»2020 – Sing Blue Silver«
Blue Silver«
12.12.
Allmählich schraubt sich aus der Fahrbahn ein gelbes Hinweisschild in die Höhe. Die Landschaft hinter Erfurt ist weit und leer. Es ist dort nicht einmal ein einziges Fahrzeug unterwegs, dessen Lenker sich für die auf dem Schild gezeigten Wege interessieren können würde. Die wahre Welt, so scheint es mir, das Lebendige beginnt erst ab dem Horizont, wo Wolken sich in dunklen und in den beliebten hellen Farben stauen und stapeln.
Es gibt nicht viel zu sehen auf dieser Fahrt aber doch so viel, dass ich es lange nicht fertig bringe, mit dem Schreiben anzufangen. In dem Film mit Peter Handke, den wir abend noch angeschaut haben, sieht man ihn beim Zuputzen eines enormen Steinpilzes und er erzählt, dass ihn diese, wie er es nennt, Beschäftigung mit einer kleinteiligen Welt immerdann besänftigt oder einholt und rettet, wenn er sich bei einem Flug im Flugzeug schon beinahe zu Tode gelangweilt hat. Kurz braust er auf und spricht von einer blöden, durchkalkulierten Welt. Wendet sich dann wieder seinem Pilz zu, und erfreut sich an dem Geräusch, wenn die Klinge seines Messers eine Scheibe aus dem halbierten Pilzfuß schneidet; von der Tonspur hört es sich ähnlich an wie das Zerteilen eines Apfels und dann doch noch einmal anders. Und wer weiß wie live?
Ich fahre ungern zurück nach Berlin. Die schönen Tage im Schwäbischen hätten von mir aus noch um einiges länger sich hinziehen dürfen. Zwar ist man dort wie auch in Berlin viel unterwegs, aber, und das macht für mich den Unterschied: unterwegs von einem Hort der Heimeligkeit zum anderen. Stuttgart, Maulbronn, Ludwigsburg und Esslingen. Als Fixpunkt dieser Sternfahrten natürlich stets Heimerdingen, mein Heimatort, der mystischerweise das Wörtchen Heim in seinem Namen führt (in der Ortsmitte vor dem Gasthof »Zum Ochsen« gibt ein Stein das Jahr der Ortsgründung im achten Jahrhundert an. Ich will es glauben). Auch das weiß ich von Handke, auch darüber spricht er in dem Film: dass es manchmal 50 Jahre lang dauern kann, bis ihm das Erlebte als bildsam erscheint und er es an einem anderen Ort als dort, wo es ihm widerfahren ist, in eine Erzählung einbringen kann.
In 50 Jahren also, wenn ich schon bald hundert bin, aber auch schon heute ist mir bildsam geworden der Sonntag, als es auf der Fahrt ins Kloster Maulbronn zu schneien angefangen hatte. Die Flocken fielen mehr als dass sie schwebten; ein nasser Schnee, es war nicht kalt, und gegenüber des Klosters gibt es ein Café, auf dessen langem Schild über der Eingangstür steht der lange Name des Cafés, der lautet »Treffpunkt aller Kaffeefreunde«. Das ist dann einerseits schon durchkalkuliert, aber dann ist durch das viele Kalkül das Kundenfanggewebe fadenscheinig geworden und was hindurch scheint, regt meine Fantasie an, so dass ich dem Schilderausdenker wie dem Schilderbezahler dankbar bin dafür. Idealerweise sind sie ja ein und dieselbe Person. Wünsche ich mir jedenfalls im Sinne der Bildsamkeit.
Und genau gegenüber des Treffpunkts, die daran vorbeiführende Hauptstraße, die heute Stuttgarter Straße heißt, hat zu Zeiten der Klosterbewohnung maximal zwei aneinanderschrammenden Ochsenkarren den Platz dafür geboten, gingen wir durch das Tor aus über fünfhundert Jahre alten Balken in den Hof des Klosters hinein, es schneite noch immer und wenn es dort schneit, dann wirkt der Maulbrunner Zauber auf mich; wenn die Sonne scheint, wenn ein Flugzeug am Himmel erscheint, oder wenn ich Vogelgeräusche höre, zerstiebt die Illusion. Dann kann ich mir die Mönche dort nicht mehr vorstellen, wie sie mit Fußlappen und in ihren Kutten über den weiten Hof gehen. Dazu muß Schnee fallen, damit ich das vor mir sehen kann. Und hinter diesen Mauern war einst eine wilde und blöde, eine brutale und kaum noch berechenbare Welt.
8.12
Der alljährliche Totaldownload führt mir vor Augen: Das Tagebuch enthält aktuell etwas über zwei Millionen Anschläge, was 1111 Normseiten entspricht. Frei nach Niklas Luhmann, der 1968 anläßlich seiner Professur an der neu gegründeten Universität in einen Fragebogen zu seinem Forschungsvorhaben eintragen ließ: »Projekt: Theorie der Gesellschaft. Dauer: 30 Jahre. Kosten: Keine.«
Ist mein Projekt nun die Theorie meiner Seele, oder ist das die Praxis?
Frei nach Walt Whitman, und frei nach Anthony Powell: I sing a song to myself to the music of time.
7.12.
Die Telefongesellschaft schickt ein kleines Gerät, es schaut aus wie ein bretonischer Strandkiesel. Ich mag Steine, sammle sie gern und habe auch schon einige bei mir herumliegen. Das Google Mini hat ein weißes Schwänzchen, um es mit der Steckdose zu verbinden. Da ich schon mein Telefon auf meine Stimme abrichten musste, bezieht der Strandkiesel mein Stimmprofil von meinem Google-Account. Wenn ich jetzt halblaut oder normal in den Raum sage »Okay, Google«, leuchten auf der mit einem grauen Gewebe bezogenen Oberfläche des Strandkiesels vier kleine Lichter auf und signalisieren mir Bereitschaft durch langwelliges Pulsieren. Jede Frage, die ich dann stelle, wird umgehend von einer Frauenstimme beantwortet. Habe ich keine weiteren Fragen mehr, verlöschen die Lichtpunkte nach einiger Zeit. Das funktioniert nicht nur ziemlich gut, es funktioniert tadellos. Sogar im Dunkeln. Es gibt, anders als bei der begriffsstutzigen Siri, keinerlei Probleme in Sachen Hörverständnis. Akustisch verstehen wir uns ausgezeichnet, der Strandkiesel und ich. Wenn ich frage: »Was ist der Sinn des Lebens«, antwortet der Kiesel »Solche Fragen zu beantworten«. Wenn ich darum bitte, mich am Morgen um 7 Uhr 30 zu wecken, heißt es kieselseits: »Fertig. Ich habe dir einen Wecker auf halb acht gestellt.« Der Kiesel findet die Antwort auf die Konfessionszugehörigkeit von Tankred Dorst, erklärt mir den Begriff der Autonomie und nennt die beliebtesten Stellungen beim Analverkehr. Wenn ich allerdings frage, wer Joachim Bessing ist, liest der Stein mir aus der Wikipedia vor. Er weiß also nicht, dass ich es selbst bin.
Das Betrachten des pulsierenden Vierauges weckt seltsame Gefühle. Ich assoziere Treue. Übertrage vermutlich Erinnerungen an einen zu mir aufblickenden Hund. An das flauschige Morsen seines Schwänzchens, während der Kieselstein dort am Boden meiner Wünsche und Fragen harrt.
6.12.
Heute hat Peter Handke Geburtstag. Gestern erschien noch auf der Brüstungsstange ein dort noch nie zuvor angelandeter Gast in Form einer Blaumeise. Warum bei denen der blaue Schopf wie aufgebürstet wirkt im Gegensatz zu den baugleichen, jedoch zahlreicher verbreiteten Kohlmeisen, weiß ich nicht. Will ich aber auf jeden Fall noch herausfinden. Ich nahm den kleinen Frechling als einen Vorboten des Geburtstagskindes. So wie ich auch später, da nach einem letzten Rundgang durch die Gassen Sachsenhausens schon im Zug, die Maultaschen dort auf der Speisekarte als Vorboten nahm für den Besuch des Klosters Maulbronn am kommenden Sonntag. Dass man sich in zwei Städten zugleich heimisch fühlen kann: Ich wundere mich über mich selbst. Aber sanft.
Idee eines Zuges aus lauter Speisewagen hintereinander und dazwischen Toiletten.
5.12.
Gestern fragte ich den Wirt der Terminus Klause, ob denn Siegfried Unseld auch einmal bei ihm zu Gast gewesen war. Er schaute mich beinahe verständnislos an; gerade so, als ob er diesen Namen noch nie gehört hätte. Generell kam es, insbesondere vor der Tür und dort in einer Nebenstraße, zu unschönen Szenen, als ein wütender Mann seine halb ausgetrunkene Flasche Bananenmilch gegen eine verschlossene Haustüre pfefferte. Andere wiederum saßen einträchtig beisammen und rauchten etwas vom sogenannten Blech. Den Dunst der vermittels eines unter der Aluminiumfolie hin und her bewegten Feuerzeuges erwärmten Kristalle inhalierten sie durch ein strohhalmhaft langes, ebenfalls aus Aluminiumfolie gerolltes Schlürfrohr in sich hinein.
Heute hat Peter Handke Geburtstag. Ich wünsche ihm und mir noch viele geglückte Tage.
4.12.
Das Feuilleton berichtet von einer Premiere des Choreographen William Forsythe in einer Halle bei Paris, die dem Galeristen Larry Gagosian gehört. Er lässt dort zwei schwarz lackierte Roboterarme des Herstellers Kuka mit Fahnen aus schwarzer Seide hantieren. Ich fühle mich schon beim Ansichtigwerden des Standbildes animiert wie elektrisiert, da ich mich schon neulich, beim Besuch in der vollautomatisierten Kofferfabrik in Köln, im Tanztheater glaubte (beziehungsweise die Möglichkeit einer Aufführung ahnte). Für die programmierten Bewegungsabläufe dieser Maschinen dort, ebenfalls der Marke Kuka fehlt mir eine eigene Sprache der Beschreibung. Wie zwangsläufig übertrug ich die Begriffe für menschliche Tätigkeiten auf das Knipsen und Schwenken. Sie griffen und sie übergaben einen Gegenstand, der doch kategorisch derselben Natur angehörte wie die Knipsenden und Schwenkenden selbst. Trotzdem eine Gabe. Selbst wenn, was einer der Maschinen dort in der Fabrikationshalle des Kofferherstellers gegeben war, eine Funktion der Maschinennatur gezückt wurde – es konnte mit einer Sonde einen bläulich knallenden Schweißfunken anbringen – wirkte das auf mich noch wie eine heilende Geste. Er fügte.
Aus einem lehrreichen Abend im Haus der Berliner Festspiele, als Phantom Ghost in einem Bühnenbild von Cosima von Bonin aufgetreten waren, weiß ich, dass Modernes Ballett aus dem Wunsch von Betrachtern geboren wurde, einer Eleganz von Quallen und Seepferdchen, eben deren volanthaftem Schweben, gleichkommen zu können; es waren damals wohl, im 19. Jahrhundert, die ersten Seewasseraquarien in Paris ausgestellt worden.
Gestern abend, in Frankfurt, nach dem Besuch der von einer hübschen Schneeschicht bedeckten Weihnachtsmarkthäuschen am Römer, kamen wir durch diese schmale Gasse, an deren vermeintlichem Ende der Turm der Commerzbank aufragte, bis weit in den schwarzen Himmel hinauf. Die Mittelachse wird über viele asymetrisch terrassierte Stufen geführt und von diesen Absätzen aus leuchten gelbe Skyrose-Scheinwerfer an der Fassade empor. Die Lichtstrahlen wurden im Dunst des Schneegestöbers zu gelben Wolken zerrieben, geschnitten von den scharfen Kanten des Turmes. Ein Dom.
3.12.
Erster Schnee. Es schneit*, seitdem ich aufgewacht, wahrscheinlich hat es auch vorher schon geschneit. Der Schnee liegt weiß auf den Dächern. Frankfurt wird in eine Schwarz-Weiß-Postkarte verwandelt. Die Afrikaner, die in dem Haus gegenüber, einem ehemaligen Hotel (und jetzt wieder so eine Art von Hotel), untergebracht sind/wohnen, sie stehen auf ihren Balkons und betrachten das Schneetreiben; ein jeder von ihnen steht auf einem eigenen kleinen Balkon vor seiner eigenen kleinen Wohnung und betrachtet das Schneetreiben. Einer hat eine Weihnachtsmannmütze auf. Ich warte, dass einer der Afrikaner seine Zunge herausstreckt, um von den eiskalten Flocken zu kosten, aber das passiert nicht. Das gibt es bloß im Film.
* Pantha Du Prince, Black Noise, 2010
