit. Dass man unverpackte Lebensmittel wie Kochbananen, Gewürze und Lammspieße auf der Straße nicht nach der Anzahl kauft (nach Gewicht sowieso nicht), sondern indem man sagt, wieviel man bezahlen will und die Händlerin oder der Händler weiß, wie viel man an diesem Tag dafür bekommt. Und vielleicht noch was extra. Viele Burkinaben lieben es, zu handeln, aber Geschenke machen lieben sie auch. Beim Essen in Denises Hof, wo sie mit einem ihrer Söhne und all ihren Tieren lebt, gestern Abend gelernt: Ziegen können sich erkälten und dann husten sie. Ich dachte mehrmals, da säße ein Mensch im kleinen Stall. Etonnant.

Was nicht fehlt:

Die Laufschuhe und -klamotten, die unangetastet in meinem vollen Koffer in Accra liegen. Was hab ich mir dabei gedacht? Dass ich um 5 Uhr, wenn die Temperaturen mal kurz angenehm sind, zum Schwitzen gehe? Andererseits fand Ende Oktober der Accra-Marathon statt, zu dem nicht wenige Europäer angereist sind. Warum nur, warum?

Bücher. Von dem Dutzend, das ich mitgebracht habe, bislang genau eins gelesen. Keine Zeit, kein Bedarf. Ich stellte mich auf Einsamkeit und Langeweile ein, hatte ich Nina vor meiner Abreise erzählt. Ich hatte ja keine Ahnung.

Die Hälfte meiner mitgebrachten Klamotten: entweder zu schick oder zu zerlöchert (abgerissene Klamotten sind genau wie abgelatschte Schuhe ein Armutszeichen, warum sollte man so etwas freiwillig tragen), zu warm oder vom Material her zu empfindlich. Nie den Staub unterschätzen und seine Färbekraft. Fürs nächste Mal: Fünf T-Shirts reichen, wirklich. Handwäsche ist sehr erfrischend. Jeans: nicht mal daran denken.

Was fehlt:

Ein paar Kenntnisse heimischer Sprachen. Und eine unkorrumpierbare Instanz, die man bei moralischen Fragen die eigenen Privilegien betreffend konsultieren kann. Zum Beispiel: Ob man die verschimmelte Marmelade wegwirft, auf die Gefahr hin, dass jemand anders sie findet und isst, oder ob man den Schimmel entfernt und sie doch lieber selbst aufbraucht. Oder ob man den Schimmel entfernt, bevor man die Marmelade wegwirft. Wie reagieren, wenn einem zum wiederholten Mal im Scherz der halbwüchsige Sohn als Reisebegleiter und -beschützer angeboten wird, zum Mitnehmen bis nach Deutschland. 

20.11.

Es fängt damit an, dass ich den Geruch des italienischen Sonnenöls aus dem Herrenmenschensupermarkt (LSF 50, ich war so glücklich, das gefunden zu haben) widerlich finde und mich frage, wie ich das kaufen konnte. Mir ist schlecht und mich dürstet nach dem Essig-Wasser aus dem Cornichons-Gläschen. Ich gieße es ab, lasse einen Eiswürfel reinfallen und trinke es in kleinen Schlucken. Die Lammwürstchen, die in der Pfanne brutzeln, riechen, als hätten sie zu lange in der Sonne gelegen. Der Gedanke an Essen, Wein oder Zigaretten: unerträglich. Meine Knochen schmerzen. 

Als ich unter dem Moskitonetz im Bett liege, kommt mir das Zimmer ungewöhnlich heiß vor. Auf meiner Stirn steht der kalte Schweiß. Hatte ich gar nicht bemerkt. Immer, wenn ich nachts aufwache, trinke ich etwas Wasser; es schmeckt komisch süß. Neue Erkenntnis: Um ein Uhr morgens ist der einzige Zeitpunkt, zu dem kein Tier da draußen irgendein Geräusch macht. 

Jetzt, wo ich ein paar Kinder kennengelernt habe, die nächstes Jahr vielleicht einfach nicht mehr auf der Welt sind, ist mir unbegreiflich, warum jemand, der es sich leisten kann, freiwillig auf Malaria-Prophylaxe-Tabletten verzichtet. Michael Glawogger konnte seinen letzten Film nicht fertigmachen, weil ihn ein Tier zu viel gestochen hat oder das falsche. 

Als ich Joachim 2013 in Äthiopien besuchte, nahm ich keine Prophylaxe – Addis Adeba liegt zu hoch für Moskitos. Als ich dann für ein paar Tage in die Ebene fuhr, nach Harar, lag ich umschwärmt von Viechern auf meinem Herbergsbett – kein Netz dabei, kein Spray, keine dieser Insekten-Spiralen – und dachte: Aha, so sterbe ich also. Na ja, ich war grundsätzlich in einer etwas überdramatischen Stimmung zu der Zeit. 

Am Morgen geht es mir besser, ich wache auf und habe Hunger. Vielleicht war es die Anstrengung, vielleicht der Schlafmangel, vielleicht die kleinen, frittierten Teigbällchen vom Straßen-Imbiß. Vielleicht alles ein bisschen. Der Gedanke, dass das nächste Krankenhaus nur ein paar Schritte entfernt ist, hat geholfen. Das Sonnenöl riecht leider immer noch billig. 

Sonntags wird saubergemacht. Die Krankenschwester hat alle zwölf Paar Schuhe der Familie in Seifenlauge eingeweicht und sie zum Trocknen auf den trockenen Brunnen gestellt. Der Teenie-Sohn der Katholikin wäscht in zwei einem Plastiktrögen Wäsche. Was dann doch irgendwie ein guter Anblick ist; Haushalt ist normalerweise Mädchen- und Frauenarbeit.

19.11.

Der Tag hier hat verlässlich zwölf helle Stunden, für mich meist noch ein paar dunkle mehr, weil ich einfach nicht länger als 4.30 Uhr schlafen kann. Aber trotzdem komme ich gerade so dazu, die allerwichtigsten Dinge zu erledigen: den Sonnenaufgang würdigen, die drei T-Shirts im Waschbecken waschen, die ich im Wechsel anziehe (das Trocknen dauert eine Stunde, waschen geht also immer). 97 Mails löschen, drei beantworten (wenn Netz da ist) oder die Beantwortung zumindest in Erwägung ziehen (drei der wichtigeren Tasten meines Rechners sind kaputt gegangen, wahrscheinlich durch den Saharastaub. Ich muss das Eszett, das Fragezeichen und das Umlaut-U per copy/paste schreiben, sonst ergibt nichts mehr Sinn. Oder soll ich etwa alle Fragezeichen durch Ausrufezeichen ersetzen! Das sieht doch nicht aus, das ruiniert mir doch den Ruf), ein paar Notizen machen, was Kleines schreiben, den Sonnenuntergang würdigen. Der Rest des Tages geht mit dem Planen, Einkaufen, Kochen und Verzehren von Mahlzeiten drauf. Und während man das alles erledigt, passieren die ganzen unvorhergesehenen Dinge. 

Zum Beispiel: Ich sitze am Tisch, die Sonne wärmt langsam, und versuche, eine Mail zu schicken, bevor das Internet um 7.30  Uhr nicht mehr geht. Da kommt Abdoulaye die Treppe hinauf, in Begleitung einer jungen Frau mit Hijab. Er stellt uns vor, sie ist sehr schüchtern, er übersetzt mein Französisch in Moré. Ich verstehe nur überhaupt nicht, warum er die Dame hinaufgeführt hat und was ich für sie tun kann. Es geht hin und her, er versucht es noch mal zu erklären, gibt schließlich auf. Ich hole Denise aus der Kantine, sie soll übersetzen. Was ich meine, verstanden zu haben: Die Frau kam auf dem Weg aus einem anderen Ort in den nächsten im Operndorf vorbei oder zu Besuch. Und weil man aber nicht einfach durch einen Ort geht oder fährt, ohne sich vorzustellen (man dringt bei uns ja auch nicht in eine Wohnung ein, ohne Hallo zu sagen), aber noch niemand von der Schulverwaltung da war und Jeannette, die älter ist und damit mehr Autorität hat, noch schlief, wandte sich Abdoulaye an mich als die Verantwortliche. 

Neulich auch morgens kam ein alter Mann mit weißer Häkelmütze vorbei, den ich am Vortag beim Baguetteholen kennengelernt hatte. Also: Ich sagte Bonjour, er fragte, wie es gehe, wir schüttelten Hände, dann hielten wir Hände, bis die Unterhaltung vorbei war und währenddessen  hatte ich ihn ganz offenbar eingeladen, bei uns vorbeizuschauen oder er sich selbst, wer weiß das hinterher schon so genau. Er stand also in der Küche, ich hatte noch nicht gefrühstückt, weil das Internet so gut war, ich war unterzuckert und schon ganz fahrig, und sah mich leider außerstande, ihm eine halbstündige Tour durchs Dorf zu geben, wie das sonst für Spontanbesucher gemacht wird, die hier verlässlich auftauchen. Mein schlechtes Gewissen plagt mich jetzt noch. Der weite Weg, der arme Mann.

Oder: Wir sind in Ziniaré, Eier kaufen oder so. Jeannette möchte noch bei einer – nein: der Wäscherei vorbeifahren. Da steht eine stolze Frontlader-Waschmachine sehr prominent im Laden, ziemlich sicher die einzige von hier bis Ouaga. Jeannette gibt etwas ehemals Weißes zum Waschen und Bügeln ab, fragt bei der Gelegenheit nach einer Schneiderei. Gleich nebenan ist eine, aber die Frau dort kann nur Tops und Röcke, nicht aber Hosen. Das Mädchen von der Wäscherei, Elisabeth, steigt mit uns ins Auto und zeigt uns, wo der Schneider seinen Laden hat, der Hosen nähen kann (am Karitébaum nämlich. C. fragte neulich, wie meine Adresse lautete, er wolle mir was schicken. Ich schrieb: »Ganz komplizierte Frage, praktisch nicht zu beantworten – zumal ich nur noch anderthalb Monate in Afrika sein werde.« Orte werden anhand von Gebäuden, Märkten oder eben Bäumen beschrieben: »Gelegen an der großen Moschee gegenüber des Supermarktes«, »Am großen Markt unter der Treppe der UBA-Bank«. Post transportiert man am besten per Buschtaxi oder Moped und per mündlicher Absprache. Der Empfänger oder ein Abgesandter wartet an einem Haltepunkt und nimmt das Dokument oder die Fracht in Empfang. Ich frage mich: Wie haben das die Leute vor der Erfindung von Handys gemacht). Der Schneider jedenfalls kann uns beiden aus unerfindlichen Gründen nicht in die Augen schauen, aber er kann sehr gut nähen, davon kann man sich mit einem Blick in die Fotoalben auf dem kleinen Tischchen überzeugen. Dort, eines der Cover zeigt Rihanna ca. 2006, hat er entwickelte Bilder seiner Kreationen einsortiert, die Köpfe der Models sorgsam abgeschnitten oder -geklebt. Ich entdecke ein buntes Ensemble aus Kaftan und Hose, dessen Schnitt mir gefällt. Ich frage, wo ich Stoff herbekommen kann, der Schneider deutet nach nebenan. Da ist ein Stand mit einfarbigen Wollstoffen. Ich kaufe drei Meter von dem schweren, schwarzen Tuch, zahle (ohne das eigentlich obligatorische Handeln) sehr wenig Geld, aber immer noch mehr, als ich für die Näharbeiten bezahlen werde, bringe den Stoff zum Schneider, der vermisst mich, ich sage, was mir wichtig wäre, zwei Tage später bin ich, ich wollte eigentlich nur Eier kaufen, Besitzerin eines mit antiker Singer-Maschine genähten Gewands, dessen Stil F., nachdem ich ihm ein Bild geschickt habe, mit »African Goth« treffend beschreibt. 

Oder: Ich setze mich kurz auf die Treppe, bevor ich anfangen will zu arbeiten. Gerade ist große Pause, in der die Kinder zu Mittag essen und spielen. Denise kommt aus der Kantine, ruft »La Anne!« sie setzt sich neben mich und fängt an, mit ihren Fingern meine vor Trockenheit schnittlauchigen Haare zu kämmen - gleichzeitig eine mütterliche und neugierige Geste. Wir sprechen über den Zustand von Nafissa, die Malaria hat, aber auf dem Weg der Besserung ist. Sie haben ihr Paracetamol gegeben, die Standardbehandlung, Montag sei sie wieder in der Schule. Edwige kommt dazu. Wir sprechen über dieses Gewürz, das ich einer zahnlosen Frau auf dem Markt abgekauft habe, das aussieht wie zu Bällen geformte Ziegenköttel und so ähnlich riecht, am Ende lädt Denise uns für einen der kommenden Abende zum Essen in ihr Zuhause im nächsten Dorf ein. Als geklärt ist, wie wir dahin kommen (»Wir laufen, es ist nicht weit« – ein Satz, der vielleicht mit Vorsicht genossen werden sollte), fragt Edwige, wann ich mal wieder in den Unterricht käme, die Kinder hätten nach mir gefragt.

Ich mache also zwei Stunden Lala-, Lolo- und Lalé-Schreiben auf den kleinen Kreidetäfelchen mit (einer der Kleinsten bemalt mit der weißen Kreide lieber seine nackten Beine, unbemerkt von der Lehrerin, das sieht zugegeben auch sehr viel schöner aus), schaue mir die Zeichnungen von Mangos, Bananen und Plastikeimern an, die Edwige mit Punkten von 1 bis 10 bewertet hat (ich muss dabei an die Bienchenstempel im sogenannten Muttiheft meiner Post-DDR-Grundschule denken), und versuche mir dabei die jeweils vorn ins Heft geschriebenen Namen zu merken: Aboubacar, Casimir, Sosthène, Moussa Joachim Olivier, Guémilatou, Epiphanie, Aminata, Mariata, Sidiki. Als die Schule aus ist, nimmt mich Edwige auf ihrem Moped mit zum Gebet in einer Ecke des Kirchenhofs, fünfzig Leute auf gemauerten Sitzreihen im Schein von Neonlicht, die zu behutsamen Trommelklängen mit Kopfstimme Lieder für Maria singen, manche auf Knien, die Kinder haben ihre eigenen Reihen und Zeilen und klatschen Triolen auf jeden Schlag der Erwachsenen. Ich habe ihr erzählt, ich sei Protestantin, deshalb müsse sie mir alles zeigen. Ich hab es nicht übers Herz gebracht, ihr die schreckliche Nachricht von meiner Gottlosigkeit zu überbringen. Außerdem habe ich ein bisschen Angst, dass sie mich dann missionieren wollen könnte. Sie stellt mir dem Pfarrer vor, abgesehen vom Mossi-König und den Chiefs der erste dicke Mann seit Wochen. Edwige stellt mich als deutsche Protestantin vor, er sagt: »Ach, ist doch alles das Gleiche!« und erzählt von seinen zwei Jahren Deutschunterricht. Auf dem Rückweg fahren wir noch bei ihrer Tante vorbei, der Edwige eine Anderthalbliterflasche Dolo bringt, selbstgebrautes Hirsebier. Zum Abschied kauft mir die Katholikin, ich kann nicht schnell genug protestieren, eine Wassermelone und acht Eier. 

Oder: Ich will den Ausflug in den Südosten nach Tiebelé machen, von dem ich seit Tagen spreche. Ich packe ein paar Sachen zusammen, organisiere ein Busticket für die vier Stunden Fahrt und eine Übernachtung in einer traditionellen Rundhütte mit der Option, auf dem Dach zu schlafen, Jeannette fährt mich am frühen Morgen nach Ouaga, verschiedenes Nervenaufreibendes passiert, ich entscheide, dass es den Aufwand nicht wert ist – was ist schon ein königlicher Hof mit 450 Bewohnern. Am Ende sind wir zum späten Mittagessen zurück im Dorf, komplett erschöpft, erhitzt und ausgetrocknet. Um mich endlich aus dem Nest zu schubsen, buche ich ein Zimmer im größten Nationalpark Ghanas, der mit den Elefanten und Leoparden. Ich habe jetzt noch genau sechs Tage, um ihn zu erreichen.  

Zwischendrin rasen pro Minute drei Dutzend Bilder vorbei: In der Toilettenkabine des Herrenmenschensupermarktes, wo es sogar Klopapier gibt, klebt ein Schild: »PISSEZ A L’INTERIEUR SVP«, ich finde die Aussage (Bitte drinnen pissen! Wo denn sonst, vor die Tür?) verwirrend, aber die Kombination von »PISSEN« und »Wären Sie so freundlich« schön. Ein Mann auf dem Moped, der zwischen seinen Beinen und halb auf seinem Schoß drei ausgewachsene Schweine transportiert, das Blut rinnt ihnen aus den offenen Schnauzen. Die Decke auf dem Markt, auf der ein sehr alter, klappriger Mann mit einem dieser spitz zulaufenden Strohhüte auf dem Kopf seinen Zauberbedarf ausgebreitet hat: Affenköpfe, getrocknete Chamäleons, Pfoten, von denen ich hoffe, dass sie nicht Leoparden gehörten. Fotografieren ist strengstens verboten, wegen der Magie. (Als ich neulich die Henne mit ihren neun frisch geschlüpften Küken fotografierte, wies mich die Besitzerin darauf hin, dass ich vorher hätte fragen sollen. Niemals die Beseeltheit der Lebewesen und Dinge vergessen.) Auf der Straße nach Ouaga steht auf einmal einer dieser schönen blauen Vögel mit dem weißen Schweif mitten auf der Fahrbahn, wir rasen im Pick-up auf ihn zu, er dreht sein Köpfchen, schaut uns mit seinen Knopfaugen an, ich schreie, aber er fliegt nicht weg, als ich mich umdrehe, stieben Federn auf, das Köpfchen ist abgerissen. Eindeutig Selbstmord. Oder das Vögelchen war sehr verträumt. 

Auf dem Markt in Ouaga, wo sie das Gemüse so schön aufstapeln und wir vor lauter Freude über Blumenkohl, Radieschen und Sellerie viel mehr kaufen, als wir essen können (also Jeannette kauft. Ich sage zu den sich um uns drängenden Händlerinnen immer nur: »Maman macht das, ich stehe hier nur«, sie lassen dann schnell von mir ab). Eine im Schatten vor ihrer Auslage sitzende Frauengruppe mit schönen, bunten Kleidern und aufwendigen Frisuren ruft mich zu sich, sie hätten ein Geschenk. Die in der Mitte hält mir ihr Baby hin, vielleicht fünf Monate alt. Der Junge hat ganz helle und glatte Haut, wie eine frisch aus der Schale gefallene Kastanie (»Er war noch nicht mal oxydiert«, sage ich später zu Jeannette, das Kind möge mir verzeihen), und ist klein genug, um keine Angst vor mir zu haben. Er sitzt auf meinem Arm, sieht mich unverwandt an und zieht ein bisschen an meinen Haaren. »Nimm ihn mit nach Deutschland, ich brauche ihn nicht«, sagt die Mutter und lächelt nicht dabei. 

»Das ist doch nicht normal«, hat Issa bei all solchen Gelegenheiten immer gesagt. »Ich glaube, hier schon«, habe ich geantwortet. 

 

17.11.

Geschäftsideen für den Fall, dass ich einfach hier bleibe:

Die Früchte der Wüstendattel, die die Kinder jeden Tag von den Bäumen schütteln und deren weniges bitter-süßes Fruchtfleisch sie essen, als neues Superfood vermarkten. Das Öl hilft laut der hiesigen traditionellen Medizin bei Hautproblemen, die Kerne bei Verdauungsschwierigkeiten, der Saft bei der Produktion von Muttermilch. Die Stengel dienen als Zahnbürsten, aus der Schale kann man Seife machen. Millenial-Mütter: Bitte schon mal aufgeregt werden.

Design-Beratung für westliche Modelabels. Für Marni und Prada habe ich diverse Musterideen, für Ermenegildo Zegna das Leitmotiv für die kommenden Sommerkollektion: Motandi lief hier heute in einem Anzug-Ensemble auf, das die Welt der Herrenmode revolutionieren könnte (wovon ich so träume): einen hellgrauen Anzug, der aus einer weiten Hose mit Aufschlag und Bügelfalte bestand und einem kurzärmligen Sakko mit vier Knöpfen, aufgesetzten Taschen und weichen Schulterpolstern, das er geschlossen trug und somit als Hemd behandelte. Mood: halb Armani, halb Safari. Dazu schwarze Stiefel. Irre gut sah das aus. 

Ich gebe, so werde ich das nennen, Native Meditationskurse für europäische High-Potentials mit Stressproblemen, bei denen sie einfache burkinabische Alltagsaufgaben bewältigen müssen: bei der Bank Geld holen, zum Beispiel, wenn da mal wieder das Internet kaputt ist. Nervös werden bringt gar nichts, brüllen nicht, fluchen oder drohen, jemanden feuern zu lassen: rien.

Visa hat die Ersatz-Karte geschickt, sie sieht aus wie eine Chinakopie einer echten Kreditkarte, mit verschwommen aufgedrucktem Logo, ohne Chip, keine dazugehörige PIN. Geld bekomme ich damit hier keines, an keinem Automaten oder Schalter des Landes. Bezahlen kann ich damit – das kann man sich im Visa-Headquarter in Miami nicht vorstellen – ausschließlich in den drei Luxushotels Burkinas, die sich alle in der Hauptstadt befinden. Das rechteckige Stück Plastik ist in dieser Ecke der Welt genau das und wertlos. 

Meine Mutter hat mir also über Western Union eine größere Summe gekabelt. Aber die Dame bei der Ecobank, wo ich die Security-Männer mittlerweile mit »Ich bin’s!« begrüße, schickte mich nach einer ersten Konsultation zurück in den Vorraum, wo ich ihrem Kollegen bei der Arbeit zuschaute, der der erste Mensch hier war, den man einen schwulen Habitus unterstellen könnte - die Art, wie er sich bewegt etc. Anders als in Ghana ist Homosexualität in Burkina nicht illegal, in Ouaga soll es sogar einen verdeckten Gay Club geben, er heißt Matata. Nach einer dreiviertel Stunde werde ich wieder reingerufen und weggeschickt. Keine Verbindung zum Computer möglich. Tja, ja. Y’a pas de problème. Dann versuche ich es morgen wieder. Schönes Detail allerdings: Im Wartebereich saß einer in einem grünen Poloshirt des Heimat- und Kirmesvereins Niederreißen, »Die Scheune rockt«.

Derweil verrohen auf unserer Küchenterrasse die Sitten: Issa ist mittags zum Flughafen gefahren, meiner Ansicht nach viel zu spät, um seinen Flug nach Dakar noch zu erwischen, aber offenbar haben sie ihn mitgenommen. Zum Abendessen teilen Jeannette und ich uns eine Packung Chips.

16.11.

Es ist Issas letzter Abend, bevor er zurück nach Hause fliegt. Den Abschied feiern wir leider nicht vor der Kneipe mit dem schönen Namen Bar contact aux amis, sondern vor der anderen, die keinen Namen hat, nur eine große Bierwerbung an der Ecke. Sie liegt an einer Kreuzung, wird flankiert von mehreren Grills, auf denen kleine Fleischspieße garen. Ganzen Fisch gibt es auch, aber wie Jeannette immer zitiert: »Die Kühlkette, die Kühlkette!«. Burkina hat bekanntlich kein Meer, nur einen von Seerosen befallenen See inmitten Ouagadougous, aus dem sie Fisch ziehen. Und Bilharziose, im Zweifel. 

Wir bestellen Dutzende Lammfleischspießchen, dazu gibt es Baguette. Die Bar hat nur Bier und Limo, aber man kann auch nur Gläser mit Eiswürfeln bestellen und sich eigene Getränke mitbringen. Der Weinladen schräg gegenüber führt eine kleine Auswahl, wie üblich und mir unbegreiflich alle rot, aber es ist auch ein halbtrockener Rosé dabei. Unter normalen Umständen nicht genießbar, aber hier schmeckt er irgendwie. Im Regal stehen auch drei Flaschen Moët & Chandon, gar nicht mal so teuer. Also für unsere Verhältnisse. 

Issa hat sich schick gemacht und seinen weißen, am Kragen bestickten Kaftan angezogen, darunter die passende Hose. I am a sucker for Männer in nachthemdenähnlichen Gewändern, es ist einfach so. Wir entscheiden uns für einen Tisch und drei Plastikstühle am Rand der nach allen Seiten offenen Bar, Blick Richtung Straße. Es läuft erst dieser alte Riesenhit von Akon, Issa und ich fiepen mit und wiegen unsere Oberkörper hin und her: »I am lonely/So lonely«, dann kommt fiebrige polyrhythmische Trommelmusik, aber auf der weiß gekachelten, leicht erhöhten Tanzfläche ist leider trotzdem nichts los. Alle Gäste – Frauengruppen, Männergruppen, gemischte Gruppen, Familien mit müden Kindern – sitzen und saugen an ihren Getränken, essen. Die Hijabs und Burkas, die das Straßenbild tagsüber bestimmen, sind Push-ups und Minikleidern gewichen. Die gut gelaunte Kellnerin mit den kurzen Haaren tanzt mit angewinkelten Armen und geballten Fäusten wie eine Dampflok durch die Reihen und nimmt Bestellungen auf, zwischendurch setzt sie sich immer wieder an verschiedene Tische und quackelt mit Gästen. Eine Papaya-Verkäuferin kommt vorbei, sie beleuchtet die Ware auf dem Tablett mit der Taschenlampe in ihrem Telefon, wir kaufen eine Frucht als Dessert. Ein super Ort ist das hier. 

Wir sprechen über Träume. Ich erzähle von dem einzigen aus meiner Kindheit, an den ich mich noch erinnere: Ich schaute aus meinem Zimmerfenster auf den Hof hinaus und im Gebüsch stand ein riesiger weißer Bär aus Plüsch (das war noch, bevor wir in Disneyland waren) mit einer Steckdosennase und winkte weder freundlich noch bedrohlich. Janne schrieb neulich, sie hätte geträumt, dass der kleine Vampir seine ersten Worte gesagt hätte: den vollen Namen von F. Meine zwei wichtigsten Menschen, durch die Worte eines Babys vereint in einem Traum, der nicht meiner ist: Wo ist die Deutungshotline, die ich anrufen kann und die mir das mal bitte aufschlüsselt. 

Issa sagt, er träume hier so gut wie nichts. Jeannette versucht den Kinder ihrer Theaterklasse deren Träume zu entlocken, aber nur ein Mädchen versteht, was Jeannette meint, wenn sie nach den Bildern fragt, die die Kleinen nachts sehen. Das Mädchen, Nafissa, träumt von einem Geburtstagskuchen. Edwige, die Katholikin, sagte eines Abends, als sie sich nach dem Schultag auf dem Weg nach Hause machte und wir ihr schöne Träume wünschten: »Ich bin Burkinabin, wir träumen nicht«, und wir rätselten noch etwas, wie genau sie das meinte.  

15.11.

Wie immer wache ich auf, als es noch dunkel ist. Da draußen gibt es ein neues Geräusch,  wie das Piepen eines Autotürschlosses, das man mit der Fernbedienung bedient. Ein Vogel vielleicht. Es gibt diese umwerfende Arbeit von Kader Attia, Mimesis as Resistance. Sie besteht aus einen Ausschnitt aus einer Tierdokumentation über den Prachtleierschwanz, der mit seinem kleinen Schnabel Umgebungsgeräusche perfekt imitieren kann. Dringen Menschen in seinen kleiner werdenden Lebensraum ein, macht er Fotoauslöser-, Motorsägen- oder eben Autotürschlossverschließgeräusche. Issa hat von dem Bar-Restaurant erzählt, das Kader Attia in Paris betreibt, La Colonie, im Logo ist der Name durchgestrichen. Ein Ort gegen alles, was falsch läuft in der Welt. Ich glaube, ich würde Kader Attia gern mal kennenlernen. 

Ich gehe von meinem Häuschen hinüber zur Küchenterrasse. Vor dem Karton, in den wir unsere Abfälle werfen, liegt die zerfetzte Plastiktüte, in der die Schafsfleischwürstchen waren, die wir zum Abendessen hatten. Der Beutel mit den Baguettes von gestern ist offen, der Inhalt dezimiert und vertrocknet, unterm Tisch liegen Krümel. Die mageren Katzen, die immer mit vor Schreck geweiteten Augen vor mir wegjagen, können das nicht gewesen sein, ebenso wenig die Hunde, die Ziegen, die Hühner oder irgendwelche anderen schlauen Vögel. Jeannette ist überzeugt, dass es hier Affen gibt, nur haben wir sie noch nie gesehen. 

Der Lehrerin der ganz Kleinen, Edwige, die alle nur die Katholikin nennen, hat mich in ihren Unterricht eingeladen. Sie hat bemerkt, wie ich sie und ihre Klasse aus der Ferne beobachtete, beim morgendlichen Durchzählen und Ins-Klassenzimmer-Laufen. Als ich mir am Abend zum wiederholten Mal das Flagge-Einholen ansah, weil ich nicht genug bekommen kann von singenden Kindern, sagte sie: »Komm doch mal vorbei. Wir fangen um 7.30 Uhr an.«

Also stehe ich am nächsten Tag vor dem Häuschen. Die Kinder, es sind zwanzig Fünf- bis Siebenjährige, drei von ihnen fegen den Klassenraum mit Reisigbesen, wie jeden Morgen, sind erst schüchtern (außer Aziz in seinem Angry-Birds-Sweater, er tanzt lachend vor mir herum, bis ich und ein paar andere mitwackeln), aber als ich sage, ich würde gern ein Foto von ihnen machen, rasten sie regelrecht aus und drängeln sich kreischend aufs Bild. Noch lustiger wird es, als ich ihnen das Bild zeige. Dann kommt Edwige auf ihrem Moped angefahren, in einem leuchtend pinken Wollpullover und einem Wickelrock, und sofort zieht Disziplin ein. Sie gilt als die netteste der Lehrerinnen und Lehrer hier. Sie gibt mir einen Platz auf einer der hintersten Bänke und nach ein paar Minuten Unterricht, die Ruhe nur gestört von ein paar krächzenden Hustern und dem Kratzen der kleinen Plastikbadelatschen auf dem Boden, dreht sich dann kaum noch jemand nach mir um. Die erste Lektion heute ist Lesen und Aussprache. Die Schüler sprechen zu Hause Moré, Französisch lernen sie erst hier. An der Tafel steht eine lange Reihe von Buchstaben, die von jedem Kind (mit Ausnahme des Sohnes der Operndorf-Krankenschwester, der Trisomie hat, und einem zu kleinen Jungen) der Reihe nach mit dem Zeigestock an der Tafel stehend vorgelesen werden: 

e e e e  e e e e

è è è è  è è è è

ê ê ê ê  ê ê ê ê

é e é é  é é é é

Schon das ist ein Psychogramm des jeweiligen Kindes, denke ich beim leise Mitmurmeln. Wie fest die Stimme ist, wie genau die Aussprache, wie schnell, wie hastig das Lesen, wie laut die anderen dazwischenquaken, wenn ein Fehler passiert. La Maîtresse Edwige sagt nach jedem Mal entweder: »Das war gut«, »Das war ziemlich gut« oder »Das war sehr gut. Applaudieren wir ihr!« und dann wird geklatscht.

Als die erste Stunde vorbei ist und alle zum Trinken an den Brunnen oder zum Pinkeln laufen, steige ich wieder die Treppe zur Küche hinauf. Als ich in mein trockenes Baguette beißen will, und in die Ferne in die Landschaft rausschaue, blinkt auf einmal der Himmel. Wie eine Diskolampe ist er in einem Moment bläulich, dann wieder gelb. Ich frage Jeannette, ob sie LSD ins Kaffeewasser gemischt hat, aber sie verneint das. Wir gehen kurz alle möglichen Krankheiten durch, aber ich habe alle Impfungen brav absolviert, Malaria fühlt sich anders an. Issa sagt, das sei die Überanstrengung, worauf ich lache und sage, dass ich hier ja nichts täte außer schauen und schreiben. Er erinnert mich an seine Krankheit, er war erschöpft vom Filmen und Schneiden und hatte über Tage zu wenig getrunken und gegessen. »Und dann kamen nacheinander alle im Operndorf zum Krankenbesuch vorbei, besonders häufig waren die Lehrerinnen an deinem Bett«, sagt Jeannette und zwinkert. Issa schaut unverständig. Das sei ganz normal. Wenn jemand krank sei, kämen in Afrika alle zu Besuch und erkundigten sich nach dem  Wohlergehen der oder des Kranken. »Auch bei ansteckenden Krankheiten?«, will ich wissen. »Auch dann.« Ich entscheide, dass ich an kalorischer Unterversorgung leide und lege mir extraviel Käse aufs Brot. Aber es ist nunmal schwer, gut und viel zu essen, wenn man weiß, dass viele um einen herum das nicht können. 

Nach dem Mittagessen sagt man in Burkina übrigens »Bonsoir«, also gern ab halb zwei Uhr. Das dehnbare Konzept von Zeit: unendlich interessant. 

14.11.

Die Messe (meine erste) und das Mossi-König-Ritual (auch mein erstes), für die ich mich ja von unserem kleinen Zauberberg hier in die große Stadt bewegt hatte, waren dann gleichermaßen interessant. 

In der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis, ein neo-romanischer Lehmziegelbau mit zwei wie abgebrochen wirkenden Türmen, herrscht geordnetes Chaos: Staub an den unebenen weißen Wänden, an den Säulen nachträglich angebrachte Ventilatoren, herumstehende Stühle, die wichtigen mit Plastikhauben geschützt. Die Holzbänke sind um Punkt 5.45 Uhr vollbesetzt,: ein paar hundert vor allem ältere Frauen und Männer, ein paar unbeaufsichtigte stille Teenager auch, ein Dutzend Nonnen, ganz in weiß und mit Kreuzketten um die Hälse. Bevor sie sich hinsetzen, wischen sie mit kleinen Lappen den Staub von den schmalen Bänken. 

Ich nehme eine der Sitzgelegenheiten im Seitenschiff, um mich herum Betende, die nur kurz aufschauen, als ich mich setze. Ein älterer kleiner Mann mit kurzen grauen Haaren kommt herein, er trägt ein buntes Hemd, das die Stallszene zeigt. Maria, Josef und der Babyjesus sind weiß, ich finde das nach wie vor sehr irritierend, darüber steht in gut gelaunter Schrift: Joyeux Noël. Ein Weihnachtshemd. Stimmt, ist ja bald soweit. Der Mann setzt sich neben mich, dreht sich zu seinem Nachbarn und schüttelt ihm die Hand, dann zu mir. Er hält meine Hand und sagt leise etwas, ich antworte versuchsweise mit »Bonjour«. Noch nie im Leben habe ich so vielen Menschen in so kurzer Zeit die Hand geschüttelt wie hier. Im Operndorf, auf dem Markt, unterwegs auf dem Land, bei den Frauen, die das Hirse-Bier brauen und verkaufen. Händeschütteln ist sehr wichtig, es ist der erste Kontakt, den man miteinander hat. Ich wurde auch noch nie so oft zum Essen eingeladen, wenn auch nur als Geste: »You are invited«, sagen die Ghanaer, »Tu es invité«, sagen die Burnikaben, wenn man sie beim Essen antrifft, und wenn es sich nur um einen Teller des süßen, flüssigen Porrigdes mit Chili und Erdnüssen handelt, das man hier zu Frühstück isst. Nie habe ich öfter gehört: »Bonne arrivée!« - Willkommen.

Von der Predigt, den Gebeten und Gesängen in der Kathedrale verstehe ich so gut wie nichts, außer ein paar Stichworten. Einmal wird gelacht, der Pastor hat wohl etwas Lustiges gesagt. Das Vaterunser erkenne ich viel eher am Takt denn am Text. Afrikanisches Französisch hört sich ja ganz anders an als französisches Französisch, wie könnte es nicht. Innerlich lege ich schon seit Tagen ein kleines Aussprachewörterbuch an:

demain - demä

aujourd’hui - ausourd’hui

ici - ichi

tension - tenchion

Als die Messe nach fast einer Stunde aus ist (auf die Hostie habe ich verzichtet) und sich die Leute nach viel fröhlicher Händeschüttelei in Richtung ihres Tagwerks zerstreut haben, führe ich einen blinden Mann über die Straße – kein Witz (also vielleicht einer von einem der Götter, die sie hier anbeten), der Mann stand da vor der Kathedrale mit seinem abgebrochenen Besenstiel und wirkte, als könne er Hilfe brauchen, was sich dann als richtig herausstellte – und mache mich auf den Weg zum Königspalast. Es handelt sich um ein inmitten des umwerfenden Stadtbildes Ouagadougous (kann übrigens bitte mal eine Fachperson einen Architekturführer erstellen oder noch besser einen Pracht-Fotoband? Ich würde es ja tun, aus reinem Eigeninteresse, aber ich verstehe leider so wenig von Baustilen und -techniken) kaum auffälliges Lehmgebäude mit einem Zaun drumherum, nur die »Fotografieren verboten«-Schilder weisen es als etwas Wichtiges und Heiliges aus. Ich frage zwei Männer, die im Schatten einer Wüstendattel sitzen, wo die Zeremonie stattfinde. Sie weisen hinter sich, und sagen, ich sei zu früh. Der Häuptling habe das Ganze von 7 auf 8 Uhr verlegt.

Gut, dann gehe ich kurz zurück ins Hotel, zum Frühstücken. Als ich wieder herauskomme, wartet vor dem Tor schon der liebe Oumar und sagt, er gehe da auch immer gern hin und könne mich gleich auf seinem Moped mitnehmen. Was sich schon wieder als Glücksfall erweist, weil er mir übersetzt, was da auf dem Platz hinter dem Palast vor sich geht. Mehrere Reihen von stehenden und sitzenden Menschen sind schon da, manche in traditionellen Kleidern, manche mit Bürokostüm und Handtasche, ich ärgere mich ein weiteres Mal, dass ich meinen Feldstecher zu Hause gelassen habe. »Da im Schatten der Mauer sitzt der König, der in Rot mit dem Stab, siehst du ihn. Die Reiter bringen das Pferd und da unter dem Dach steht der Trommler und trommelt. Die zwölf, die da in einer langen Reihe vor ihm im Staub sitzen, sind die Minister, die Häuptlinge aus den umliegenden Dörfern.« - »Was machen die für Bewegungen? Es sieht aus, als würden sie mit angewinkelten Armen und zu Schaufeln gemachten Händen unsichtbares Wasser hinter sich werfen.« - »Sie bitten um Vergebung.« Gerade als ich mir das aufschreibe und fragen will, was sie denn getan haben, knallt eine Kanone, ich lasse vor Schreck fast meinen Stift fallen.

Der Häuptling ist im Rauch verschwunden, das Pferd wird weggeführt, es ist wie bei einer Zaubershow. Dann taucht der König wieder auf, ich erkenne ihn nur nicht sofort, weil er sich umgezogen hat. Statt Rot trägt er jetzt etwas blau-weiß Gestreiftes. Es passiert noch etwas, das mir aber entgeht, weil ich damit beschäftigt bin, die Häuptlinge endgültig zu denen mit den allerbesten Outfits zu erklären. Sie tragen ziemlich viel: Jeweils ein langärmliges hochgeschlossenes, knielanges Hemd in verschiedenen Streifenmustern, eine dazu passende lange Pluderhose, darüber eine Art wadenlangen Poncho aus einem großen rechteckigen Stück Webstoff, das nur am unteren Fünftel zusammengenäht ist. Jeder von ihnen hat einen Holzstab in der Hand, eine Art Zepter. Auf dem Kopf tragen sie eine Kappe in leuchtendem Orange, Grün und Gelb, wie ich sie auf dem großen Markt gesehen habe. Als die Zeremonie vorbei ist, steigen manche von ihnen mitsamt ihrer Entourage in ihre dicken Autos, der Großteil des Publikums aber geht weiter in den Palast hinein. Wir dürfen nicht, sagt Oumar, wir haben keine Audienz. Aber wenn ich möchte, bittet er für mich um eine. Zum Abschied legen wir wieder vier Mal die Schläfen aneinander. Wie ich mittlerweile gelernt habe, ist diese Geste nichts Traditionelles, sondern eine Abwandlung der französischen Küsschen-Begrüßung.

Für F.

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