Fünf Tage Deutschland

von 
Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967, S. 179-197.
Juli 1947

I

… griff mitten in die paar bekritzelten Tagebuchblätter - da stand es: Fünf Tage Deutschland. Das muß an die Spitze des Aufsatzes, wenn er gedruckt erscheint. Aber ganz unparteiisch. Sogar möglichst aufgekratzt. Denn ich habe vor keiner Art Heiterkeit Angst - in einer Welt, die doch niemand mehr ernst nimmt.

II

Fünf Tage waren mir amtlich erlaubt, als ich von der Schweiz (der PEN-Club-tagte damals) nach Deutschland wollte. Also bloß ein Blick, für diesmal. (Aber: bloß für diesmal.)

III

Der Amtsbescheid für die Einreise ließ noch etwas warten. Daher traf ich indes einen lieben Menschen weiblichen Geschlechts laut Vereinbarung in Kreuzlingen: dort ist die Grenze. Alles klappte genau. Wir rollten aufeinander zu, der eine mit der Schweiz im Rücken, die andere mit Deutschland hinter sich; dazwischen ein Schlagbaum.

IV

Es gibt in Kreuzlingen sogenannte „Tagesscheine“; die gestatten einen begrenzten Grenzverkehr zwischen den Anliegern, in dringenden Ausnahmefällen - doch hier bestand kein dringender Ausnahmefall; und war ich ein Anlieger? (Jetzt, crescendo: Keine Lösung? Alles umsonst? … Pause.)

V

Ein Ausweg trat in Kraft. Aufgrund eines weiblichen Vorschlags. Wenn jenes Auto, worin das Freundliche, Stürmische von München her an die Schranke gebraust war, jetzt bei gehobenem Schlagbaum genau in der Grenzmitte stand, mit uns darin, in einem mathematischen Niemandsland - was war einzuwenden? Kein Wachtmeister irgendeiner Volkheit kann gegen logische Naturgewalten an.

Der Schlagbaum ging mitten durch uns. Theoretisch gesprochen. Vielmehr: durch die Mitte des Autos, dessen einer Teil in Richtung Uri, Schwyz und Unterwalden, dessen andrer in der deutschen Republik, Französische Zone, stand. Wir schwatzten drei Stunden lang, wie wir wollten (spannender gesagt: nach Herzenslust) - schwatzten, bis, fern von Kreuzlingen, auf dem PEN-Club in Zürich der Abschiedsball begann.

VI

Dies war mein erster Versuch. Deutschland wieder aus der Nähe zu sehen. Danach fuhr jeder zurück: einer zur Limmat, eine zur Isar. (Beziehungsweise sogar zur Pegnitz.) Das ganze war etwas, woran ein harmloser Mensch auf dieser brustkranken Erdkugel nicht ungern zurückdenkt.

VII

Tagebuch. - Man lebt in einer Welt des Verbots; des umständlichen Erlaubtseins; des Visums; des Passes; des abgezählten Reisegelds; des lauernden Kurses; des Zollgeschnüffels; und was noch? Unser Dasein heute scheint verkürzt und entwürzt. Neulich, die Fahrt von London südwärts, war voll boshafter Unterbrechungen durch Ämter und sonstige Menschenfeinde. Das Leben jetzt ist beschränkt und beengt; gedämmt und gehemmt. Dies alles anno 1947.

„Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige …“ (Schiller).

VIII

Tagebuch. - Heut kam die Erlaubnis zur Einreise. Bin dankbar und froh. Kann jetzt mit dem ganzen Körper nach Deutschland hinein. Nicht nur die Teilstrecke von unlängst. Schließlich: fünf Tage sind fünf Tage. Fuhr zum zweitenmal nach Kreuzlingen. Jetzt glattüber die Grenze.

 IX

Tagebuch. - Hier in Deutschland überrascht den Zwangsgewanderten ein unbestimmbares Gefühl. Bin heut, seit vierzehn Jahren zuerst wieder, in dem Land meiner Liebe, meiner Qual, meiner Jugend. Und meiner Sprache. Diese Trottel wollten mir blitzdumm die Zugehörigkeit absprechen.

Ich werde nicht wehleidig … Aber wie kommt man sich vor, nach allem Vergangenen? Nicht wie ein nachtragender Feind – wahrhaftig nicht. Sondern wie ein erschütterter Gefährte. Erschüttert…  aber mißtrauisch. (Man soll die Wahrheit ermitteln, sie feststellen - und dann sie sagen.) Also: Mißtrauisch, doch weich … Nein: viel eher weich als mißtrauisch… Und trotzdem - etwas mißtrauisch …

Genau so ist es. Zuletzt behält der romantische Begriff „Deutschland“ die Oberhand. Es ist ja doch nicht auszurotten, was man so lange belacht und geliebt hat. Und eines steht fest: über dem Ganzen dämmert die innigste Hoffnung für ein heut unglückliches Land.

X

Widersprüche … Stimmungen, die sich kreuzen … Will ein Heimkehrer alles vergessen? Nein. Das eben soll er durchaus nicht. Das nie. Es müßte sogar ein Gedenktag angesetzt werden, ein Trauertag der Welt, wegen des Unglaubhaften, dennoch Wirklichen, das einmal durch Deutsche geschah – damit es nicht vergessen werde.

Jeder kann hier nur für sich sprechen. Jeder nur für sich empfinden, was er beim Wiedersehn empfand. Und er wird auf die Erkenntnis stoßen, daß er, eins ins andere gerechnet, doch um vierzehn Lebensjahre bestohlen ist. Das sind gewiß Bagatellen im Vergleich zu dem furchtbaren Rest. Hier spricht jedoch kein lächerliches Selbstmitleid. Sondern eher ein Nichts-vertuschen-Wollen. Vielleicht ein Bekennen - für alle.

XI

Man grübelt und sucht einen Halt. Das geht bis zu dem Wunsch, übertrieben gerecht zu sein. Ungefähr so: Vielleicht war manches für manchen sogar ein Zuwachs. Ohne den erpreßten Ausflug wären die Kinder nett in Berlin geblieben; sie hätten niemals Französisch wie Franzosen, niemals Englisch wie Engländer gesprochen - neben ihrem eingewurzelten Deutsch; mein Sohn hätte niemals im Lycée Michelet den „prix d’excellence“, in England niemals die hohen scholarships für Cambridge gekriegt; er wäre nicht gegen die Schänder Deutschlands Fliegeroffizier in der Royal Air Force gewesen, vier Jahre lang. Meine Tochter hätte niemals, elfjährig, zwischen Eiffelturm und Triumphbogen gesagt: „Pappi, es ist herrlich, ein Flüchtling zu sein.“ Ich selbst wäre (wenngleich in dem sehr geliebten Grunewaldhaus) stets in demselben Zusammenhang mit der selben Zeitung geblieben, bis zum neunzigsten Geburtstag, und hätte dann auf einem Bankett scheu die Ehrungen abgewehrt. Aber ich hätte niemals in Paris Not gelitten (mit Wonne), und in England hernach …

XII

Trotzdem - dies Wanderleben war keine Belustigung. Und, nochmals: vierzehn Jahre glatt gestohlen. Wer weiß, wie die sich gestaltet hätten … Kleinigkeiten spielen mit. Der Mensch will nicht, selbst in dem wahrhaft ethischen London, ewig Hammelfleisch essen - und nie, wenn es ihm paßt, Eisbein mit Sauerkohl. (Hammel und Eisbein, meine Lieben, sind hier symbolisch ausgedrückt.) Alle diese Stimmungen rumoren (sie haben schon vorher oft rumort).Und in dieser (höchst konfliktigen) Erschütterung liegt wahrscheinlich nichts andres als das Faktum unlösbaren Verbundenseins.

XIII

Widersprüche … Klar sind sie dem Leser kaum. Mir auch nicht. Aber … sie könnten eines Tages klar sein, wenn folgendes einträte. Ich denke hier bestimmt nicht an bare, zahlenmäßige Gutmachung. Ihr müßt zuerst aus dem Hunger heraus. Doch wie wär‘ es dann; wenn diese, zumal durch deutsche Schuld heruntergekommene Welt justament durch Deutsche wieder hochgebracht würde? … Nicht nur im durchschnittlichen, pflichthaften  Reihentrott, sondern durch deutsche Seelenstreiter weit vor der Linie. Deutsche, sichtbar vor allem Volk…

(Nicht lachen! Nur nicht lachen!)

Wie wäre das: wenn ihr künftig den Überschuß der großen Kraft hieran wendetet? Sobald die gröbste Not vorüber ist. Eine Leistung wäre dies, nicht rein körperlich zu bewerten…  Sondern, gewissermaßen, die Erfüllung eines Gelübdes … Könnt ihr das? Ihr könnt es, ihr habt das Zeug dazu. Sogar dazu. Dann würde (nicht lachen!), was heut Widerspruch ist, euch und allen licht sein, eine Klarheit, die Luft entgiftet, und der verwünschte Zweifel über Bord. Los!

XIV

München … Nürnberg … Frankfurt … Alles zugleich kann ein eben Hineingeschneiter nicht sehn - doch überwiegt der Eindruck: München ist keineswegs hoffnungslos.

XV

Du erkennst jedenfalls die Straßen, wo sie gewesen sind. Du rufst: „Da ist ja die liebe Feldherrnhalle, da ist sie ja …“ Wo damals die Flucht der Erscheinungen in die Geschichte einging - nach verschiedenen Richtungen… Da ist ja der Franziskaner - wenn er auch kein „Franziskaner“ mehr schenkt (ja sind denn historische Erinnerungen gar nichts?) … Lag hier nicht irgendein Siegestor? Doch! … Und hier ist man bestimmt in der Kaufingerstraß’n. Weißt, mit die Schaufenster … Hier sogar ein extrabilliger Woolworth mit Viertel- und Achtelpreisen -für die deutsche Bevölkerung. Sie drängt hinein.

XVI

Im Ernst - trotz schlimmer Einbuße bleibt das Gefühl: München wird auferstehn. Schon darum: weil hier weniger wichtig die Baulichkeiten gewesen sind als der Geist (hätt‘ ich fast gesagt …). Vielmehr der Ortsgeist. Das frohe Herz. Das allgemein Phäakische. Oder, um gebildet und doch verständlich zu reden: die Atmosphär‘. Aber die Atmosphär‘ hat sich geändert. Es scheint, daß ein gewisses Maß von Bitterkeit einriß. Was Unfreundliches. Was leise Verbocktes. Zum Revoluzz reicht es nicht. Kaum zum sichtbar am Hut getragenen Groll. Doch unterschwellig ist es da. So wenigstens empfindet es der frisch Zugereiste … Aber wer wird das schon sein? Ein Schlawiner aus Picadilly.

XVII

Die peinliche Stimmung stammt gewiß vom Überfülltsein mit Fremden. Du hörst ja kaum ein süddeutsches Wort. Man stößt auf brummige Balten, verirrte Rabbiner, ungemütliche Sachsen. Sie hatten vermutlich keine Wahl. Wollten gern irgendwo untergebracht sein. Sollen die sich aufhängen? Bloß um einer herzlich beliebten Stadt das vertraute Bild ihrer Wesenheit zu belassen? Sozusagen für den Baedeker - und ein vormaliges Hofbräuhaus? Keine Sorge; das kommt sowieso wieder. München wird auferstehn.

XVIII

Tagebuch. - Gestern, als ich über die Grenze bin, und das Auto noch stillsteht, aß ich einiges vom Bahnhof in Zürich Mitgebrachte. Ein deutsches winziges Bübchen kommt näher und fragt lächelnd: „Schmeckt‘s?“ Ich weiß nicht, warum, aber ich habe Lust, loszuheulen - obwohl das Kind vielleicht eingelernt ist. Mit dem Empfangenen wandert er ab. Kommt nach sehr kurzer Zeit zurück; und fragt wieder- lächelnd.

XIX

Tagebuch. - Nachmittags bei einem Gang durch die Stadt kommt mir der Gedanke: „Ich muß unweigerlich das Bier kosten, das hier gebraut wird …“ Leser, es hat nicht gelohnt. Ich trank ja sowas schon einmal, in Amerika, vor zwei Jahrzehnten. Aber da war Prohibition …

XX

Nachtrag. - Ich forderte späterhin, des Vergleichs halber, in London ein „Mild Ale“. Die Bufettfrau zwinkerte mir warnend zu (mit fast verzerrter Backe): „Dann wenigstens ein „Ale-and-Bitter!“ So zwinkerte sie. Und sie dachte gewiß an den deutschen Pastor, der beim Verhandeln über eine Hochzeitsrede warnend sprach: „Ich habe ja auch eine zu fünfundzwanzig Mark - aber dazu kann ich Ihnen selber nicht raten …“ Sie hatte nicht zwecklos gezwinkert. Und dabei winselt dieses London täglich über den Schwund von Hopfen und Malz. Und was sie sonst noch hineintun. („Nur Helios vermag’s zu sagen, der alles Irdische bescheint.“) Man lebt in apokalyptischen Zeiten, überall. In München arten sie zu einem Frevel aus.

XXI

Hier in München ist der Herstellungsort einer mir liebgewordenen Zeitung. Ich sage nicht von welcher. Um keinen Preis. Cordelia ist ein Hund gegen mich. Was unsereinen von fern oft erquickt hat, sah ich nun im lebenden Betrieb. Hier war, in all dem Weltjammer, allemal biß’l was angenehm Europäisches - nämlich Amerikanisches. (Das wird ja immer verwechselt.) Hier war auch der Freund. Der Leiter. Den ich jetzt kennenlernte. Man denkt gern an fünf Tage zurück…

XXII

Nach getaner Arbeit hausen etliche hier (weitab vom gedruckten Wort, vom gedruckten Bild, von der drukkenden Maschine) im Abendgarten ihres Hauses. Hier ist hängendes Grün, altes Gebäum, vor der weiten Rasenflur. Und am Hause sind rastvolle Steinplatten. Mittendrin ein steinumsäumter Weiher - mit schlafenden Seerosen … Die Freunde arbeiten noch, unten in der Stadt. Heut abend bin ich allein hier.

XXIII

Ein verspäteter Photograph schlüpft oder hüpft herein … Nach einer Weile sagt er: „Und jetzt vielleicht etwa zu den Seerosen gebeugt.“ „Zu den Fischlein?“ Er sagt: „Es sind Kaulquappen.“ Ich (etwas verletzt): „Kaulquappen sind auch Fischlein.“ Er denkt jetzt: „Wenn Kaulquappen auch Fischlein sind, hätte der Schubert statt der ,Forelle‘  vielleicht die ,Kaulquappe‘ komponiert.“ Er sagt es aber nicht.

XXIV

Jedenfalls flitzen die wendigen kleinen Geschöpfe sowohl auf und ab als auch dahin … Hauptsache, daß man noch flitzt … Der Tag geht zu Ende. Also, warum streiten? Um Kaulquappen? Kameraden sind wir, Abendkameraden. Der Tag geht zu Ende.

XXV

Nahm der Photograph still Abschied? Er scheint nicht mehr dazusein. Und was tun die Regenwürmer jetzt? Einer ringelt sich im Gras vor mir; ein ganz geübter, mit rascher Kopfbewegung. Guten Abend, Sir. Ich denke gern an fünf Tage … Friede herrscht - fern von „der Welt Unfläterei“, wie ein Dichter (diesmal nicht ich) es genannt hat.

Schlafen Kaulquappen nachts? … Die Wasserrosen sind bereits geschlossen - und halb untergetaucht.

Ich denke gern an … Und nicht ungern an München selbst. Dieser Stadt schlägt die Totenglocke noch lange nicht.

XXVI

Aber Nürnberg … Aber Nürnberg … Was hier gewesen ist, lebt gleichfalls fort, doch wie ein kurioser Doppeltraum: - ein schöner von einst - und ein übler von jüngst. Nur von dem schönen Traum wird zu sprechen sein. Und von einer Schutthalde.

XXVII

Nürnberg … Das war eine Stadt; und ist eine Schutthalde. Das war gemütlich-bürgerlich; und ist ein Grauen. Ein Grauen ohne Tragik; nur noch was Unangenehmes. Eine Ruppigkeit. Eine Häßlichkeit. Eine Trostlosigkeit … Eine Schutthalde. In den „Meistersingern von Nürnberg“ klang es behaglich, friedvoll: „Wie duftet doch der Flieder…“ Es hat sich ausgeduftet.

XXVIII

Die Lorenzerkirche steht noch. Auch ihr Gegenstück: die mit dem wundervollen Sebaldusgrab. (Ist es noch vorhanden?) Der Weg zwischen beiden bleibt eine Seelenfolter. Du siehst kaum andres als Geröll. Irreführend wäre das Wort „Ruinen“ - da denkt man immerhin an gewesene Hausungen; dies aber ist dem Staub viel näher als der billigen Vorstellung zerrissener Wände.

XXIX

So daß im ersten Augenblick der Gedanke nicht abwegig scheint: dies Trümmertal seinem Zustand zu überlassen - und ein neues Nürnberg nebenan zu erbauen. Sind das Wahnbilder? … Traumideen? … Das alte Nürnberg wäre dann eine Sehenswürdigkeit … wie Pompeji; wie Rothenburg; oder wie das erschütternde Timgad in Nordafrika. Ein Pilgerziel für die Fremden.

XXX

Alles das bleibt mit einem Gran Phantasie zu verstehn… Aber warum? Man könnte die zwei Kirchen, dazu einen der wohlerhaltenen Brunnen abtrennen von dem umgebenden Dreck; sie befreien - und dies ganze Geheg‘ umgittern wie einen Schutzpark … zu immerwährendem Gedenken. Zur Erinnerung an die Stätte, wo einst Nürnberg war.

XXXI

Der Plan wäre vorläufig (wie Lessing es ausdrücken würde) „nur ein Problema sozusagen“ - doch er müßte das nicht immer sein … die Phantasie spinnt fort…

Was den Raum zwischen dem kostbaren Überrest zu füllen hätte, wären Blumen, Blumen, Blumen. Heitere. Farbige. Alles gewissermaßen in dem unbefangenen Stil dieser außerordentlichen Kleinbürger von damals. (Sie schmückten ja das Grab eines ihrer Heiligen arglos mit gemeißelten Bübchen, die bei dem Toten mit gemeißelten Hunden spielen.) … Laßt es fröhliche Landblumen sein.

XXXII

Was vorläufig in Nürnberg drückender ist als Nürnmerg, sind die Nürnberger. Frische Gesichter wie in München sah ich nicht. Eine Last liegt auf den Leuten. Vielleicht ist ihr allzu williges Ergebensein die Folge davon. Diesen Eindruck (ist er falsch - um so besser) hat ein Außenseiter von ihrem tonlosen Gehab‘. Es ist, als lebten sie in einer unteren Stadt mit der stumpfen Empfindung, daß es eine obere gibt - von deren Vorhandensein sie immer wissen.

Ja, als ob sie mit halbem Ohr immer auf etwas horchten; ohne das zu merken. Es horcht in ihnen.

XXXIII

Die Kleinigkeiten der Gewohnheit bleiben hiergegen unwichtig. Es ist belanglos, daß sie ihren Tabak selber machen. Sie bekommen dazu (amtlich geliefert) eine „Beize“. Wir taten es nach dem ersten Weltkrieg ohne Beize. Und es ging. Einmal, als ich bei Einstein war und wir rauchten, sah ich ihn etwas Papier dem Pfeifenkopf beifügen - was ich dann auch tat. Aber alles vollzog sich damals noch nicht in so lichtlosem, spaßlosem Trübsinn, wie erst ein Fortschritt in der allgemeinen Verdummung es ermöglicht.

XXXIV

Den ernstesten Schlag empfing ich in Nürnberg, als auf der Straße die denkmalhafte Dürftigkeit des vegetabilisch Vorhandenen sichtbar wurde. Ein Satz fiel mir ein, den ich in Seattle, der nord-westamerikanischen Stadt, vormals geschrieben; er hieß: „Ich geh in der Welt immer gern auf die Märkte, morgens, wo das Leben saftschwer quillt; wo das Genie des Alltags fischig, selcherhaft, knödelsam, und mit Gemüsebergen fluscht.“ Es flutschte nicht. Liebes  Nürnberg …

XXXV

Zwischendurch fragt sich der Besucher: Neckt einen diese Stadt? Spukt es? Macht sie Anspielungen? Heimliche Hinweise? Die Sebalduskirche herbergt (hoffentlich noch heut) das berühmte „Gericht“ von dem alten Bildhauer Adam Krafft …Und was ragt warnend oben auf dem Brunnen hier? Die „Justitia“ mit der Waage. (Schon wieder was Anzügliches?) … Und vor allem: hier in Nürnberg schuf ja der Albrecht Dürer sein unvergeßbares Griffelwerk - das hieß: „Nemesis“ … Nemesis… Dürer contra „Führer“ … (Abergläubisch könnt‘ man werden.)

XXXVI

Als ich allein das Gerichtszimmer betrat, geschah es mit einer besonderen Erlaubnis. Das Publikum war nicht zugelassen. Diese Morgenstunde galt der Vernehmung vorgeführter, bekannter Nazis. Der Ankläger schien mir weit fesselnder als die Angeklagten. Er vollzog sein Amt mit überlegener Meisterschaft - doch keineswegs ohne Menschlichkeit. Sein Ziel war offenbar nicht, Häftlinge scheu zu machen. Nur sobald sie logen, war er mit einem Donnerwetter des Widerlegens, auch mit Ironie zur Stelle; datenmäßig, zahlenmäßig, seelisch. Und sie logen.

Ich empfand kein Triumphgefühl - obschon ich einen sah, der im „Völkischen Beobachter“, wenn mir recht ist, noch unter der Republik, verlangt hatte: bestimmte, mit Namen genannte Schriftsteller seien „an die Wand zu stellen“. Andere der Vorgeführten waren weniger literarisch. Traurige Gestalten? … aber noch gestern hatten sie Trauer verbreitet. Jeder blieb letztens schuld an dem Elend, das über die Welt gekommen ist. Der Ankläger, so menschlich er war, wußte das. Er handhabte die einzelnen dennoch verschieden, je nach ihrem Wertunterschied. Er kannte die Grade! Seelenkenner hätten an ihm ihre Lust gehabt. Ich hatte seinen Namen oft gelesen; von seiner tapfer-charaktervollen Art gehört. Jetzt sah ich ihn zum ersten Male. Er war, wie ich ihn mir gedacht hatte.

XXXVII

Wovon sprach ich? Von einem Trümmertal. Von Pompeji. Von leuchtenden Landblumen. Von einer Unterstadt. Von Gemüsebergen in Seattle. Vom deutschen Wald mit „Beize“. Von Albrecht Dürers „Nemesis“. Von menschlichem Ernst vor Gericht.

Vier von den amtlich erlaubten fünf Tagen waren um. Ich hatte München und Nürnberg, aber noch Frankfurt nicht gesehn … Da kam ein Soldatenzug mir zu Hilfe: der setzte mich, ob ich wollte oder nicht, in Frankfurt ab - für drei Stunden. Ich hatte drei Stunden Zeit, für diese Stadt eine Hoffnung zu hissen. Nämlich: Frankfurt wird am frühesten empfangsfähig sein. Es wird am frühesten eine gesellschaftliche Zukunft haben. Somit eine politische. Die Anzeichen dafür zu begründen war in der Eile des Prophezeiens schwer. Statt dessen ging ein Zug weiter … nach London, zur Themse, zum Buschwald von Wimbledon – und zu einer französischen Wirtin.

XXXVIII

Tagebuch. - Ich weiß nicht, ob ich in fünf Tagen alles richtig gesehen - aber ich weiß, daß ich alles, was ich gesehen, richtig gesagt habe. (Auf das Sagen kommt es an.)