»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.7.

Aus jedem zweiten Garten roch es nach grillendem Fleisch. Auf dem Weg zur S-Bahn machte ich einen Umweg und kam in dem Wäldchen am Easy Rider vorbei. Aufgrund der schlechten Wetterlage war der Fernseher noch nicht aufgestellt, aber der Wirt trug eine Schürze in Schwarz-Rot-Gold. Die Stühle rings um den Kiosk waren leer. Am Tresen lehnte ein Mann auf seinen Krücken. Ich trug die blauen Schuhe und mit denen ist etwas. Vielleicht liegt es auch nur an deren Farbe, aber wie mich einst die Zwillinge auf der Brücke meiner Schuhe wegen angesprochen hatten, so rief mich nun auch der mit den Krücken zu sich, um mich nach dem Preis für die Schuhe zu fragen. Wahrheitsgemäß sagte ich ihm, dass ich den nicht wüsste, weil ich die einst gegen einen Text eingetauscht hatte; also dass ich damals drei Paar Schuhe gegen einen Text erhalten hatte. So entstand natürlich ein Gespräch, an dem sich auch der Wirt beteiligte. Nach ein paar Minuten kamen zwei Männer mit zwei Kindern, grüßten freundlich und kauften den Kindern zwei Eis in der Plastikdose und für sich selbst zwei Flaschen Bier. Dann setzten sie sich mit ihren Rucksäcken in den Kreis aus Liegestühlen, in dessen Mitte ein niedriger Tisch in Form einer halbierten Orange steht. Wir setzten unser Gespräch fort. Es ging um die Fundsachen, die sich den Sommer über am Easy Rider anhäuften. Nach einer Weile, wenn ein Portemonnaie nicht abgeholt wurde – und das scheint unbegreiflicherweise sehr häufig so vorzukommen – wirft der Wirt die Gegenstände, auch Schlüsselbunde darunter, in den nächsten Briefkasten. Angeblich würden die dann von der Post umgehend aufs nächste Fundbüro befördert. Wo sie wahrscheinlich niemals abgeholt werden, weil diese Menschen, die ihren Hausschlüssel dort beim Easy Rider liegen lassen, oder ihr Portemonnaie, einfach aus dem Grund nicht mehr zurückkommen, weil sie inzwischen tot sind.

Fand der Wirt einleuchtend, aber auch sehr buddhistisch (wir hatten schon ein Mal über dieses Thema gesprochen), und dies aussprechend, schaute er lachend hinüber in die Sitzecke, wo vor einigen Minuten noch die zwei Männer mit den Kindern pausiert hatten, und sagte dann: »Hey, das gibt’s ja gar nicht. Meine Buddhastatue ist weg!«

In der Tat säuselte dort, auf dem abgesägten beschnitzten Baumstumpf, der seiner Buddhastatue als Aufstellungsort diente, bloß noch ein einsames Räucherstäbchen. Wie näherten uns zu dritt der Stelle, durchstreiften das Gras und das Gebüsch und sahen sogar unter der Hollywoodschaukel nach. Aber der Buddha, vielleicht fünfzig Zentimeter hoch, aus Zement, fünf Kilogramm schwer, war verschwunden. Und er war, dessen war ich mir hundert Prozent sicher noch dort gestanden, als ich gekommen war. Der Wirt schwang sich aufs Fahrrad, um die Tempelräuber noch an der S-Bahn zu erwischen, aber er schaffte es nicht mehr. Obwohl die Bahnen dort im Elf-Minuten-Takt abfahren, hatte er die letzte wohl knapp verpasst.

Noch wirkte er heiter, ein bisschen empört, aber ich wusste aus Erfahrung, dass er mit einer verzögerten Wirkung dieses Übergriffs rechnen musste. Aus seinem Kiosk holte er eine Querflöte im kleinen Koffer, die gestern erst jemand dort vergessen hatte. Wir bewunderten das schöne silberne Instrument aus England, laut Stempel, das graviert war mit den Initialen ACK. Querflöte samt Koffer passt nicht in den Briefkasten. Querflöte ohne Koffer halt schon, aber. Na gut, aber ich fand ja auch häufig einzelne Schuhe im Wald und frage mich noch immer bei jedem einzelnen davon: Was ist da wohl genau passiert? Und da, als ich dabei war, mich zu verabschieden, setzte die Latenzwirkung ein, der Wirt sprach nun davon, wie er sich fühle, so benutzt und bestohlen worden zu sein. Vor allem auch, dass die es vor den Kindern getan hatten. Und wir dachten kurz an die Frau des Tempelräubers, die sich vielleicht sogar freuen würde über den Buddha, der im Badezimmer so gut neben die Aromastäbchen passt, und sie fragt ihn: Hast Du mir den gekauft? Vielleicht lügt er, vielleicht würde er ihr die Wahrheit sagen. Schwer zu sagen, was schlimmer wäre.

2.7.

Eineinhalb Stunden mit Beate telefoniert. Zuerst ging es um Berlin und die Volksbühne, dann um Bayreuth und um alles dort und ich dachte: darüber (Bayreuth) solltest Du ein kleines Buch schreiben! Worüber denn sonst? Und ich sagte: »Dann muss ich da aber auch ein paar Wochen lang hin – off season«. Beate hatte das akustisch nicht verstanden, also wiederholte ich den Satz, und dann: klar – was ist denn Bayreuth schon ohne die Festspiele? Wusste sie auch nicht, aber aus der Erinnerung: »ein reizendes Barockstädtchen«. Und daraufhin wurde es mir noch lustmachender, diesen Text schreiben zu dürfen.

Und Beate las mir ihren Text am Telefon vor, einen offenen Brief an die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde von München, Frau Charlotte Knobloch, die anscheinend verdanks ihrer politischen Funktion verhindern kann und konnte, dass in München Stolpersteine gesetzt werden (weil dann »die Juden wieder mit Füßen getreten werden«). Text sehr gut, durchdacht, tief empfunden, erfahren, in der Sprache einfach. Beate befürchtet, dass der Chefredakteur ihrer Zeitung ihren Text nicht abdrucken lassen wird. Ich riet ihr zu einem Blog.

Vermutlich, also meiner Erfahrung nach, ist es das Größte, was einem ein anderer Mensch schenken können wird, dass er bei angeschaltetem Telefon einschläft. Dann liegt dort auf dem Leintuch das schwarze Rechteck, durch das seine Atemzüge übertragen werden (Lautsprecher). Und man selbst bleibt wach, geht umher und hört immer wieder gebannt: eben keine Lokomotive. Und dennoch denkt man: weiter so, weiter, weiter, weiter.

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