Deutschland, Berlin, 2015

von 
Essay
zuerst erschienen im November 2015 in von hundert Nr. 26, S. 3-6.
Zwischen Lehrter und Rathenower Straße

Tag der deutschen Einheit. Der 25. mittlerweile, deutsche silberne Hochzeit sozusagen. Ich fahre von meinem Büro in der Steinstraße Richtung Westen. Aus dem gentrifizierten Herzen der Hauptstadt in ein Gebiet, von dem ich mir im Vorfeld verspreche, dass es genug Potenzial hat, größere aktuelle Zusammenhänge zu beschreiben. Ich habe jedoch nur eine vage Ahnung warum. Mit Google-Earth gesehen besteht dieses Gebiet hauptsächlich aus Fußballplätzen, acht insgesamt. Ich will zur Lehrter Straße fahren und den ganzen Block in deren Rücken, Richtung Turmstraße, durchfahren – ein Recherche-Ausflug – Süden Invalidenstraße, Westen Rathenower Straße, Norden Perleberger und im Osten die Lehrter als Grenze. Natürlich habe ich viel Vorwissen. Ich weiß zum Beispiel, dass dort die Berliner Bereitschaftspolizei sitzt, einige Hundertschaften kaserniert in großen Blöcken, die schon vor weit über hundert Jahren gebaut wurden. Hier sitzt schon seit Kaiser-Zeiten der schlagende Arm der jeweiligen Regierungsform, ob eben der Preußen, des Dritten Reichs oder der Bundesrepublik, vor oder nach der Mauer.

Gleich an der Rosenthaler Straße zieht eine Demonstration durch. Ich sehe sie nur noch von hinten und weiß nicht, um was es geht. Dahinter fahren und marschieren demo-üblich eben jene Polizisten, die sonst in den Kasernen in der Kruppstraße untergebracht sind. Die hier meinen Weg abschneidende Einheit mit der aufgeklebten Nummer 23 gilt als besonders brutal durchgreifend und fiel sogar der Springerpresse mit geschmacklosen Filmen auf, die sie, bestückt mit Pornos und Gummiknüppeln, in ihrer Einsatzwartezeit drehten. Da, wo sie herkommen, liegt mein Ziel und diese von hässlichem Neonlicht in endlosen Schlafsälen beleuchtete Staatsmacht ist nur ein Teil des irren Mixes auf anderthalb Quadratkilometern nördlich des Hauptbahnhofs.

Es gibt dort eine ständig überfüllte Notübernachtung der Berliner Stadtmission für 100 Obdachlose, gleich neben einem Jugendgästehaus mit 450 Schlafplätzen, ein balinesisches Thermalbad für 20 Euro die zwei Stunden mit hunderten von Liegemöglichkeiten, und ein Notaufnahmelager für ungefähr 300 Flüchtlinge. Dieses befindet sich gleich neben einem Tennisplatz und unmittelbar hinter einem Areal, auf dem sich wohlhabende Kreative dieser Stadt sehr schöne Arbeits- und Wohnflächen geschaffen haben.

Polizei, Obdachlose, Touristen, Flüchtlinge, Künstler – Deutschland, Berlin, 2015. Diese Gemengelage wabert jedenfalls in meinem Kopf auf dem Weg am Hauptbahnhof vorbei, rechts rein in die Lehrter Straße. Eigentlich wollte ich durch den neuen, mehreckig angelegten sogenannten Geschichtspark abkürzen, der sich auf dem Gelände des ehemaligen ersten panoptischen Berliner Gefängnisses befindet. Dieses stand seit den 1840ern und hat wenig später etwas weiter, Rathenower/Ecke Alt-Moabit, ein ebenfalls sternförmiges Pendant bekommen – die bis heute mehrfach umgebaute berühmte Moabiter Justizvollzugsanstalt. Beide flankierten damals südlich mein Zielkarrée, auf dem sich außer Kasernen, Gefängnissen, Waffenlagern und Feldzeugmeistern, ein riesiger Exzerzierplatz befand.

Der ummauerte „Geschichtspark“ ist wie fast immer abgeschlossen und so fahre ich erst mal in die südliche Lehrter Straße, alles sozialer Wohnungsbau aus den späten siebziger Jahren. Da, wo früher die Ulanenkasernengebäude standen, heißen die Straßen jetzt nach Künstlern aus den zwanziger Jahren, Otto Dix, Claire Waldoff und – etwas älter – Lesser Ury. Die ganze Siedlung heißt Heinrich-Zille-Siedlung, ist aber das Gegenteil von kiezig … Auf dem Platz vor der Stadtmission mit kleinem Spielplatz tummeln sich erste Flüchtlingsfamilien. Denke ich mir jedenfalls, wobei ich sicher nicht Flüchtlinge von Bewohnern des Viertels unterscheiden kann.

Etwas weiter nördlich dann eine Reihe neuer Townhouses im Townhouse-Design. Dreigeschossiges Urban Living in Hauptbahnhofnähe, womit hier natürlich alle werben, ob Sportverein, Hostel oder Thermalbad. An diesen Neubauten hat man um die fünf Jahre gebaut und noch länger geplant, obwohl sie nicht sonderlich kompliziert aussehen. Seit Baubeginn wurden sie dann vom A+O Hostel mit seinen 900 Betten, dem Total-Hochhaus, oder dem Motel One Berlin mit immerhin 550 Zimmern überholt. Keine Ahnung, warum mich die Bettenanzahl so interessiert, aber scheinbar schlafen sehr, sehr viele Menschen hier nur temporär, also die Obdachlosen, die Polizisten, die Touristen und die Flüchtlinge.

Das A&O Hostel hängt mittlerweile eine größere Plane nach draußen, um zu informieren, dass hier hunderte von Schülern übernachten. Im Subtext heißt das, dass es hier auch laut werden kann. Es geht wohl um die Baulücke nebenan auf der wiederum Luxuslofts geplant werden und deren zukünftiges Klientel abgeschreckt oder zumindest vorgewarnt werden soll. Auch im Neubautensegment gibt es unterschiedliche Interessen.

Nachdem ich diverse Sportplätze gekreuzt habe, eine neue Kletterhalle des Alpenvereins, die den Townhouses recht ähnlich sieht, passierte, dann von den ehemaligen Schuttbergen des Fritz-Schloß-Parkes einen schönen Ausblick auf die Ruheanlagen des Vabali-Bades genoss, darin ein paar wenige badebemantelte Nackte und zig freie Liegen bemerkte, radele ich am Sandplatzgelände des Tennis-Clubs Schwarz-Weiß Tiergarten e.V. vorbei. Und hier lohnt sich vielleicht eine Zeitreise zurück in die 80er-Jahre. Der Tennisclub war ein recht schnöseliger Verein von Charlottenburgern inmitten eines Zonenrandgebiets sehr nahe der Mauer. Das Stadtleben spielte sich woanders, hauptsächlich in Schöneberg und Kreuzberg ab. In der Lehrter wurden zwar auch Häuser besetzt, aber eigentlich war hier Dead-End. Auf dem Gelände zwischen Tennisplatz und Lehrter Straße standen die Gebäude der ehemaligen Heeresschneiderei mit sehr guter, sozusagen militärischer Bausubstanz und wurden von ein paar Künstlern und Gewerbetreibenden als günstiger Arbeitsraum entdeckt. Das Gelände gehörte damals dem Bundesvermögensamt und die vermieteten für 3 Mark/qm alles inklusive, kümmerten sich aber um sonst nichts. Eine Westberliner Oase …

Der Tag der deutschen Einheit 1990 bedeutete für dieses Werkhofareal allerdings mit einem Mal, dass es in die Mitte Berlins rückte. Nicht, dass sich infrastrukturell in den nächsten Jahren irgendetwas ändern sollte, alles blieb optisch wie immer, aber die Begehrlichkeiten waren mit einem Schlag da. Das Bundesvermögensamt erhöhte die Mietpreise der meist nur kurzfristig abgeschlossenen Gewerbemietverträge auf 15 Mark pro Quadratmeter. Da steckte, wie in ganz Berlin damals, etwas zu viel Fantasie drin, 15 Mark entsprachen kaufkraftmäßig heutigen 12 Euro – ein Schock und man protestierte. Man konnte sich dann mit den Staatsverwaltern auf 8 Mark einigen, immer noch zuviel für prekäre Nur-Künstler zu Wendezeiten. Sie zogen aus und nur die angewandten Künstler und Werkstätten wie z.B. der Grafikdesigner Stefan Koppelkamm, der Lichtdesigner Christian Schneider-Moll oder die Tischler blieben. Auf die freiwerdenden Flächen zogen dann zum Beispiel die Architekten Sauerbruch Hutton, die von hier aus ihr GSW-Hochhaus in der Kochstraße planten, oder das Atelier Doppelpunkt, ein klassisches Grafikdesignbüro.

So ging das bis ins Jahr 2000. Westdeutsche Investoren kauften sich in Mitte Grundstück um Grundstück und es wurde mittlerweile eng. Also gerieten auch Gebiete wie die im Schatten von Mitte liegende Lehrter Straße in den Fokus, zumal die Oberfinanzdirektion verkaufen wollte. 10,4 Millionen Mark war das höchste Gebot, die Mieter boten nur die Hälfte. Also zog man den schon mit mehreren Filetstücken in der Linien- und Auguststraße bestückten Architekten Hans Düttmann hinzu, der zusammen mit einem Projektentwickler die andere Hälfte zugab und dafür die drei unbebauten Grundstücke und eins der Häuser bekam. 1200 Mark/qm war das für die bisherigen Mieter auf den Gewerbequadratmeter umgerechnet, der damals übliche Preis, dafür hatte man dann gesicherte Arbeitsflächen. Ich selbst konnte zum gleichen Preis 1998 meine 90 qm Gewerberemise als Mieter von der WBM kaufen. Kein schlechter Deal, wenn man bedenkt, dass der Wert seither um das Fünffache gestiegen ist. Dafür zahlen Gewerbekäufer im Gegensatz zu Wohnungskäufern bei Wiederverkauf auf den Gewinn Einkommenssteuer, so dass immerhin einiges aus dem Spekulationsgewinn an die Allgemeinheit zurückfließt.

Zur Entwicklung in der Lehrter seit 2000 nur noch schnell ein Kurzabriss. Die Projektentwickler GmbH ging 2005 Konkurs – 5,5 Millionen muss man erstmal über so lange Zeit ohne große Einnahmen aus den nicht bebauten Grundstücken finanzieren. Also gingen die Grundstücke zurück an die Bank und die verkaufte sie dann wiederum an einige Besitzer des Werkhofs, unter anderem an Sauerbruch Hutton oder die Künstlerin Karin Sander. Dann baute deren damalige Hochschulkollegin Katharina Grosse auf einem der Grundstücke ihr Atelierhaus und auf einem anderen gibt es seit kurzem einen dunklen Neubau mit geplantem einbahnigen Schwimmbad auf dem Dach, auch von Sauerbruch Hutton gebaut, in das unter anderem Kasper König und Barbara Weiss einzogen.

Auf dem letzten verbliebenen Grundstück sind mittlerweile die Bäume gefällt und es würde mich wundern, wenn hier nicht noch ein großes Atelierhaus vis à vis zur Polizeidirektion 3 entstehen würde, gebaut von dem schon genannten Architekturbüro. Übrigens geht es auch auf der anderen Straßenseite der Lehrter weiter, denn Sauerbruch Hutton gewannen den Wettbewerb für den Masterplan eines Teils der dort entstehenden Eurocity – ein neues Megaquartier zwischen dem Kanal am Hamburger Bahnhof und der Lehrter Straße. Hier plant das Büro auf 90.000 qm Grundfläche Wohnungen für die Bau- und Investorengruppe Groth, inklusive Studentenwohnungen für 450 Euro/Monat sowie ein paar Sozial­wohnungen. Klar, Berlin braucht Wohnungen, die Frage ist nur, wer wieviel daran verdienen wird, und warum wenige alte Westberliner Seilschaften à la Düttmann und Groth immer vorne mit dabei sind. Thomas Groth baut zum Beispiel auch das umstrittene Mauerpark-Projekt.

Sie kamen, sahen und bauten. Wenn Matthias Sauerbruch aus seinen Fenstern nicht zur Riesenbaustelle gen Osten schaut, sondern in Richtung Moabit blickt, sieht er keine Baustelle, sondern ein großes und ein kleineres weißes Zelt, die wie zwei Riesengürteltiere auf einem ehemaligen Fußballplatz lagern. Sie beherbergen das anfangs erwähnte Notaufnahmelager, das Flüchtlinge temporär bis zu ihren weiteren Aufnahmeorten, also für maximal zwei Wochen, unterbringen soll. Kinder spielen auf dem von Flutlicht bestrahlten, sehr grünen Kunstrasen, sie schlagen Räder oder üben Flick-Flack. Vielleicht fängt Sauerbruch dann an, über andere Lösungen nachzudenken – günstige modulare Systeme, die den Flüchtlingen abgrenzbaren eigenen Platz geben, die winterfest sind, die einfach ein bisschen besser sind als aufblasbare Zelte. Denn vielleicht geht es eben nicht mehr nur um immer größere und schönere Arbeits- und Wohnflächen, aus denen heraus man dann vielleicht im Alter gebeamte Videochats, mit ähnlich reichen, einsamen und alten Menschen, weiß Gott wohin, führen wird. Vielleicht geht es eher um ein Mehr an Gemeinsamkeit, auch zusammen mit Zuwanderern – gemeinsame Küchen, Treffpunkte, Markt-, Wohn- und Arbeitsplätze. Dafür müsste man bauliche Lösungen finden, denn erst der infrastrukturelle, architektonische Rahmen schafft Platz für Begegnungen. Große Fenster reichen da nicht.

Bis jetzt haben die Flüchtlinge kaum eigenen Platz. Deshalb werden die gutgemeinten Spenden nicht angenommen und die Spender lassen die vollgestopften Tüten oft in der Einfahrt stehen, oder kippen ihre Töpfe voll mitgebrachtem Essen aus. Das ärgert Anderl Kammermeier. Er arbeitet auf dem Grundstück zwischen Tennisplatz und Werkhof, gleich neben dem Flüchtlingslager und teilt sich die Zugangsstraße von der Kruppstraße mit den Tennisspielern und den Flüchtlingen. Hier findet man noch ein echtes Idyll und bekommt eine Ahnung, wie es hier mal früher ausgesehen hat. Auf seinen 2000 Quadratmetern Grund steht eine ehemalige Panzerreparaturwerkstatt und er arbeitet darin ebenfalls mit dem Werkstoff Metall. Im Sommer finden in seinem großen Garten Lesungen, Theaterdarbietungen und Konzerte statt. Um den privaten Zugangsweg kümmert sich niemand außer ihm und er vergrub auch schon mal die offen verlegten Stromkabel zu den Flüchtlingszelten. Er sitzt hier seit Ende der Achtziger und die knappe Million Mark, die er für das Grundstück zur Jahrtausendwende zahlte, waren und sind bestimmt nicht einfach zu finanzieren, zumal der bebaute Raum, die sogenannte Geschossflächenzahl, sehr gering ist. Die Fenster eines Architekturbüros schauen schon Parterre auf Kammermeiers Garten und der Kontrast zu seiner Künstlerwerkstatt könnte nicht größer sein. Umso höher ist es ihm anzurechnen, dass er diese Insel inmitten des ihn umgebenden bundesrepublikanischen Wahnsinns aufrecht erhält.

Sein Sohn, ebenfalls Künstler, wuchs hier auf und kennt jeden Stein. Er geht mit seinen Kumpels manchmal rüber ins Flüchtlingszelt und findet Mitspieler für einen Kick auf einem der anderen Fußballplätze des Geländes. Traurig ist er um den zukünftigen Verbleib von Reiner Zeb, der den Kampf um seine Bleibe so gut wie aufgegeben hat. Die Groth-Gruppe reißt ab. Zeb wohnt in einer Baracke als Semi-Obdachloser und das auch schon eine ganze Weile. November sei Schluss, er hofft noch auf Grundwasserprobleme und zeigt auf das Haus, das neben dem zukünftigen Baugrundstück steht. Ein Porträt von ihm ziert als Graffiti die Brandwand. In diesem Haus wohnte er vor über 30 Jahren. Sein Nachbar Wolfram Liebchen ist schon weg. Dieser hatte hier seit 31 Jahren einen Bau- und Antiquitätenladen und ist nun erst mal mit seinen geretteten Schätzen woanders untergekommen. „Platzfresser“ nannte Thomas Groth Liebchen in einer Abendschau-Sendung, er hätte in der Innenstadt nichts zu suchen.

Aber das ist genau die Frage, wer frisst eigentlich welchen Platz? Wer bestimmt, wo welche Prioritäten herrschen? Anwohner, Mieter, Eigentümer, Investoren, Stadtregierung oder der Bund? Wer entscheidet über Brache, Sportplatz, Tennisplatz, Flüchtlingsheim, Eigenheim, Altersheim, Kinderheim oder Alpenverein? 300 Quadratmeter Loft pro Person kontra 30 Quadratmeter Studentenwohnung für 500 Euro. Townhouse oder Ruderhalle. Stockwerkbett im Hostel, Feldbett im Zelt oder eine aus Tüten zusammengeklebte Hütte einer Roma und Sintifamilie, die kürzlich noch nördlich des „Geschichtsparks“ hauste, neben vielen kleineren Zelten von Obdachlosen, die nicht in die Notübernachtung ziehen wollten.

Wer entscheidet, was mehr wert ist? Wahrscheinlich eben immer die, die mehr Wert daraus abschöpfen können. Nirgendwo ist zur Zeit dieser Grundkonflikt unserer Gesellschaft deutlicher abzulesen als hier an der Lehrter Straße. Die Flüchtlingsfrage macht das nur noch deutlicher. Wir driften auseinander, Gemeinschaft zählt immer weniger und kann immer weniger entscheiden. Freiheit braucht Raum und der geht verloren – gemeinsamer Raum, nicht einsamer Raum. Klar könnte man das als linke Plattitüden bezeichnen, aber die, die das tun, sollten dann doch bitte ihr Restleben auf solch neuen Plätzen wie rund um den Hauptbahnhof verbringen. Steigenberger forever …