Lenin und Demel
Der Bolschewismus steht vor den Toren Wiens, Bela Kun hat sein Banner entfaltet; zwischen Oper und Grand Hotel stellen Bettler im Soldatenrock ihre Prothesen der Aprilsonne in die Auslage; ein Lahmer und ein Blinder ziehen im Märchenschritt miteinander und lassen den hellen Wehruf durch die Straßen schallen: „Zwa arme Invaliden …“
Noch hängen an der Stadt die Fetzen des Ersatzmitteldaseins. Und die Feudalen? Harrach und Hardegg und Kinsky und Trautmannsdorff?
Wenn sie Sägespäne zu essen bekämen - sie flüchteten lieber auf ihre geliebte Schutzinsel am Kohlmarkt, genannt Konditorei Demel, als in ein volkstümliches Arkadien der Völlerei. Aber sie bekommen Eiscreme und Schaumtorteletts und Waffeln. Höchst dekorative Leckerbissen, parfümierte Einhaltungen der Ernährungsvorschrift.
Die Servierdamen sind noch immer freundlich, ehrbar und würdig wie Schwestern eines adeligen Damenstifts. Sie verbinden die Allüre der Burgtheater-Großmutter Wilbrandt-Baudius mit der stillhuschenden Devotion einer Logenschließerin. In ihren Gesichtern steht die Bekümmernis über die neue Zeit, die mit Prinzen, Baronen, Lebemännern und alleinstehenden Damen aufzuräumen droht.
Was ist die Welt ohne die Annehmlichkeiten des Dienens und Dankens, ohne die beglückende Folie der Nobligkeit, ohne das Jovialitätstrinkgeld aus gräflichem Munde? Die Demel-Fräulein gehören enger und inniger zur Hautevolee als der Xandi Kinsky,der Dolfi Starhemberg und der Tatschkerl Auersperg. Sie tragen auf ihren schwarzen Blusen unsichtbare Erinnerungsmedaillons an Altösterreich.
Das geliebte, unvergeßliche Land findet hier die letzte kulinarische Ruhestatt. Wenn alles wankt - die Schwester Thesa bleibt beständig. Ihr Handkuß ist die spontanste und legalste Anerkennung des alten Regimes.
Bei Demel klingt ein ausgestorbener Dialekt auf: das „Knautschen“; jene turfbekannte Art, Lauten, die sich aus Gaumen und Nase quetschen, resigniert ihren Weg zu lassen, ohne Sorge darum, ob sie sich zu einem Satzbild fügen oder nicht. Unangestrengtheit ist bekanntlich das erste Adelsmerkmal; der Fürst betont und artikuliert nicht, man könnte sonst glauben, er wolle etwas haben, und sei‘s auch nur: Recht. Österreichs Aristokraten haben sich deshalb eine eigne Sprache zugelegt: das Negligé im Tonfall; die Zunge legt sich da faul zurück wie in einen Klubfauteuil, die Vokale enthalten eine kleine Parfum-Injektion Langeweile aus verengter Nasenhöhle, die „r“ werden von der Gaumenplatte aufgepickt wie Krumen einer delikaten Torte, die Lippen öffnen sich zu nicht mehr Atem, als man dem öffentlichen Besitz unbedingt entnehmen muß - und dieser tönende Mundvorrat wird schluckweise konsumiert, zerbröckelt in einer Sauce von Gelächel.
Das war die Sprache der oberen Hundert, welche sich in den Rentengenuß aus der GmbH „Österreich“ teilten; es ist die Demel-Prosa.
Der Graf trägt noch immer sein Monokel und ißt die „Scheideln“ gedankenlos in sich hinein, als ob er an Weintrauben zupfe. Fragt: „Waren die Bojschewiken schon da?“ (Klingt wie „Chaudeau“.)
Der Schwesternchor: „Hihihi.“
„Nein, Herr Graf.“
„Das hat noch Zeit, Herr Graf.“
„Wir könnens noch derwarten, Herr Graf.“
„Hihihihi.“
„Ich hab mich schon gefürcht. Ich bin so furchtsam, weißt. Geh - eine Eiscreme, Thesa. Servus Pauckerl - wie gehts denn der Tant Klotüd?“
„Sie war bei der Hansi Palffy.“
„Hots auch schon Angst vorn Bojschewismus?“
„Kannst dir denken. Der Alexander hot xogt, sie traut sie nimmer raus - wegn en Bojschewismus, sogt er.“
„Ja, mir ham halt alle so eine Angst, was?“
„Hihi.“
Das Gespenst von Demel 1919: zwischen je einer Portion Eiscreme und Gotha sitzt der Lenin. Sie bannen ihn mit Witz und Spott. Aber über ihren Rücken läuft eine Gänsehaut. Sie singen im dunklen Wald der Zeit vor sich hin … Und antworten dem Tod, der sie an der Schulter zupft: „Brüderl komm!“ ein bißchen verlegen mit „Degoutant!“