Eine Frau mit Mut zum Widerstand

Reportage
zuerst erscheinen 2020 in Geo 08/2020, S. 122-134
Seit 26 Jahren herrscht Alexander Lukaschenko in Weißrussland. Nun stellt sich eine unerschrockene Frau dem Diktator entgegen: Olga Karatch träumt von der Demokratie in der einstigen Sowjetrepublik

Auch die mutigsten Menschen müssen mal zugeben, dass sie verwundbar sind. Sie machen das nicht oft, weil es weh tut.

Olga Karatch blickt aus dem Autofenster. Draußen verschmelzen Schneeflocken zu einem grauen Teppich, der allmählich alles unter sich begräbt: Felder, versprengt liegende Bauernhäuser, Birkenwälder. „Genau diese Straße bin ich mit meinem Sohn entlanggefahren, hinter uns die Polizei“, bricht es aus ihr heraus. „Ich habe jeden Augenblick damit gerechnet, dass sie uns anhalten und dass sie mir Swjatoslaw wegnehmen.“ Sie wischt ein faustgroßes Guckloch in die beschlagene Seitenscheibe ihres Autos. „Ich weiß, dass mich das gebrochen hätte.“

Seit rund 20 Jahren kämpft die Weißrussin Olga Karatch gegen das diktatorische Regime von Präsident Alexander Lukaschenko. Sie ist in dieser Zeit so oft mit seinen Sicherheitsbehörden aneinandergerasselt, „dass ich es gar nicht mehr zählen kann“, sagt sie. Einmal haben Polizisten sie in ihrer Heimatstadt Wizebsk einen Monat lang jeden Tag für drei Stunden festgehalten. Entmutigen konnten sie die Aktivistin nicht.

Doch seit ihr Sohn auf der Welt ist, wächst die Angst. Olga Karatch, 41, kennt viele Aktivistinnen, denen der Staat die Kinder weggenommen hat. Nach der Geburt von Swjatoslaw klingeln gleich neun Mal innerhalb einer Woche Vertreter verschiedener Behörden bei ihr, angeblich aus Sorge um das Kindeswohl. Da sei sie losgefahren, nur weg aus Weißrussland, nach Litauen. „Ich habe in einen Abgrund geschaut“, erinnert sie sich an die Fahrt im Januar 2014. Erst als der Polizeiwagen aus ihrem Rückspiegel verschwindet, atmet sie wieder frei.

Weißrussland, das ist ihr klar, würde kein sicherer Ort für ihre Familie sein. So zieht Olga Karatch ihre Kinder – inzwischen sind es zwei – im Ausland groß: Sie und ihr Mann haben ihren Wohnsitz nach Vilnius verlegt, in die Hauptstadt Litauens. Mehrmals pro Monat pendelt Karatch nun nach Weißrussland in die 180 Kilometer entfernte Kapitale Minsk und in ihre Geburtsstadt Wizebsk.

Diesmal ist sie mit einer Mitstreiterin unterwegs. Am Steuer des Geländewagens sitzt Sviatlana Shelepen, eine zierliche Immobilienentwicklerin, der ihre 47 Lebensjahre so gar nicht anzusehen sind. Gegen die aufkommende Monotonie dreht sie russischen Pop laut. „Machen wir noch eine Pause?“, fragt sie. „Ach, ziehen wir lieber durch“, antwortet Karatch. So halten die beiden Frauen im aufkommenden Schneegestöber weiter auf Minsk zu.

Olga Karatsch hat in ihrer alten Heimat im Jahr 2002 die Menschenrechtsorganisation Nasch Dom gegründet: „Unser Haus“. Unter dem imaginären Dach entstehen unterschiedliche Kampagnen, etwa für die Rechte von Transgender-Menschen oder gegen Atomkraftwerke. Alles mit dem Ziel, „eine offene, demokratische Gesellschaft“ zu entwickeln.

Nasch Dom ist inzwischen in Vilnius registriert, finanzielle Hilfe kommt vor allem aus Westeuropa, jährlich etwa 100 000 Euro. Von den rund 250 Mitgliedern „operieren nur einige an der Oberfläche“, sagt Karatch: Oppositionelle Aktivisten in Weißrussland leben gefährlich. Wer das Land mit den Augen von Olga Karatch sieht, blickt in den Keller dieser postsowjetischen Gesellschaft.

Auf der Fahrt durch Minsk, und an Plätzen, auf denen die Menschen sich verlieren, erzählt Karatch von den Schicksalen hinter den Fassaden. Die Sowjetunion hatte nach Ende des Zweiten Weltkriegs das stark zerstörte Minsk zur „Musterstadt des Sozialismus“ umgebaut, mit bombastischen Magistralen, monumentaler Architektur nach Moskauer Vorbild und Helden in Bronze. Als die Sowjetunion zerfiel, wurde die Republik 1991 zwar unabhängig, löste sich aber nie wirklich aus ihrer autokratischen Vergangenheit. Sogar der Geheimdienst KGB existiert hier noch unter seinem alten Namen.

1994 kam Alexander Lukaschenko an die Macht. Er wurde demokratisch gewählt, schleifte die Demokratie aber, kaum dass er im Amt war. Damals verschwanden plötzlich Oppositionelle – Ermittlungen des Europaratslegenden Verdacht nahe, dass Todesschwadronen mehrere von ihnen ermordet haben. Anfang des Jahrtausends wurde das Regime etwas „milder“. Politische Gegner landen seither oft hinter Gittern.

Olga Karatch und ihre Unterstützer tauschen sich per Telefon und Internet aus, treffen sich in Cafés und in Wohnungen, die sie wenige Tage lang anmieten. So bleibt die Menschenrechtlerin ein bewegliches Ziel: schwer zu treffen.

Für drei Tage hat Karatch nun eine Altbauwohnung organisiert, in den „Toren von Minsk“, dem Wahrzeichen der Stadt: zwei Türme in stalinistischer Bauart, mit wuchtiger Form und Zuckerbäckerfassade. Hier empfängt sie die anderen Aktivisten und Unterstützer von Nasch Dom.

Sviatlana Shelepen setzt Tee auf, es dampft, klingelt, lärmt. Satzfetzen fliegen durch das Wohnzimmer mit seiner buttergelben Tapete. Karatch, hellblond und großgewachsen, sitzt in einem hohen Sessel, trägt einen Rock und eine Bluse mit gestärktem Kragen, darauf eine Marienkäferbrosche. Sechs Frauen sind zur Besprechung ihrer wichtigsten Kampagne gekommen: „Kinder 328“. Die Söhne dieser Frauen wurden nach Paragraf 328 verurteilt – wegen Drogen.

Die Frauen fragen Karatch, wie sie Beschwerden gegen die miserablen Haftbedingungen formulieren sollen, wann juristische Eingaben sinnvoll sind oder was in die Lebensmittelpakete gehört, ohne die ihre Kinder nichts als „graue Pampe“ zu essen bekämen, wie eine Mutter schimpft.

Am Rande der Runde sitzt Irina Scharkowsky. Sie atmet schwer, ist den Tränen nah. Von der ersten Seite der Papiere auf ihrem Schoß lächelt ein dürrer Junge mit blondem Seitenscheitel: „Mein Wladislaw.“ Den Fall ihres Sohnes trägt Scharkowsky immer als Schriftstück bei sich, er ist ihr zum Lebensinhalt geworden. Er gleicht den Fällen der meisten anderen anwesenden Mütter.

Anfang 2018 hatte Wladislaw, damals siebzehn Jahre alt, auf eine Anzeige in einem sozialen Netzwerk reagiert: ein Nebenjob, gut bezahlt. Er sollte legale Rauchmischungen ausliefern, so hieß es ausdrücklich. Die Polizei observierte den Kurierdienst; schließlich wurde Wladislaw festgenommen, am „16. März 2018“, sagt Scharkowsky. Sie spricht das Datum aus wie einen Todestag. Die Polizei fand weniger als ein Gramm „Spice“ bei ihm, ein synthetisches Cannabinoid. Das Urteil: zehn Jahre Lagerhaft.

„Wenn man in Weißrussland mit 27 ohne Schulabschluss aus dem Gefängnis kommt, ist das Leben vorbei“, sagt die Mutter. Sie selbst habe Freunde und Arbeit verloren – das Stigma einer solchen Verurteilung sei überlebensgroß. Die Mütter erzählen, die Polizisten hätten ihre Kinder  geschlagen, sie ohne Rechtsbeistand gedrängt, Geständnis­ se zu unterschreiben. All dies passiere, weil sich Beamte bereichern würden: Angehörige müssen für die Haft, für Besuche, Anwälte und Gutachten bezahlen. Und die Inhaftierten arbeiten hart. Sie stellen etwa Möbel her, die auch nach Deutschland exportiert werden. Die Gefangenen bekommen dafür nur wenige Euro pro Monat. Für die Mütter ist das „Sklavenarbeit“.

Weißrussische Behörden zu diesen Vorgängen zu befragen, gestaltet sich schwierig. Der Generalstaatsanwalt lässt ausrichten, er habe keine Zeit. Das Innenministerium antwortet seitenlang, sämtliche Vorgänge entsprächen den Gesetzen.

Offiziell sind etwa 32 500 Menschen in den Strafvollzugsanstalten des Landes inhaftiert; das sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung fast fünfmal mehr als in Deutschland. Sviatlana Shelepen schätzt, dass etwa jeder Dritte von ihnen aufgrund des Paragrafen 328 verurteilt wurde, bis zu 500 seien minderjährig gewesen.

Olga Karatch spricht viel mit westeuropäischen Politikern und Aktivisten; 2019 stellten Mitglieder des Deutschen Bundestages eine Kleine Anfrage zur Menschenrechtslage in Weißrussland und zum Paragrafen 328. In ihrer Antwort bezeichnete die Bundesregierung die Strafen für Minderjährige als „unverhältnismäßig
hoch“. Karatch formuliert es drastischer: „Hier werden Leben vernichtet.“

Weißrusslands Präsident Lukaschenko reagiere pikiert auf Kritik, sagt Karatch, vor allem, wenn sie aus dem Westen komme. Doch sie habe ihn auch zu einigen Korrekturen bewegt: Besonders lange Haftstrafen wurden um ein Jahr reduziert. Und die nach Paragraf 328 Verurteilten brauchen nicht länger zur Stigmatisierung eine spezielle Armbinde zu tragen.

Nach einer Weile gehen die Frauen an die frische Luft. Mit dabei ist auch Natalja, die Einzige in der Runde, deren Sohn freigekommen ist, nach sieben Jahren Haft. Sie will deshalb weder ihren Nachnamen noch ihren Beruf nennen. „Mein Sohn kann nichts mehr alleine. Wir sind völlig fertig“, erzählt die 48­Jährige. 25 000 Dollar hat sie für Gerichtsgutachten, Anwaltskosten und zur Unterstützung ihres Sohnes ausgegeben. Sie ist ruiniert. „Das Schlimmste ist“, sagt sie leise, „dass ich mich nun manchmal bei dem Gedanken ertappe, dass ich mich besser gefühlt habe, als er einsaß. Da habe ich für ihn gekämpft. Jetzt sitzt er apathisch zu Hause. Das fühlt sich schlimmer an.“

Als die anderen Mütter das hören, verdüstert sich die Stimmung. „Das nützt doch alles nichts“, sagt eine. „Zum Teufel“, entfuhr es einer anderen. Olga Karatch unterbricht: „Nichts ist vergebens. Denkt doch nur daran, was ihr schon alles geschafft habt!“

In den folgenden drei Tagen läuft der Wasserkocher fast ohne Pause. Meist wird der Tee in Karatchs Händen kalt. Eines ihrer beiden Smartphones vibriert immer. Der Strom von Menschen, die ihren Rat suchen, reißt nicht ab.

Es kommt Jana Chulitskaya, eine junge Frau mit eingefallenen Wangen, die nach einer Demonstration so schwer von Polizisten verprügelt wurde, dass sie seither epileptische Anfälle hat und keine Arbeit mehr findet. Sie kämpft darum, dass der Staat sie als Invalidin anerkennt. Es kommt Jan Halko, dessen 15. Geburtstag von einer Spezialeinheit gestürmt wurde, weil sein Vater ein kritischer Journalist ist. Zwei Gäste sprangen vor Angst aus dem Fenster und verletzten sich schwer. Es kommt Yuliya Gorychko, die gemeinsam mit einer Freiwilligenschar auf dem Webportal chinowniki.info Karrierewege von Beamten offenlegt, die in dem System, das all diese Verbrechen ermöglicht, geschmeidig aufsteigen. Gorychko sagt: „Man denkt, dass eine Diktatur straff von oben nach unten organisiert ist, aber hier herrscht Chaos. Alle haben Angst.“

Neben Karatch sitzt die meiste Zeit Valery Shchukin, mit fast 80 Jahren und weißem Tolstoi-­Bart der Grandseigneur von Nasch Dom, eine lebende Legende des zivilgesellschaftlichen Widerstands in Weißrussland. Er notiert sich alle Geschichten, kann immer wie­ der nicht an sich halten. Einem Jugendlichen, der von seinem Leben in staatlichen Verwahreinrichtungen berichtet, raunt Shchukin zu: „Ergib dich nicht, lauf weg!“ Karatch legt Shchukin ihre Hand auf die Schulter. Wenn’s nur so einfach wäre.

An einem sonnigen Tag geht es weiter nach Wizebsk, Karatchs Heimatstadt. Durch die Autoscheibe fällt der Blick auf Felder und Wiesen, eine Landschaft, die zugleich gepflegt und beklemmend wirkt. „Unsere Herrscher erwarten von uns immer eine Art Perfektion, eine Reinlichkeit, die sich überall zeigt“, sagt Karatch. „Ich würde gern über mein Weißrussland schreiben“, sagt Karatch, die eigentlich Schriftstellerin werden wollte. „Nichts hier ist glatt, keiner perfekt.“ Sie schaut auf die symmetrisch angelegten Äcker. „Kneift man die Augen zusammen, gleicht unser Land aus der Ferne einem Blumenbeet. Aber wer näher herantritt, steht plötzlich knietief im Sumpf.“

Den Tag, an dem ihr Leben eine Wendung nahm, kann Karatch so exakt benennen wie die Mütter der „Kinder 328“ das Datum der Verhaftung ihrer Söhne: „21. Juli 1999.“ Sie studierte Russisch und Weißrussisch auf Lehramt und verteilte mit zwei Freundinnen Flugblätter gegen die Alleinherrschaft von Lukaschenko. „Ich war aber noch nicht allzu politisch.“ 15 Männer mit Sturmgewehren führten sie ab, „in einer bizarren Prozession“. Sie habe Angst gehabt, vor allem aber sei da „dieses tiefe Gefühl der Erniedrigung“ gewesen, das sie nicht auf sich sitzen lassen wollte. Sie entschied, sich für ein Land einzusetzen, in dem so etwas nicht mehr möglich wäre.

„Die erste Festnahme ist wie die erste Liebe“, sagt Karatch und lächelt. „Die vergisst du nicht.“
Wizebsk liegt in der Nähe der Grenze zu Russland. Der Maler Marc Chagall stammte von hier, Kasimir Malewitsch leitete in Wizebsk vor 100 Jahren eine suprematistische Künstlervereinigung. Große Namen, verblasster Ruhm. Heute wirkt die  Industriestadt mit knapp 380 000 Einwohnern archetypisch post­sowjetisch: Das schmucke Zentrum mit zweigeschossigen alten Kaufmannshäusern wird eingehegt von grauen Wohnblöcken. In einem solchen Block ist Olga Karatch aufgewachsen, als Tochter eines Schweißers und einer Köchin. Mittlerweile leben auch ihre Eltern in Vilnius, aber wenn Olga Karatch in Wizebsk ist, übernachtet sie immer noch in der Wohnung ihrer Kindheit. Die kleine Straße zu dem weitläufigen Wohngebäude ist glatt asphaltiert. „Die habe ich durchgedrückt“, sagt Karatch und zeigt aus dem Autofenster nach unten. „Meine ganze Kindheit über war das eine Schlammpiste.“

Karatch hatte nach ihrem Studium als Lehrerin gearbeitet, aber parallel die Opposition unterstützt. 2003 wurde sie ins Stadtparlament von Wizebsk gewählt, eine Sensation: „Ich war der einzige junge Mensch, die einzige Frau, die einzige Oppositionelle – ein einziger lebendiger Widerspruch.“

Als Abgeordnete versprach Karatch ihrem Viertel diese Straße, vergeblich. Als aber Präsident Lukaschenko nach Wizebsk kam und ein nahes Krankenhaus besichtigen wollte, drohte Karatch damit, ihn in diesen Wohnblock einzuladen, „auf tiefsten Wunsch seiner ergebenen Bürger“. Am Tag darauf wurde die Straße asphaltiert. Dann kappte der Machtapparat das Experiment mit der jungen Aktivistin im Stadtparlament: Zur nächsten Wahl wurde sie nicht mehr registriert.

Die Familienwohnung in Wizebsk konserviert eine vergangene Zeit: Kinderfotos in Setzkästen, Porzellanfiguren in furnierten Regalwänden, Vitrinen, Porträts lieblicher Landschaften. Bald nach ihrer Ankunft bekommt Karatch den ersten Besuch.

Olga Zhuravskaya, 37, Videobloggerin, ist wütend. „Hier herrscht Willkür!“, ruft sie und schlägt mit ihrer Hand so fest auf den Tisch, dass die Teetassen tanzen. Auf ihrem Youtube-­Kanal „Filmen erlaubt“ prangert sie die Methoden der Behörden an oder auch ganz alltägliche Skandale, „die alle unter den Teppich gekehrt werden!“

Mit einem Video von verfaultem Gemüse in einem Supermarkt hatte sie begonnen. Heute hat Zhuravskaya mehr als 33 000 Abonnenten, einige ihrer Videos erreichen siebenstellige Klickzahlen. Die Bloggerin spricht wie ein Maschinengewehr, erzählt, wie Behörden ihre Kameras konfiszieren, wie ihr Youtube-Kanal gesperrt wurde, von ihrem ständigen bohrenden Kopfschmerz. Zuletzt habe sie gefilmt, wie schlecht Patienten vor dem Coronavirus geschützt werden, das Präsident Lukaschenko öffentlich als „Psychose“ bezeichnete. Als Karatch wieder allein in der Küche ist, sagt sie: „Dieses Regime macht neun von zehn Leuten apathisch. Einige wenige aber werden zu Bulldozern.“

Am Tag darauf schließt Olga Karatch die schwere Metalltür eines Plattenbaus am Stadtrand von Wizebsk auf. Das alte Büro von Nasch Dom wirkt wie ein Startup aus den 1980er Jahren: schwere rote Vorhänge, leichte rote Plastikstühle, Röhrenbildschirme. Noch immer veranstaltet Nasch Dom hier Diskussionen, außerdem nutzen Redakteure des „Wizebsk-Kurier“ manchmal den Raum, der einzigen unabhängigen Zeitung der Region, als deren Herausgeberin Olga Karatch auch fungiert. Sie lebt in ihrer Rolle viele Leben.

„Als ich noch täglich hier saß, kamen die Leute in ihrer Verzweiflung wegen aller möglichen Sachen. Ich sollte bei Heizkosten helfen und Krebs heilen. Irgendwann konnte ich nicht mehr“, erklärt Olga Karatch. Was gibt ihr die Kraft, dennoch weiter zu kämpfen? „Als ich einmal Unterschriften sammelte für demokratische Wahlen, starrte mich ein Mann aus ganz trüben Augen an, wie durch blickdichtes Glas. Doch im Laufe unseres Gesprächs entzündete sich tief in ihm eine kleine Flamme. Wenn es mir schlecht geht, denke ich daran zurück.“

Auf dem Weg zurück nach Minsk versucht sich Karatch an einer Phänomenologie der Macht in ihrem Land. Die Unabhängigkeit sei über die Weißrussen „hereingebrochen wie ein Naturereignis“, ohne Kampf. Lukaschenko und seine Mitstreiter stammten aus ländlichen Regionen, wo es nur Tabus, aber „keine fundierten Wertesysteme“ gegeben habe. Der Unterschied: Werte würden überall gelten, Tabus aber seien geografisch begrenzt. „Wir sind“, sagt Karatch und muss lächeln, „als Staat zwar da, aber sozusagen noch gar nicht wirklich geboren.“

Lukaschenko habe selbst einmal gesagt, dass er ein Rudel junger Wölfe anführe. Und in einem Rudel entscheide nur das Alphatier. Wernicht mitzieht, wird vernichtet.

Unweit von Minsk besuchen Olga Karatch und Sviatlana Shelepen ein „Volksdenkmal“. Zwischen Tannen und Birken stehen auf einem Hügel Hunderte Kreuze aus Holz und aus Metall. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Tausende Opfer des stalinistischen Terrors verscharrt. Erst in den 1980er Jahren sicherte ein sowjetischer Historiker den Ort, Aktivisten und Bürger verteidigten ihn danach gegen Versuche des Staates, ihn einzuebnen. Auf einem Teil des Geländes bewilligten die Behörden dennoch den Bau eines großen Restaurants: Der umzäunte Flachbau steht am Rande des Hügels.

Ein junger Mann mit kurzen Haaren kommt hinter dem Zaun hervor und filmt Karatch und Shelepen. Ein zweiter Mann erscheint: „Was machen Sie hier?“, fragt er.

„Dürfen wir hier nicht sein?“, fragt Shelepen zurück.

„Es ist nur so, dass dieser Ort eher von Mitgliedern der Sicherheitsbehörden frequentiert wird“, sagt der Mann.

„Und Sie sind?“, fragt Shelepen.
Er lächelt kühl und bittet die beiden hinein, so nachdrücklich, dass ein Nein keine Option ist. Karatch ordert die Speisekarte, blättert ausführlich. „Das ist nichts für uns“, sagt sie plötzlich. Der Mann ist verdutzt. Karatch und Shelepen gehen. Nach einigen Hundert Metern schauen sich die Frauen an, lachen kurz, unsicher.

Als Shelepen einige Meter vorgelaufen ist, sagt Karatch: „Manchmal glaube ich, dass eine Freundschaft tiefer geht, wenn man sich in einem totalitären Staat für Menschenrechte engagiert. Wir verlassen uns ja nicht nur in alltäglichen Situationen aufeinander.“ Daran denke sie, wenn sie Angst oder Zweifel habe: „Ich kann nicht einfach etwas anderes machen. Zu viele Menschen, mit denen ich verbunden bin, wären enttäuscht.“

Zurück in Minsk, treffen sich Karatch und Shelepen mit Ales Krutkin, einem Aktivisten um die 30, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ein Riss im Brillenglas teilt das linke Auge Krutkins optisch in zwei Hälften, er stottert, ist sichtbar traumatisiert.

Krutkin erzählt bruchstückhaft, es ist beinahe unmöglich, seinen Kampf gegen den weißrussischen Staat nachzuvollziehen. Einmal sei er verhaftet worden, weil er Aufkleber gegen den Präsidenten verbreitet hatte, ein anderes Mal sei er nicht freigekommen, weil er auf die Frage eines Polizisten, wann er endlich Ruhe geben würde, geantwortet habe: „Wenn nicht ich, sondern Lukaschenko in dieser Zelle sitzt.“ Gerade sei er zwar frei, habe aber 1500 Euro Strafe aufgebrummt bekommen. „Die zahle ich nicht“, sagt er. „Bei der nächsten Wahl wird Lukaschenko abgewählt. Keiner will ihn mehr!“

Krutkin sagt das wie jemand, der von einer unmöglichen Idee so überzeugt ist, dass er eine Enttäuschung kaum verkraften würde. Karatch und Shelepen senken ihre Köpfe.

Einige Zeit später treffen sich in einem langen fensterlosen Raum Regimegegner. Sie wollen sich über die nahende Präsidentschaftswahl beraten. Auf der elektronischen Einladung standen weder Treffpunkt noch Uhrzeit, „um es der Polizei nicht zu leicht zu machen“, wie einer der Teilnehmer erklärt.

Wie früher im Stadtrat von Wizebsk fällt Olga Karatch allein schon als blonde Frau auf, dazu durch ihren roten Blazer. Die Redebeiträge vieler graumelierter Herren drehen sich darum, was vor vielen Jahren hätte getan werden müssen, um die heutige Situation zu verhindern. Es gibt eine Schweigeminute für die Todesopfer der weißrussischen Diktatur. Stühle knarzen, Stimmen verebben.

Karatch ergreift das Wort, sie spricht darüber, dass die Opposition Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen stärken müsse. „Wir dürfen den Leuten nicht sagen, was sie wollen sollen, sondern müssen sie fragen!“ Damit meine sie wirklich: bei Menschen klingeln und fragen. Sie bekommt viel Applaus.

Auch Valery Shchukin ist da, Olga Karatchs 78­-jähriger Mitstreiter. Er sagt: „Also, ich rufe nicht direkt zum bewaffneten Widerstand auf,
aber … Geflüster, Geraune, Gemurmel, dann wird es still.

„Wir werden diese Schlacht nicht mit Papieren gewinnen. Wenn sich nur genügend Menschen erheben, ist ein anderes Land möglich.“

Karatch dagegen sagt später über die bevorstehende Wahl: „Ich habe Angst, dass die Weißrussen von der politischen Gewalt so zermürbt sind, dass sie keine demokratischen Reformen mehr wünschen – selbst wenn Präsident Lukaschenko irgendwann nicht mehr an der Macht sein sollte.“