»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

29.6.

Um 5 Uhr 11 in dem bestimmten Gefühl erwacht, dass sich draußen etwas Außerordentliches ereignet hatte. Der Garten hatte sich bis in die Wipfel hinauf mit Nebel gefüllt, so dicht, dass das Wasser des Sees nicht mehr zu erkennen war. Alles grau im Dunst, aus dem die tiefgrün und satt belaubten Zweige herausstachen teilweise, manche blieben nur sichtbar wie in einem beschlagenen Spiegel im Badezimmer.  Es fehlten nur noch ein paar Gorillas. Dazu die Vögel, es war dies ja ihre Morgenstunde, die schrien wie immer, aber nun klang es so, als schrien sie wie wild. Ich selbst war noch ganz müde und vom Träumen verklebt, es war ein Traum gewesen, der viel von den Raffinessen der französischen Backkunst erzählt hatte, die ja, insbesondere bei den kleinen Kuchen, eine auf megahohem Niveau ist – ganz nebenbei oftmals auch, und, selbst in randständigen Bäckereien: für alle verfügbar und einfach so; da hätte ich jetzt einerseits sehr gerne noch länger davon mir erzählen lassen, andererseits wusste ich aber, dass diese außerordentlich schöne Naturbildsituation sich mit jeder weiteren Viertelstunde würde auflösen in etwas weniger Außerordentliches. Es handelte sich also um einen bezwingenden Anblick. Also gab ich mich hin. Und wurde unter anderem belohnt durch das Keckern des Eichelhähers, irgendwo, unten links wie immer, aber heute in einem unscharfen Grünkleks treibend, im Schleier des einen Nebels. Selbst das Klappern seines Schnabels, das ich ansonsten nicht mag, klang nun irgendwie tropisch durch die Surround-Erfahrung. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster und berührte den Film warmen Taus auf einem Kirschenblatt.

Als es hell geworden war, hatte sich das Mystische in dem Bild ins Gelbliche verflüchtigt. Und wieder einmal frage ich mich, warum ich meine Träume nicht fortsetzen kann.

28.6.

Eine andere Stille, ein anderes Blau, die Stimme sagt »Hier ist zum ersten Mal seit zehn Tagen das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau« (ich fand es am Morgen schon so komisch, die Zeitung zu lesen. Im Politikteil schien alles so stehengeblieben, im Feuilleton, so kam es mir vor, vergeht die Zeit eher rückwärts, sobald ich eine Weile nicht hinschaue – mein bannender Blick).

Angeblich sollte es die Nacht hindurch regnen, tat es aber nicht; zuletzt lag ein goldener Schein auf dem See. Der Mond stand als klassische Sichel zwischen den Wipfeln. Das deutsche Gebiet ganz in Signalrot auf der Karte im Wetterbericht. 

Mit Lupinenkernen und dem Wetzen der Schwalben lässt sich das Gefühl einer Ankunft, des allmählichen Übergangs, dehnen. Das des Zusammenseins nicht. Das des Ohne-einanders nicht. Nicht einmal im Warmen auf einer Anhöhe sitzend, mit dem Blick auf das Wasser, umgeben vom nächtlichen Grün. 

27.6.

Schön, wenn man mehr als eine Heimat kennt. Beim Landeanflug auf Frankfurt neigte sich das Flugzeug über der Innenstadt in eine Kurve, sodass für ein paar Augenblicke dort unten die Türme sich zeigen konnten: verheißungsvoll. Bald schon würde sich dort noch ein weiterer in die Höhe schrauben. Gleich hinter meinem lieben Einkaufszentrum übrigens, dem Skyline Plaza, wird seit ein paar Wochen am allerhöchsten Hochhaus von allen gebaut. Es heißt The Tower! So viel ist schon bekannt.

Gut wäre beim Fliegen, wenn man auch unterwegs schon aussteigen könnte, aber so wurden wir auf der Fahrt vom Flughafen wieder zurück ins Zentrum, das wir ja zuvor bereits genüsslich im Fluge überquert hatten, mit lieblichen Ansichten vom sonnenbeschienenen Waldboden sowohl vor, als auch nach dem ehemals Waldstadion genannten Stadion, verwöhnt.

Nicht alle Pflanzen hatten es überlebt, andererseits waren sie auch nicht sämtlich verdorrt auf dem heimischen Balkon, sodass man dem mit dem Gießen beauftragten Nachbarn weder ein ehrliches Lob hätte aussprechen können, noch aber ihn wütend zur Rede stellen. Eine unbefriedigende, weil lauwarme Situation, die man so lauwarm wie möglich halt hinter sich bringt, ohne sich auch nur irgendwas anmerken zu lassen. Wenn auch die toten Blumentöpfe vorwurfsähnlich starren. 

Die Schwalben hier sind kleiner von ihrer Spannweite her, aber sie gaben, weil für den nächsten Tag ein großer Regen angesagt war, ähnliche Geräusche von sich, sodass der deutsche Abendhimmel dem französischen noch einmal zum Verwechseln ähnlich war. Beinahe. Denn es ist dann doch ein anderes Gefühl, wenn man von einem Hügel aus auf eine Landschaft herunterschauen kann, und von dort aus auch weit ins Land hinein bis zu den Bergen auf der einen Seite und auf der anderen zum Meer. Da stimmt vermutlich diese Theorie, dass es den Menschen über die Evolution hinweg eingeprägt wurde, dass so ein idealer Ort für eine Siedlung beschaffen ist: auf einer Anhöhe, mit Blick aufs Gewässer, umgeben vom Grün. 

Aber miteinander in einen weiten Frankfurter Innenhof hinein, mit einem freundlichen Himmel, in warmer Luft mit einem Kreisel aus Schwalben: auch gar nicht schlecht. Schön.

Wir knuspern das letzte Pfund Lupinenkerne, das sich in den Falten und Schründen der Reisetasche noch hatte verbergen lassen. Dazu einen Apfelwein vom Duttenhoferschen Apfelgut, auf dem Etikett signiert von Martina und Moritz mit ihrem Geburtstagsgruß. Es läuft eine Dokumentation über von Altersarmut bedrohte Deutsche, keine Künstler, die ihre Häuser in Deutschland verkaufen, um sich mit dem übrigen Geld noch größere und anders hässliche Häuser in Bulgarien zu kaufen, weil sie sich dort mit der schmalen Rente aus Deutschland einen ums zigfache opulenteren Lebensstil leisten wollen. Super gut gemacht, toll gefilmt, mit vielen schönen Ansichten von Schwarzmeerstrand, Dorfleben, Einkaufen an der Strandpromenade et cetera.

Auf dem Balkon der Mume eins drunter blüht es mittlerweile verhalten aus den Balkonkanistern. Als einzige Neuerung steht dort jetzt eine dicke Rolle eines Perserteppichimitates herum. Dazu ihre frisch gewaschenen Pantoffeln aus rubinrotem Samt. Schon seltsam, dass die Deutschen nach Bulgarien ziehen, um ihren Lebensabend intensiver auszuschöpfen und die Mume verlässt ihr Bulgarien, zieht hierher in die Stadt Frankfurt, vermutlich mit demselben Ziel im Sinn.

26.6.

Abschied von Cagnes-sur-Mer. Unterhalb der Dachkante des gegenüber gelegenen Hauses münden die von zwei entgegengesetzten Seiten aufeinander zugeführten Dachrinnen in eine Art Siphon, einen weitrandigen Trichter aus verzinktem Blech. Die weiße Taube (hell leuchtet ihr Federkleid vor dem gewitterschweren Wolkenhaufen über der Stadt) hat sich diesen schattigen Platz zum Nisten ausgesucht. In der Wikipedia steht, dass der Taubenhahn, in ihrem Fall ein Exemplar gewöhnlicher Stadttauben, seiner Henne diverse Nistplätze anbietet, unter denen sie auswählt. Dass dieser, den die schöne Weiße sich ausgesucht hat, ziemlich unstatthaft erscheint für unsere Augen, dazu noch niedrig und auch unbequem, spielt im Taubenmindset keine Rolle. Allerdings saß sie jeweils nur tagsüber dort, währenddessen er ihr einzelne Rispen eines Büschels wildwachsenden Thymians überreichte, anfliegenderweise. Ob daraus dann wirklich ein duftendes Nest enstanden sein würde im Trichter? Wir werden es leider nicht mehr miterleben. 

Schade auch, dass wir nun nicht mehr dem Ritual würden beiwohnen können, bei dem Jean, der Wirt der Petit Bar, allabendlich seine Topfpflanze, die drei blaßrosa Blüten hat, ins schattige Innere räumt, um die damit seiner Aufforderung zur letzten Bestellung noch stummen Nachdruck zu verleihen. Am Morgen räumt er sie dann als erste Handlung nach dem Aufstellen der Tische und Stühle auf einen Sonnenplatz hinaus.

Gestern wurde einer der beiden Sonnenschirme dort vom Mistral zerlegt, während wir unter den rauschenden Palmen lagen. Das Wasser war seidenweich und türkisfarben, mit sanftem, aber energischem Wellengang.

Eine Vorhut der Mume hatte auf dem betonierten Ufersaum Platz genommen. Mit vom Henna rübengelben Fingerspitzen wurde ein Lammbraten in olivgrüner Sauce goutiert. 

Ein Fingerzeig nach Bulgarien, unserer Abenteuerreise gleich schon im nächsten Jahr.

Das Abschiedswort heißt Au revoir.

25.6.

Eine Leerstelle in der Abfolge von Tagen wie die mit Silber gefüllte Lücke im Gebiss des Oberkellners, bei der man sich bei jedem Hinschauen fragt: Was war geschehen?

Eine durch aggressive Bazillen verursachte Halsentzündung hielt mich über zwei Tage lang hingestreckt. Erst kratzte es, dann tat es weh und ich bekam Fieber. Schließlich fielen mir von Hegel die beiden Vornamen nicht mehr ein. Als Kurort hatte ich mir den Rasen auf einer Verkehrsinsel ausgewählt, wo ich, im Schatten zweier Palmen, dem Meer zumindest nahe sein konnte. Das Wasser war warm, ab und zu tauchte ich für eine Weile dort ein, um meine Atemwege mit Salzwasser zu spülen. Ansonsten lag ich dort und las im letzten Band der Tagebücher von Ernst Jünger, wo er, da war er schon über hundert Jahre alt und beinahe tot, auf Sardinien, den letzten Strandurlaub in seinem Leben genießt. Und er beschreibt, wie seine Frau den Wellen des Tyrrhenischen Meeres entsteigt und auf ihn, den im Sand lagernden, den Tagebuch führenden Greis, zustrebt. Ihre Fußabdrücke in dem Strand sind längst verweht. Seine Sätze nicht. 

Vorgestern fingen sie hier dann mit Aufbauarbeiten an für die aufwendigen Feierlichkeiten zum 20-jährigen Jubiläum der Strandpromenade. Zwanzig Jahre – als ich, da war ich 19 Jahre alt, zum ersten Mal nach Cagnes-sur-Mer gekommen war, wie hatte es da hinsichtlich Promenadensituation ausgeschaut? Mir fehlt die Erinnerung. Ich hatte in einer Pension gegenüber des Hippodroms übernachtet, die hieß La Gelinotte, Schneehuhn. Es gibt sie nicht mehr. 

Wie schon vor ein paar Tagen in Nizza bezeugt, wo in einer schweißtreibenden Mammutaktion unter blauestem Himmel hunderte von pneumatischen Pfosten in den Boulevard des Anglais betoniert werden, um die Strandpromenade für den Nationalfeiertag abzusichern, so wurden dann auch in Cagnes in Rot und Weiß gestreifte Betonquader quer über Radweg und Spazierzone abgeladen. Bald war somit ein vom Verkehr abgeteiltes Stück Asphalt entstanden, das ich von meinem Platz auf der angrenzenden Verkehrsinsel aus gut überblicken konnte. Als ich aus einem Schläfchen erwachte, tanzte dort ein Greis, vielleicht hieß er Maurice, in Cuban heels auf Rollerblades eine Choreografie zu einer Melodie, die nur er hören konnte, weil sie in seinen Kopfhörern entstand. Ein anderer, er war mir dort schon mehrmals aufgefallen, rollte auf seinem von unsichtbarem Aggregat angetriebenen Einrad vorbei. Er ist stets ganz in Weiß gekleidet und an dem elektrischen Einrad, das hier auch die Strandpatrouille benutzt, ist bei ihm noch eine kleine Flasche mit Sauerstoff befestigt, von der ein transparentes Schläuchlein bis hinauf unter seine Nüstern führt. Zu dem auf  Rollerblades tanzenden Altersgenossen schaute er aber nicht hin.   

Nach einem Ausflug zu dem von Pinien umstandenen Antibes, wo es ja im Grunde herrlich wäre, vor allem geruchlich, wenn es die am winzigen Strande sich aalenden Briten nicht gäbe, stand alles bereit für die Feier, die, weil der runde Jahrestag des Jubiläums in die Hochsaison fiel, in jedem der für den hiesigen Tourismus entscheidenden Monate noch einmal wiederholt würde. Beim Aperitiv in der Petit Bar kam an jenem Abend, der mit einem Feuerwerk über blinkenden Minnie-Mouse-Ohren ein vorläufiges Ende fand, der Betreiber der Autoreperaturanstalt Verdun an unseren Tisch und verabschiedete sich mit Handschlag. Uns erzählte er, dass schon seine Eltern sich in Cagnes-sur-Mer kennengelernt hatten. Er selbst war hier geboren worden. Und nun war ihm in den letzten Tagen aufgefallen, dass er uns, wo auch immer er uns begegnet war, gerne gesehen hatte. Er hieß uns damit herzlich willkommen. Und Jean, der Wirt, wies uns darauf hin, dass es im Käseladen um die Ecke heute eine Platte im Sonderangebot gäbe: die ganze Platte für nur 10 Euro. Er schaute uns an: viel ist das nicht.

Heute, am Anfang des letzten Tages wird von den Alpen her ein weißes Tuch in Richtung des Meers vom Himmel gezogen, der sich, comme d’habitude, sonnig und blau zeigt darunter, als hätte er sich bloß zugedeckt.

Morgen ist mein Geburtstag. Ich werde circa eintausend Jahre alt.

20.6.

Am Haus von Auguste Renoir bleiben die Läden an der Westseite den ganzen Tag über geschlossen. Am Abend, wenn es etwas kühler wird, während die Sonne hinter die Berge sinkt, hat das Museum geschlossen. Zu ihm gehört auch der abschüssige Olivenhain, die Bäume sind mehr als 120 Jahre alt. Es muss schön sein, dort auf dem Rasen unter einem der Bäume zu liegen, nachts, wenn von Weitem der Leuchtturm von Antibes seine Lichtstrahlen abschickt, aber das ist nicht gestattet; auch der Garten wird mit dem Einbruch der Dämmerung abgeschlossen. Mit dem Fernrohr kann ich aber sogar den Giebel des Bauernhofes erkennen, in dem Renoir seine Hauswirtschafter untergebracht hatte. Die Waren des täglichen Bedarfs wurden von seinen Angestellten auf seinem Stück Land hergestellt. Eine malerische Idee. Am Abend nach getaner Arbeit schlendert man durch den Olivenhain und schaut, was die Bauern dort so treiben. Wie sie buttern oder Eier in Körbe legen. Karotten aus der Erde ziehen. In Kassel, im Höhenpark, ließ eine der hessischen Fürstinnen sich ein ganzes Bauerndorf anlegen, das zu ihrer Erbauung unter ein chinesisches Motiv gestellt wurde. Weil sich aber keine Chinesen auftreiben ließen, die dort in der Mühle und in den Küchengärten auf malerische Weise ihrer angeblichen Arbeit nachzugehen bereit waren, nahm man damals kurzerhand ein paar Neger, die ja ebenfalls exotisch wirkten. Marie-Antoinette hatte angeblich auch so ein künstliches Bauerndorf, mit Schäfern und allem. Die Frühform des Bio-Supermarktes war damals in.

Ich kann es verstehen, im Renoir’schen Sinne. Wie er neige ich zu höfischem Denken. Vermutlich eine milde Ausprägung meines Strebens nach Harmonie. Kaum bin ich hier angelangt, und alles ist schön und die Sonne scheint, vermisse ich natürlich die Mume. Obwohl ich ich ja mit ihr nicht unterhalten kann, weil ich von ihrem Bulgarisch kein Wort verstehe; und vermutlich auch nur, weil ich sie gern dabei beobachten würde, wie sie mit einem Fernrohr hinüberspäht zum Garten von Auguste Renoir, wo dann gerade, also jetzt, jemand auf malerische Weise etwas Müll verbrennt. Wie ich durch mein Fernrohr erkennen kann. Die Mume selbst besitzt natürlich gar kein eigenes Exemplar. 

Abends träfen wir sie dann in der Petit Bar, wo sie, mit ihrer vom Henna karottengelb gefärbten Fingerspitzen dem Polizeipräfekten a.D. die Nüsschen aus dem Aschenbecher stibitzte, die der dort immer für die von ihm gezähmte Taube, die auf den Namen Céline hört, hintut. Und ab und an, wenn alle hinschauten, spuckte sie dort für alle hör- und sichtbar auf den Boden vor der Petit Bar aus, wie sie es sonst daheim in Frankfurt bloß von ihrem Balkon herunter wagt. 

So wäre das Reisen schön, also noch schöner, als es sonst schon ist: Es wäre himmlisch, wenn ich mit allem, an dem ich um mich herum Gefallen gefunden habe, verreisen könnte. Beziehungsweise wenn die Heimat einfach viel größer sein könnte.

Erste Innovationen im Start-up Grande Nation lassen übrigens aufhorchen: Oreo-Kekse mit Himbeerfüllung! Direkt aus dem Kühlschrank genossen, idealerweise bei offenstehender Kühlschranktüre vor dem Kühlschrank stehend, sind die ziemlich möglicherweise geeignet, den disruptiv umkämpften After-Eight-Markt zu rasieren.

19.6.

Es war die Zeit der Bougainvilleenblüte. Schon als die Maschine sich in die Landeschleife über das weit in die Wellen hinausgebaute Rollfeld von Nizza legte, schauten wir aus dem Kabinenfensterchen die vielen weißen Segel, von Schäumen umkränzt. Die Soldatinnen trugen Sonnenbrillen zur scharf geschnittenen Uniform, eine Hand lässig über dem Holm des umgehängten Sturmgewehres präsentiert, es war Wahltag, und angesichts der an den Bäumen reifenden Orangen, der zig Meter hohe Blütenstände treibenden Americana und den in jedes Armaturenbrett eines Omnibusses eingebauten Alcometer, ohne deren Betätigung pustenderweise sich kein öffentlicher Bus starten ließ, erschien es einfach unvorstellbar und beinahe unmöglich, dass auch die Côte d’Azur bald schon so handeln, aber vor allem auch denken wollen würde wie ein Start-up. 

Gut, seitdem die Eigentümer der Petit Bar derart oft gewechselt hatten, schien nun eine Phase der Konsolidierung eingetreten, indem nämlich die allerdubiosesten Stammgäste selbst dort den Betrieb übernommen hatten. Insbesondere Marcel, der, sobald es einem gelungen war, ihn zum Lächeln zu bringen, eine seltene südfranzösische Variante des sogenannten Grills, eine silbern glänzende Leiste aus Gussstahl, entblößte, die bei ihm sämtliche Zähne des Oberkiefers ersetzt, wie ähnlich, aber dann doch wieder anders auch jener Neuzugang, der, mit glatt rasiertem Schädel und einigen im Elendsknast von Les Baumettes ihm zugefügten Tätowierungen, an den Roger Chapman der mittleren Werkphase erinnerte: Sie schienen beide a priori zunächst dazu geeignet, etwaige Neuzugänge zu der ausgehärteten Gemeinde der Stammgäste abzuschrecken; kaum aber hatten wir dort Platz genommen, um das klandestine Treiben zu studieren, stellten wir bald schon mit Erleichterung fest, dass auch die neue Petit Bar noch ganz die alte geblieben war.

Das Konservierende, das die südfranzösische Lebensqualität vermittels ihrer Waffen des Lichts, des Rosés, der Molkereiprodukte und des Brotes bis tief in die zu integrierenden Teile der Gesellschaft versprüht, lässt sich kaum je irgendwo besser studieren, als aus einem Korbstuhl vor der Petit Bar heraus: ob Muselman, ob kohlrabenschwarzer Fidget-Spinner-Verkäufer, ob als als Veteran in Ehren gehaltener Greis, ob mit dem Vollbart geschmückter Brillenträger: Keiner kommt am Geschäft der Bäckersfrau vorbei, ohne sich von ihr ein Baguette unter den Arm klemmen zu lassen.  

Als wir, zu Hause eingetroffen, dort zum ersten Mal die Läden aufgestoßen hatten, um die Sonne nun auch dorthin einzuladen, saß auf dem Nachbarsfirst eine weiße Taube. Die war mir unbekannt, die hatte ich in all den Jahren hier noch nie zu Gesicht bekommen. Ein wunderschönes Tier, zierlich, mit appetitlich leuchtendem Gefieder. Wie ein leeres Blatt.

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