Eine Römerfahrt

Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967. S. 84-93.

Rom, 8. Oktober

Das ist Rom?! War mein Ausruf, als wir von unsrem Hotel de la grande Bretagne in der Via babuina aus den ersten Ausflug in die Straßen der ewigen Stadt machten. Welcher Unterschied zwischen der Wirklichkeit und dem Bilde der Phantasie! Ein Gewirre enger schmutziger Straßen empfing uns - wir waren auf dem Wege nach St. Peter -, in der Mitte der Straße die Gosse, wie es in unsern kleinsten Landstädtchen der Fall ist: wie kann Rom so plebejisch sein, überhaupt nur Gossen zu haben! Und dieser berühmte Corso! wie schmal er ist! Und diese pittoresken Italiener! wie schmutzig ihre zerrissenen Mäntel sind!

Sie fühlen sich enttäuscht - sagte Freund B., unser Begleiter - es wird allen Reisenden so ergehn, die durch den Namen Rom sich haben zu ausschweifenden Vorstellungen verführen lassen. Aber das ist der Eindruck des ersten Tages: mit jedem folgenden erhebt und steigert sich dieser Eindruck, und wenn Sie nach Monaten Abschied nehmen, ist Ihnen ein unauslöschliches Bild in die Seele geprägt. Mit jedem Tage entdeckt man neue ungeahnte Schönheiten, immer voller und voller zeigt sich diese Stadt der Wunder an fabelhaften Reichtümern. Wenn man eine andre Hauptstadt betritt, so ist man vorbereitet auf die Schätze, welche man finden wird. Ruhmredig haben Paris und London die Welt in Kenntnis gesetzt über alles und jedes, was sie an merkwürdigen Dingen besitzen. Dazu ist Rom zu stolz. Es bleibt dem Fremden überlassen, zu kommen und zu suchen; jeder Gang, jede Wendung um eine Ecke führt ihn denn auch zu einer Überraschung, zu etwas Herrlichem aus alter oder neuer Zeit. In einem abgelegenen Winkel, in einer schmutzigen Gasse finden Sie hier Dinge, über welche man in Deutschland Glyptotheken und Museen mit goldenen Dächern bauen würde!

Unser erster Gang hatte Sankt Peter zum Ziele, die vielgepriesene Riesenbasilika, an der doch jeder Schulmeister und jede rTourist so entsetzlich viel auszusetzen weiß. Auf mich machte sie einen großen und unauslöschlichen Eindruck. Es wird mir einmal leicht, in jede Natur, in jede Art der Auffassung, in jeden Charakter von Menschen und Epochen mich hineinzuversetzen, und die Dinge nach ihrem eigenen Maßstab zu messen. Das Analysieren und Mäkeln bleibe denen überlassen, welchen sich beim „Ritte ins alte romantische Land“ der Hesperiden die Kritik wie die schwarze Sorge des Horaz hintenauf setzt. In Italien, in Rom gilt es zu genießen. Aber Genüsse lassen sich nicht schildern. Ich werde auch niemanden damit beschwerlich fallen. Das hundertfach beschriebene will ich dem geneigten Leser überlassen, in den hundert Beschreibungen, welche seit Goethes italienischer Reise bis auf unsre Tage erschienen, nachzusuchen. Weshalb wiederholen, was in den dicken Büchern von Valery, Nibby, Vasi, Platner und Bunsen viel gründlicher geschildert ist? Und was den Eindruck angeht, den Rom in einem klaren Kopfe, einem gesunden Gemüte hinterläßt, so ist nicht möglich, ihn besser wiederzugeben, wie eben Goethe in seiner italienischen Reise es getan. Was ich eintragen will in dies Tagebuch, das sind hauptsächlich die Regungen der jungen Freiheit, die an der Hand Pius des Neunten noch schüchtern, überrascht über den eigenen Sieg, in die älteste und geheiligtste Burg der Autorität getreten ist. Wird sie hier sich auf den Glauben stützen? werden beide wie zwei siegreiche Genien, neu geheiligt, gereinigt, von alter Blutschuld freigesprochen und verjüngt durch das Abendland schreiten? und vor allem, werden sie über die Alpen schweben, in das arme deutsche Land, dem der Absolutismus den Fuß auf den Nacken setzt, wo Aberglauben und Unglauben noch die Brüder einer Muttererde in zwei feindliche Heerlager spaltet? Wer blickt in die Zukunft! Sie ist dunkler und sturmdrohender als je!

Rom, 11. Oktober

Der Oktober hat Tage von wunderbarer Schönheit und Milde heraufgeführt über die ewige Stadt, und ein unendlich klarer Himmel spannt sein tiefblaues Gezelt über die Kuppeln und Säulen der sieben Hügel. Wer von den Loggien des Vatikans oder vom Monte Pincio aus seine Blicke über dieses herrliche Rom schweifen läßt, über diesen einzigen Punkt unter der Sonne, wo die Poesie einhergeht in den Gewändern der Wirklichkeit und mit dem melancholischen Lächeln einer gedemütigten, aber immer noch stolzen Königin das leichtsinnige wirkliche Leben unter den Arm faßt, dem wird sich eine Überzeugung aufdrängen, welche darum gewiß nicht weniger gegründet ist, weil sie mehr einem inneren Gefühle als politischen Schlußfolgerungen entspringt. Diese Überzeugung ist, daß die entthronte Metropole der Erde, welche noch immer die Metropole einer höheren unsichtbaren Welt ist, keine andere als eine rein friedliche Mission in der Geschichte der Zukunft zu erfüllen habe. Und in der Tat, die kriegerischen Hoffnungen oder Befürchtungen, welche die modernen Söhne Cola Rienzis in Pickelhaube und Waffenrock nährten, beginnen allmählich ihnen selber zu schwinden. Obwohl niemand von ihnen gezweifelt, daß in kürzester Frist ihres großen Pio nono Wort, als er vor einigen Tagen sich die auf dem Monte Cavallo diensttuende Abteilung der Guardia civica vorstellen ließ: L’Italia devra risurgere!, Wahrheit werde, so glauben sie doch nicht mehr an den Ausbruch eines Krieges, mit welchem die Besetzung Ferraras durch die Truppen Metternichs eine Zeitlang zu drohen schien. Trotzdem mag es sein Gutes haben, daß im Norden der Halbinsel, über den Höhen des Apennins und der Euganeen diese Wetterwolke hängt, der niemand recht traut. Die „östreichische Intervention“, das ist der geheime Zügel, welcher die Stutzer des Corso, die „Paini“ der Kaffeehäuser so schön in der Bahn eines gemäßigten Fortschritts zusammenhält. Ich habe zwar wenige Bekanntschaften erst gemacht, aber es scheint mir, daß diese lebhaften Menschen, im Glücke leicht übermütig, bei ihrer Entwicklung zu einem freien Staatsleben eines mäßigenden und beschwichtigenden Einflusses bedürften. Da mag denn der alte Metternico als Knecht Ruprecht seine Dienste tun. Ich sprach von dem Vertrauen auf Frieden, dem man sich wieder hingibt. Dies hindert jedoch die Römer nicht, sich höchst kriegerischen Beschäftigungen zu widmen.

Die Guardia civica, ihre Bewaffnung, ihre Übungen nehmen alle Gedanken gefangen. Einem ruhigen Nordländer machen diese Rekruten des Heldentums mit ihrem unermüdlichen Eifer, ihrer Hast, ihrem tiefen Durchdrungensein von der äußersten Wichtigkeit des Gegenstandes einen komischen Eindruck - die Länge des Bajonetts, die Form der Patronentasche, alles das ist ihnen eine Lebensfrage; die Übungen werden mit äußerstem Eifer betrieben; sogar kleine Jungen von vier Jahren sieht man auf den Straßen in der vollständigen Uniform der Guardia civica.

Diese Uniform selbst ist geschmackvoll, fast ganz wie die der preußischen Infanterie, nur ist der Waffenrock länger und nicht so knapp, der Lederhelm mit rotem Haarschweif auf der Spitze nicht so groß und dadurch die störende Disharmonie zwischen Röcklein und Ritterhelm, welche bei unserer Infanterie auffällt, vermieden. Vor einigen Tagen hielt die Guardia civica zugleich mit dem Linienmilitär einen Auszug ins Freie, der eine unermeßliche Menge Zuschauer herbeigelockt hatte. Es war ein Fest der Vereinigung, der Verbrüderung und Gleichheit; allen politischen Stichwörtern des Tages wurden donnernde Evvivas gebracht, und neben der Einheit Italiens, neben der Freiheit und brüderlichen Gleichheit ertönte, auch ein drohendes: Evviva la Morte! -

Im Laufe des Winters will man auch die Schulbuben von 10 bis 15 Jahren ein kriegerisches Corps bilden lassen. Sie sollen in hübschen grünen Uniformen ein vollständiges Wohlorganisiertes und bewehrtes Bataillon, mit Offizieren und Unteroffizieren aus ihrer Mitte, formieren und als „Speranza“ die Pflanzschule künftiger Vaterlandsverteidiger sein.

Rom, 14. Oktober

Ich war heute Zeuge eines jener schönen und ergreifenden Augenblicke, deren das glückliche Rom seit der Thronbesteigung des neunten Pius so viele erlebt hat - Zeuge, Welche unendliche Dankbarkeit, Pietät und Liebe im Herzen eines Volkes wohnen und wie sich der Enthusiasmus für einen Menschen bis zu einer Höhe schwingen kann, wo er so verklärt und heilig wird wie der Hymnus der Andacht oder die Begeisterung, welche die Schönheit einflößt. Es war draußen an der Porta di San Giovanni. Um den hohen Obelisken des toten Ägypter-Königs Möris, um den Palast des Laterans, um die imposante Basilica Konstantins - omnium urbis et orbis mater, caput ecclesiarum - hatte sich eine unendliche Menschenflut ergossen, die vom Quirinal an bis hierher Straßen und Plätze füllte. Von den Treppenstufen und der weiten Terrasse vor der hohen Fassade des Johannistempels übersah man das dichtgedrängte Volk, diese Welt von Karossen, Reitern, Fußgängern; in ihrer Mitte, ein Spalier bildend, die Civica, d. li. alles, was so glücklich ist in Rom, ein Gewehr und ein Paar weißer Bandeliere zu besitzen. Über sie empor, links, stieg die Halle der Sealasanta, auf welche der Herr einst zum Palaste des Pilatus hinaufschritt. Weiter rechts zeigten sich die Trümmer der Römerwelt, die Bogenwölbungen der Stadtmauer, das Tor, durch welches Totila in Rom einbrach, und drüber das schöne blaue Albaner-Gebirge mit seinen weißen Villen. Es war unmöglich, sich der tiefsten Erregung zu erwehren auf diesem zauberhaften Fleck Erde.Dort, von der untergehenden Sonne angeglänzt, das Denkmal der urältesten menschlichen Entwickelung aus dunklem Porphyr, geheimnisvolle Hieroglyphen tragend, so unverständlich für uns wie der ganze Gedanke dieses Totenlandes Mizraim; hier die Ruinen aus jenen Jahrhunderten, in welchen Rom sagen konnte: „Die Welt, das bin ich!“ - und drei Schritte davon die Monumente des duldenden und kämpfenden wie die des siegenden Christentums, voll säulenstolzer Herrlichkeit! Dazu die Erinnerung an die Flut der Barbaren, welche durch jenen Torbogen brach und den alten Bau der Jahrhunderte stürzte, um Platz für einen neuen zu schaffen, in welchem die Idee von eben diesem Lateran aus die Welt beherrschen sollte - und nun endlich diese frohe, erregte Menge umher, diese tausend und aber tausend Herzen, welche voll und hoch schlugen, von dem Gedanken unseres Jahrhunderts, dem der Freiheit und edler Entwickelung, bewegt - wer konnte sich umschauen auf diesem Platze, ohne die Geschichte der Welt an sich herantreten zu fühlen!

Die Abenddämmerung zog herauf, die Gebirge von Albano wurden dunkler und dunkler, der Schein der Abendröte sank von den eben noch vergoldeten Tempelkuppeln der ewigen Stadt. Die Malaria kündigte sich an, die kalte Abendluft kam -  aber die sonst so behutsamen Römer wichen nicht und hielten geduldig stand und ließen sich kein Warten verdrießen. Und weshalb das alles? Um Pio nono zu empfangen. Kehrte er heute etwa nach längerer Abwesenheit heim? Oder sind die Gelegenheiten so gar selten, ihn zu sehen und ihm zu sagen, wie man ihn liebt? O nein. Keine Woche verfließt, in welcher man ihn nicht sieht, und was seine Abwesenheit betrifft, so hatte sie kaum einen Tag gedauert - er war am Morgen nach Castel Gandolfo auf seinen Landsitz hinausgefahren. Aber die Römer, schien es, wollten ihm zeigen, wie ihre Anhänglichkeit jedem seiner Schritte folge. Darum dieses unermeßliche Gedränge von Personen aus allen Ständen, von den höchsten bis zu den untersten, diese glänzenden Karossen und diese wettergepeitschten Fiaker, diese malerischen bunten Gruppen von Trasteverinern, Mönchen, Soldaten, Schülern in ihren klösterlichen Uniformen usw., usw. Man harrte lange. Ein unglücklicher Bursche in weißem Kittel war vom Schicksal dazu ausersehen, als erheiternde Episode zu dienen. Er war beim Stehlen ertappt, und zwei Männer der Guardia civica verhafteten ihn und führten ihn fort.  Dieser Anblick schwellte das Herz meines Kutschers mit patriotischem Stolze - er mußte ihn ausströmen, es litt ihn nicht oben auf dem hohen Bocke, wo er thronte über den Häuptern der Sterblichen - wie ein Blitz war er herabgeklettert und bewies seinem Forestiere, über den Wagenschlag gelehnt, mit höchster Lebhaftigkeit, wie seit der Einführung der Civica in Rom ein Unfug gar nichtmehr möglich sei, wie ihre Wachsamkeit jede Unsitte verhindere - ich glaube, der Mann war geneigt, alle Buß- und Heils-Anstalten der Kirche für unnütz zu erklären seit der Einführung der glorreichen Civica! Endlich verkündeten heransprengende Dragoner das Nahen des Erwarteten. In der Ferne erhob sich unendliches Jubelgeschrei, das näher und näher schwoll. Ein Vierspänner rollte heran - ihm folgten zwei sechsspännige einfache Reisewagen, jeder von einem Detachement Dragoner eskortiert. In dem ersten saß der Papst, allein, im weißen Haus-Ornate, unermüdlich mit leiser Handbewegung sein Volk segnend, dessen donnernde, nicht endende Evvivas alle Echos der hohen Bauten umher weckten und die Luft in einer Weise erfüllten, daß von der wohlbesetzten Militärmusik auch nicht der leiseste Ton zu vernehmen war! Er hatte etwas wunderbar Erschütterndes, dieser Moment. Im Palaste des Quirinals angelangt, erschien der Papst auf dem Balkon, wo er, vom letzten Ausbruche des Enthusiasmus aufgenommen, dem auf dem Monte Cavallo dichtgescharten Volke seinen Segen erteilte. Die neue durch ein Motu proprio erteilte Stadt-Verfassung für Rom hat vielleicht zu diesem Empfange beigetragen; doch versichert man mich, daß dieser - ich möchte sagen - Fanatismus der Liebe sich immer gleich kräftig zeige. Zudem wissen die Römer, daß es innere Erlebnisse, tiefe Kämpfe im Herzen ihres Souveräns gegeben hat, welche ihn menschlich ihnen nahetreten lassen. Dafür wollen sie ihn mit doppelter Liebe lohnen und Jauchzen und Jubel des Volks soll, eine umgekehrte Penelopearbeit - am Tage zerstören, was die reaktionäre Kamarilla im Dunkel spinnt und webt.