„Die junge Generation gehört uns“

Portrait
zuerst erschienen am 15. August 2007 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 37
Wie der Publizist Sławomir Sierakowski Polens Gesellschaft in die Zukunft führen will

WARSCHAU, im August. Für polnische Journalisten gab es in diesem Jahr nun wirklich kein Sommerloch. Der jüngsten Topmeldung - vorgezogene Parlamentswahlen im Herbst - war schließlich ein politisches Dauertheater vorangegangen, in dem sich die Zwillinge an der Macht zumindest als glänzende Unterhalter entpuppt hatten. Könnte man meinen. Nicht alle schauen aber gebannt auf die Tagespolitik und fiebern nun den Wahlen entgegen. Sławomir Sierakowski, Chefredakteur der Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ (Politische Kritik), winkt, auf die Kaczynskis angesprochen, ab. Die seien schließlich nur die falsche Antwort auf die richtige Frage und im Grunde kaum der Rede wert.

Ob nun nämlich diese oder andere Populisten mit dem Elend der Leute auf Stimmenfang gehen, spielt für Sierakowski keine Rolle. Die eigentlichen Probleme des Landes sind strukturell und daher von grundsätzlicherer Art. Und sie liegen wohl dort, wo sie, vom Ausland aus betrachtet, vielleicht nicht vermutet werden. Ein Bevölkerungsanteil von rund sechzig Prozent gilt als sozial bedürftig, wobei die massive Armut in der Öffentlichkeit weitgehend totgeschwiegen wird. Und wer mit einer sinkenden Arbeitslosenquote wirbt, kaschiert damit nur, dass zwei Millionen Polen bereits aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert sind.

Sierakowski nennt dies eine Form von Kannibalismus: ein Land, das sich sozialer Probleme dadurch entledigen will, dass es seine Bürger einfach wegschickt, ist in seinen Augen ein barbarisches Land. Wer ist dieser Sławomir Sierakowski, der so schnell denken und klar reden kann? Nicht wenige, die den charismatischen Siebenundzwanzigjährigen in öffentlichen Diskussionsrunden oder in Fernsehdebatten erlebt haben, sind überzeugt: Hier spricht ein künftiger Premierminister. Und doch ist Sierakowski zumindest im Moment noch weit davon entfernt, Mitglied einer existierenden Partei zu werden oder eine neue zu gründen. Ihm und seinen Mitstreitern bei „Krytyka Polityczna“ geht es zunächst einmal um die grundlegende Formierung einer linken Bewegung und um die Schärfung einer Sprache, die es erlaubt, die drängenden Probleme seines Landes zu benennen und zu durchdenken.

Dass man dabei gleichsam bei null anzufangen gedenkt, beweist eine rote Fibel, ein signalrotes Taschenbuch, das Sierakowski nun auf den Markt gebracht hat. „Krytyka Politycznas Leitfaden der Linken“, so der Titel dieses ganz und gar nicht ironisch gemeinten Büchleins, dessen Umschlag von einem weißen Netzstecker samt Kabel geziert wird. „Stöpsel dich ein in den Diskurs und häng dich rein in unser Netz“ ruft es den potentiellen Lesern zu. Anhand von Infografiken und Tabellen erklärt es die Anliegen seiner Verfasser und erläutert zugleich gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen und die Funktionsweisen staatlicher Institutionen. Ein FAQ am Ende eines jeden Kapitels nimmt zu verbreiteten Vorurteilen und Fragen Stellung: Vernichtet die EU unsere nationale Identität? Ist Kommunismus so schlimm wie Nationalsozialismus? Wollen die Ökologen, dass wir wieder in Höhlen leben? Will der Feminismus das Matriarchat einführen? - die Auseinandersetzung mit derart schlichten Ängsten ist auch eine antielitäre Geste. Man bemüht sich, die Leute, wie man hierzulande wohl sagen würde, dort abzuholen, wo sie sind.

Zur Strategie der Gruppe gehört aber auch, dass sie die offene Auseinandersetzung mit der polnischen Rechten sucht. Diesem Thema widmete die Zeitschrift ihr aktuelles Heft, und oft schon waren führende Konservative in die Redaktionsräume zur Diskussion geladen. Die gemeinsame Gesprächsgrundlage, die Sierakowski dabei mit der Rechten hat, resultiert auch aus der Reibungsfläche, die derzeit für alle, die überhaupt zu einer Wertediskussion bereit sind, dieselbe ist. Während nämlich der freie Markt nur seine eigenen Gesetze kennt und mit den Themen Nation, Kirche und Familie genau so bereitwillig gute Geschäfte macht wie mit der noch jungen Schwulenbewegung, sieht Sierakowski all diese Themen in Gefahr, zu bedeutungslosen Hüllen zu verkommen, die von populistischen Politikern nach Gutdünken instrumentalisiert werden können. Zwischen der, wie er sagt, „kalten Sprache“ des Marktes und der „heißen Sprache“ nationalistischer Traditionalisten, die zuletzt das Bild Polens im Ausland bestimmten, ist er folglich auf der Suche nach einem neuen analytischen Denken. Und wenn dieses auch an einer Lektüre weithin verfemter marxistischer Grundlagentexte geschult werden soll, ist das noch lange kein Heimfindungsversuch in den warmen Schoß volksrepublikanischer Nostalgie.

Anstelle eines buchstäblichen Kommunismus orientiert sich die Gruppe viel mehr am Ideal einer sozialen und antinationalistischen Zivilgesellschaft, die sich dezidiert zu Europa, ökologischem Bewusstsein, der Freiheit von Minderheiten bekennt und damit bestens anschlussfähig ist für den Mainstream einer europäischen Sozialdemokratie der alten Schule. Und sie stellt diesen Anschluss gezielt her: So brachte „Krytyka Polityczna“ im Oktober 2003 einen offenen Brief in Umlauf, der sich gegen die polnischen Blockierer der Europäischen Verfassung richtete und damals von den wichtigsten Intellektuellen der jüngeren Generation unterzeichnet wurde. Das Schreiben erschien in den großen polnischen Blättern, aber eben auch im Ausland, unter anderem in dieser Zeitung.

Sławomir Sierakowski, der zwischenzeitlich als Doktorand des deutschen Soziologen Ulrich Beck in München gearbeitet hat, versucht die polnischen Debatten systematisch auf ein internationales Denken hin zu öffnen. Zu diesem Zweck versammelt eine Buchreihe seiner Zeitschrift seit einigen Jahren prominente Vertreter der gegenwärtigen Philosophie und Kulturwissenschaften: Slavoj Zizek, Alain Badiou, Giorgio Agamben, Judith Butler und Jacques Derrida - sie alle wurden hier ins Polnische übersetzt. Die im Zentrum der Warschauer Innenstadt gelegene Redaktion ist längst zu einer außeruniversitären Bildungseinrichtung geworden, in der über Erinnerungspolitik, Kreationismus und Gentechnologie, über Marx und Foucault diskutiert wird. Eine Art Volkshochschule auf hohem Niveau, die die kritischen Geister einer jungen und zudem geburtenstarken Generation beflügeln soll.

Diese Generation, sagt Sierakowski, gehört uns. Und während die Rechten aus einem historisch fundierten Nationalismus schöpfen, besetzen die jungen Linken die Kultur. Wilhelm Sasnal und Artur Zmijewski sind enge Mitstreiter Sierakowskis - der eine ist der derzeit am höchsten gehandelte polnische Maler, der andere umstrittener Videoprovokateur und gerade auf der documenta vertreten. Wenn „Krytyka Polityczna“ also etwa Pasolinis unverfilmtes Drehbuch über den Apostel Paulus publiziert, wird der Text durch Sasnals Illustrationen auch für den Kunstbetrieb interessant, Zmijewski ist so etwas wie der Artdirector der Zeitschrift. In der polnischen Kulturszene ist Sierakowski längst selbst zu einer schillernden Figur geworden. Als kettenrauchender Bohemien oder ausgesprochener Frauentyp hat er mittlerweile bereits in vier Romanen einen Cameoauftritt, unter anderem in dem jüngsten Rap-Epos der jungen Bestsellerautorin Dorota Masłowska, „Die Reiherkönigin“. Die umstrittene Autorin soll auch einen festen Platz in einer regelmäßigen Livesendung haben, die Sierakowski im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekommen soll. Noch ist allerdings nicht sicher, wann die Sendung, die in Polen die teuerste ihrer Art werden würde, ins Programm genommen wird.

Sierakowski, so viel ist sicher, ist auch ein Virtuose auf der Klaviatur der öffentlichen Selbstdarstellung. Ob er eine Streikzeitung für protestierende Krankenschwestern produziert, die vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten ihr Zeltlager aufgeschlagen haben, ob er in Filmen ausländischer Regisseure auftritt oder mit Zizek über Lenin diskutiert - die Szene nennt ihn bereits den neuen Adam Michnik oder auch einfach nur „Premier“. Und Sierakowski weiß genau um die Strahlkraft seiner Szene, die viele andere so alt aussehen lässt. Wissen Sie eigentlich, was die am meisten ärgert, fragt er, und zündet sich eine Zigarette an: Wir haben Sex.