Ich war ein anderer

Essay
zuerst erschienen am 7. August 2011 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Und ein anderer war ich: Wie unsere Autorin einmal den Facebook-Tod starb. Und sich durch dir Wirklichkeit ins virtuelle Leben zurückkämpfte.

Okay, ich bin eine von Millionen. Ich unterhalte ein Facebook-Konto. Und wie alle, die dort angemeldet sind, verfluche ich es in regelmäßigen Abständen. Facebook ist bekanntlich ein werbeverseuchter Organismus, der mit den Daten argloser Bürger spielt und unsere Gehirne so manipuliert, dass wir uns mindestens alle 36 Stunden einloggen und Details aus unserem Intimleben preisgeben. Und das nur, damit mafiöse multinationale Marketingfirmen mitschreiben können. Eigentlich müsste man es sofort verbieten, und jeder weiß es.

Aber nun habe ich zwei neue Dinge herausgefunden, die mich einigermaßen überrascht haben: Erstens, dass es sich beim Großen Bruder in Wahrheit um eine Große Schwester handelt. Zweitens, dass man die korrupte Maschine sofort vermisst, wenn man plötzlich nicht mehr mit ihr herumspielen darf.

Die Sache ist die: Jemand will mich bei Facebook ermorden. „Identity Theft“ heißt der kriminologische Fachbegriff. Ein Fremder versucht seit einer Weile, mein Profil plattzumachen und sich meine Online-Identität unter den Nagel zu reißen. Facebook glaubt dem Fremden, dass er ich ist – und hat mich zur Dissidentin erklärt und rausgeworfen, ohne Vorwarnung, mit sofortiger Wirkung. Es traf mich so, wie ich mir einen Streifschuss vorstelle. Es tat schon weh.

Monströser Ablenkungsapparat

Seit zweieinhalb Jahren bin ich dabei. Und stimme meinen Facebook-Freunden zu: Die Postings sind ein Quatsch, die Wichtigtuereien endlos, es ist ein Zeitfresser und monströser Ablenkungsapparat. Aber jetzt, nach dem Abschuss, sehe ich, dass es eben doch auch eine Menschlichkeits-Maschine ist. Da gibt es die Labertaschen, die beflissenen Rund-um-die-Uhr-Verlinker und diejenigen, die Usambaraveilchen in 3-D versenden; andere berichten live von Bahnverspätungen in Mittelgebirgslandschaften oder fotografieren täglich ihr Mittagessen; wieder andere zitieren ausschließlich Intellektuelle aus dem 20. Jahrhundert, um mit ihrem inkorporierten Kulturkapital zu prahlen; manche fechten sogar ihre Beziehungskräche auf ihren Pinnwänden aus, und eigentlich ist man ja immer ein bisschen verliebt in den einen oder anderen User, weil der so tolle Lieder postet oder so freundliche Sätze sendet. Oder man ist wenigstens in sich selbst verschossen, so gut, wie man da immer aussieht, auf den hart bearbeiteten Urlaubsfotos. Wie ich das alles verachte. Aber gelegentlich wärmt es eben doch. Bei Facebook war ich immer ganz Mensch.

Bis ein blassroter Balken mir die Sicht versperrte. Wie jeden Montagmorgen hatte ich mich pünktlich gegen 9.30 Uhr eingeloggt, als plötzlich dies auf meinem Bildschirm aufleuchtete: „Profil gesperrt“. In einer E-Mail mit dem Betreff „Identity Request“ hieß es, ich solle unverzüglich meinen Personalausweis scannen und rübermailen. Dann könnten wir weitersehen. Vielleicht. Ich hielt es für einen technisch erklärbaren bug, fluchte über übereifrige Security-Programmentwickler, über den hardcore-kapitalistischen Polizeistaat, die Volkszählung, die totale Enteignung des Selbst und folgte treu der Anweisung und sendete also meinen Pass da hin, zweimal sogar, weil beim ersten Scan ein schwarzer Krümel mit aufs Bild geraten war.

48 fade Stunden später eine neue Nachricht aus der großen Familie: „Danke, dass Du Deine Identität bestätigt hast. Nach weiterer Untersuchung der Angelegenheit haben wir festgestellt, dass Dein Konto fälschlicherweise gesperrt wurde. Wir bedauern die Unannehmlichkeiten sehr! Danke, Louisa, User Operations“. Ich stellte mir Louisa als jeanshosentragende Mittdreißigerin mit etwas übertriebenen Grübchen vor und nahm an, sie säße als unterbezahlte Leiharbeitskraft in einem zugigen Gewerbegebiet in einem Containerbüro, da, wo sonst immer die Call-Center-Leute sitzen und heimlich Baudelaire lesen, wenn sie gerade einmal für drei Minuten die Leitung frei haben. Louisa war in Ordnung, fand ich, und mein Profil wieder freigeschaltet. „Schön, dass Du wieder da bist“, schrieben ein paar Freunde, heimlich atmete ich auf, und alles lief erst einmal weiter wie vorher.

Bis ich dann, zwei Wochen später, aufs Neue rausflog. Diesmal unter dem Betreff „Fake Name“. Jetzt hieß es: „Dein Konto wurde gesperrt, weil es unter einem falschen Namen registriert war. Wir gestatten es den Nutzern nicht, sich mit falschen Namen zu registrieren, andere Personen oder Dinge nachzuahmen oder sich selbst falsch darzustellen.“

Bin ich Napoleon? Oder Hildegard Hamm-Brücher?

„Was, zur Hölle, ist an meiner Existenz zweifelhaft?“, schrie ich den Computer an. „,Katja Kullmann‘ heiße ich, und das seit 41 Jahren: Geht es, bitteschön, gewöhnlicher?“ Außerdem hatten die ja gerade erst meine Papiere inspiziert. Sofort googelte ich, nur zur Sicherheit, mich selbst und fand mich bestätigt: Natürlich gibt es „Katja Kullmann“, das ganze verdammte Internet ist voll mit dieser Frau! Und sie hat halblange dunkle Haare, genau wie ich! Andererseits … Es soll Leute geben, die denken, sie seien Napoleon oder Hildegard Hamm-Brücher. Und der Schriftsteller Wolfgang Welt, der wirklich so heißt, hielt sich mal eine Zeitlang für J. R. Ewing und randalierte in einem Tchibo-Laden.

Für zwei, drei Tage schwankte ich zwischen Abscheu, Wut und Resignation. Unterdessen entdeckten einige Freunde ein neues, öffentliches Facebook-Profil mit meinem Namen und schickten mir den Link. Es war kalt, leer, unbespielt. Kein Foto, kein einziger Freund bei der neuen „Katja Kullmann“, der Identity-Hijackerin. Und mir schien, dass es hier ums Prinzip gehen könnte, sozusagen ums Überleben, auch um einen Restbestand meiner Verbraucher- und Staatsbürgerinnenrechte, ganz abgesehen von meiner Ehre. Also beschloss ich zu handeln.

Als Erstes meldete ich mich aus Trotz bei Google+ an. Aber nur, um schnell zu merken, dass es dasselbe ist wie Facebook, bloß ohne Menschen. Bei Google+ ist niemand außer Sascha Lobo. Es ist wirklich schrecklich einsam dort.

Dann nutzte ich Google, um nach Facebook zu suchen, nach Louisa, einer Telefonnummer, nach irgendeinem Weg, vernünftig ins Gespräch zu kommen, von Mensch zu Maschine. Und tatsächlich: Seit Anfang dieses Jahres gibt es ein Facebook-Büro in Deutschland. Es befindet sich in Hamburg, fand ich mühsam heraus, und Hamburg ist zufällig mein ordnungsgemäß gemeldeter Wohnort. Nur wo genau? Drei verschiedene Postadressen fand ich im Netz. „Alles, was wir verzeichnet haben, ist eine Nummer in Amerika“, erklärte die Telefonauskunft. Schließlich fiel mir das Amtsgericht ein, das Handelsregister. Dort war, ganz frisch, erst seit Juni, wiederum eine ganz andere Adresse angegeben. Ein investigativer Schauer lief mir über den Rücken. Und ich nahm mir vor, am nächsten Tag persönlich bei meiner Identitätsverwaltung vorzusprechen.

Am nächsten Tag stehe ich vor einem schmalen, schmucklosen Business-Portal. Eine fest verschlossene Glastür. Kein Namens- oder Firmenschild, kein Klingelknopf. Nur eine kleine Tastatur, in die man einen Code eingeben muss. Während ich überlege, ob ich es mit meinem Facebook-Passwort versuchen soll, rumpelt ein Handwerker mit einem Wägelchen heran und öffnet die Tür. Ich drängele mich hinterher und frage: „Entschuldigung, sitzt hier im Haus die Firma Facebook?“ Ja, im zweiten Stock, soweit er wisse.

Ich schleiche nach oben. Nach etwa vierzig Stufen leuchtet es mir von der Wand entgegen: das blauweiße Logo. Daneben wieder eine Glastür, wieder verschlossen. Ich sehe den Ausschnitt eines gewöhnlichen Büroflurs, kahle weiße Wände, keine Tischtennisplatte, kein Flipper, nichts. Ich winke, falls irgendwo eine Kamera installiert ist, aber sie sehen mich nicht. Dann entdecke ich den Klingelknopf, Weiß auf Weiß, und drücke drauf.

Eine blonde Frau, höchstens 23, eilt über den Flur und öffnet strahlend die Tür. „Louisa“, denke ich, „du bist aber hübsch.“ „Ja bitte?“, fragt sie. „Guten Tag, ich bin bei Facebook. Also als Mitglied. Und nun haben Sie mich schon wieder rausgeworfen. Weil ich angeblich ein Fake bin. Aber es gibt mich wirklich, und ich bin hier, um das zu beweisen.“ Louisas freundlicher Blick zerfließt binnen Sekunden zu etwas anderem. Ich rede weiter und sehe genau, was sie gerade sieht: Eine ältere Frau, die mit den Nutzungsbestimmungen nicht klarkommt. Eine bekloppte Userin, die nervt. „Ich habe vier Ausweise dabei“, sage ich, „Personal, Presse, Führerschein und Rückenschule, und ich wüsste gern, was hier los ist.“ Sie lächelt falsch, aber milde und sagt, während sie die Tür wieder zuschiebt: „Moment, ich hole jemanden.“

Der Große Bruder ist eine Große Schwester

Eine halbe Minute später jagt eine zweite Frau auf die Glastür zu. Sie ist etwa in meinem Alter, trägt einen Kurzhaarschnitt und eine blauweiß gestreifte Bluse. Zackig reißt sie die Tür auf. „Ich bin die Sprecherin Deutschland, worum geht es?“ Ich begreife: Die Große Schwester steht vor mir, und sie hat wenig Zeit. „Ich will nicht stören, ich heiße Katja Kullmann und möchte gern wieder mitmachen. Da ist jemand, der meinen Namen geklaut hat, und ich frage mich …“ Sie schnaubt verächtlich, versucht aber, freundlich-verbindlich dabei auszusehen. „Ja und? Mein Bruder heißt Stefan Müller, was glauben Sie, wie viele Namensdoppelgänger der hat?“ Mit einem Schnell-Scanner-Blick fliegt sie über meine mickrige Statur, von unten nach oben. „Journalistin sind Sie?“ Ich nicke. Sie wedelt mit einer Visitenkarte. „Wir werden Ihr Anliegen prüfen, hier mein Kontakt.“ Ich nehme die Karte, und sie wedelt mit der leeren Hand weiter. „Tut mir leid, ich kann jetzt nicht.“ Sie schließt die Tür. Und ich trolle mich nach Hause.

Vier Stunden später schreibt die Große Schwester mir eine E-Mail. Die Prüfung meiner Identität werde schnellstmöglich erfolgen, sie werde persönlich dafür sorgen, dass ich keine Probleme mehr bekäme. Und dass eindeutig „ein Dritter“ mein Profil mehrfach als gefälscht gemeldet habe. Ich schreibe ihr zurück. Bedanke mich für die Bemühungen. Sage ihr, dass ich vielleicht einen Artikel über das kleine Abenteuer verfassen wolle und stelle ihr fünf Fragen. Wie man sich gegen Identitätsdiebstahl schützen könne, zum Beispiel. Warum es keine Hotline gebe. Und ob sie mir verrate, wer da mein digitales Selbst an sich reißen will. „Wenn nicht den Namen, vielleicht das Geschlecht oder den Ort?“

Doch die Große Schwester ist verstummt. Tags drauf meldet sich eine PR-Agentur, „im Auftrag von Facebook“. Die PR-Agentur hat ein paar belanglose Standardsätze aus den Facebook-AGB in die E-Mail kopiert, teils auf Englisch. Jenes Material dürfe ich jederzeit zitieren, aber bitte ohne die PR-Agentur zu erwähnen. „Gerne können Sie die Aussagen allgemein einem Facebook-Sprecher zuordnen.“

Noch am selben Tag wird mein Profil wieder freigeschaltet. Die Hijackerin ist gelöscht. Ich überlege, was ich jetzt in meine Statuszeile schreiben könnte, und entscheide mich für das Wort „Verbrecherverein!“. Ich sehe fünf ungelesene E-Mails. Nehme zwei neue Freunde auf. Poste ein Video, was sonst. Und tue vor mir selber so, als freute ich mich kein bisschen, dass ich wieder da bin.