Männersache
Die Gesichter der Männer sind angespannt, freudig verzerrt, begeistert. Fast so, als wären sie wieder kleine Jungs, die man in die Spielwarenabteilung eines Kaufhauses führt und denen man sagt: „Das ist alles für dich! Es gehört dir! Greif zu!“ Ungläubiges Staunen. Das gibt’s doch gar nicht. Doch, das gibt es.
Auf der tanzflächenartigen Bühne räkelt sich eine Frau. Sie ist nackt und spreizt die Beine. Die Männer grölen, lachen und hauen sich gegenseitig auf die Schulter. Es herrscht echte Begeisterung, die Stühle werden noch ein wenig näher an die Tanzfläche gerückt, worauf dann freundliche, breitschultrige Angestellte kommen, die darauf hinweisen, dass man doch bitte ein wenig Platz zwischen Bühne und Sitzreihe lassen solle. Danach bedankt sich eine tschechische Stimme bei der Tänzerin, die schnell ihre Sachen zusammensucht, um dem nächsten Mädchen auf der Bühne Platz zu machen. Ich bin bei einem Junggesellenabschied, und schon den ganzen Tag lief es genau darauf hinaus: Wir gehen in den Puff! Eigentlich hat unsere Fahrt nach Prag gar keinen anderen Sinn gehabt, als in diesem Club zu landen, der sich großspurig als „Cabaret“ bezeichnet.
Samstagmorgen, acht Uhr, Hamburg Hauptbahnhof. Die Reisegruppe ist trotz der frühen Stunde richtig gut drauf. Junge Männer aus gehobenen Kreisen, in legerer Freizeitkleidung mit guter Ausbildung. Hemd von Ralph Lauren, Slipper von Gucci, edle Uhren, eine gesunde Gesichtsfarbe. Der Bräutigam blickt nervös in die Runde und behauptet die ganze Zeit, dass er Angst habe, was seine Jungs mit ihm vorhätten. Unter lautem Gejohle steigen wir in den Zug der ungarischen Staatsbahn. Es ist die letzte „Ausfahrt in Freiheit“, das letzte Mal „so richtig auf die Kacke hauen“, „durchdrehen“, „steil gehen“, wie immer man das bezeichnet. Gerade so, als ob der hochzeitswillige Junggeselle nach seiner Heirat sterben muss oder man in der Ehe keinen Spaß mehr hätte.
Kaum haben wir unsere Sitzplätze eingenommen, das erste Bier ist verteilt, wird der Bräutigam darauf hingewiesen, dass die Frauen, die für heute Abend bestellt worden seien, wirklich überaus hässlich wären. So richtig behaart und naturbelassen, schließlich gehe es nach Budapest und von dort aus weiter in die Karpaten, man wisse ja, was die dort für Weiber hätten. Das zweite Bier wird fällig, und der Bräutigam muss sich umziehen. Das ist so üblich und gehört dazu. Wir brauchen einen Festochsen, den wir vor uns her treiben können und der uns als willige Junggesellenabschiedspartycrowd kennzeichnet.
Unser Junggeselle muss eine mit einem Frauenkörper bemalte Schürze mit aufgeklebten dicken Schaumstofftitten tragen, eine Hose mit Herzen und eine Bierbrille. Weiter vorn im Zug sitzt eine andere Gruppe, ebenfalls eine Junggesellenabschiedsfahrt, die ihren Bräutigam als Hofnarr verkleidet hat. Das ist auch lustig, und über alle Bildungsgrenzen hinweg wird Brüderschaft getrunken, denn die dort vorn sind ja eigentlich gar nicht wie wir. Kraftsportler, die in Berlin zugestiegen sind, wahrscheinlich aus dem Osten, wie man sieht. Handfeste Typen mit „Eisbären Berlin“-Aufnähern, während man selbst ja schon etwas auf seine hanseatische Herkunft hält. Trotz allem super Typen. Prost. Neues Bier. Zwischendurch noch ein kleiner „Feigling“ und eine Stulle als Grundlage. Man muss ja noch lang durchhalten.
Das Wasser, das unser Junggeselle trinken will, wird ihm aus der Hand geschlagen. Heute nur Alkohol, und jetzt aber bitte mal Action. Er soll die Herzen, die auf seine Hose gemalt wurden, einzeln ausschneiden und verkaufen und zusätzlich eine Packung Enthaarungspflaster an den Mann oder die Frau bringen. Vorzugsweise natürlich so, dass die Kunden Spaß daran finden, ihm selbst die Enthaarungspflaster auf alle möglichen und unmöglichen Körperstellen zu kleben und sie ihm von dort wieder abzureißen.
Da die Jungs mit dem Hofnarr keine eigenen Spiele vorbereitet haben, hat unser Mann Glück. Die Enthaarungspflaster werden ihm von den Kraftsportlern abgekauft, und dem Clown wird der Hintern enthaart. Das tut weh, sieht scheiße aus, ist wahnsinnig laut, und alle lachen sich kaputt. Wo ist eigentlich das Bier?
In Prag muss es dann schnell gehen, wir haben ja immer noch die Legende aufrechterhalten, dass wir noch viel weiter in den Osten fahren, und so werden erst im allerletzten Moment die Koffer gepackt. Die Jungs mit dem Hofnarr steigen auch aus. Was, ihr auch? Ist ja geil. Komm, lass Gruppenfoto machen, wir sitzen doch alle im gleichen Boot. Gröl. Die Deutschen sind da. Man kann es nicht überhören.
Die umstehenden Tschechen lächeln nachsichtig. Offensichtlich ist man derlei gewohnt, wahrscheinlich kommen Wochenende für Wochenende Dutzende Junggesellengruppen aus aller Herren Länder in die Goldene Stadt und suchen Spaß zu vermeintlich günstigen Preisen. Die Tschechen haben sich darauf eingestellt. Dämpfer Nummer eins erfolgt gleich am Bahnhof, auch wenn wir die Folgen erst viel später zu spüren bekommen. Die Wechselstube tauscht Kronen gegen Euro, aber zu abenteuerlichen Kursen, die wir in unseren betrunkenen Köpfen nicht mehr richtig umrechnen können. Trotz BWL-Studiums und guter Erziehung. Außerdem haben wir den Hinweis, dass auch neunzehn Prozent Provision auf die Transaktion erhoben werden leider überlesen. Zunächst ist das kein Problem. Wir haben erst einmal Geld für die U-Bahn. Was ist eigentlich mit Bier? Pivo muss her!
In der Prager Altstadt sieht es aus wie in Zürich oder in Mailand oder in irgendeiner anderen reichen mitteleuropäischen Stadt, mit allem, was reiche mitteleuropäische Städte so zu bieten haben. Dolce & Gabana, Hugo Boss, Cartier, Yves Saint Laurent, Aigner. Mann, hat sich das alles verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Wir residieren in einem hässlichen Neubauhotel, das sich in der ansonsten wunderschön restaurierten Innenstadt befindet oder in der Außenstadt, es liegt ja schon fast am Flussufer. Wie der Fluss eigentlich heißt? Kein Plan. Lass mal noch was trinken. Bis später, Freunde. Halb sieben zum Essen fassen. Alles klar.
Die Zeit bis zum Abendessen verbringt der Bräutigam damit, rohen Knoblauch zu essen und fremde Menschen zu küssen, während ein Teil der Reisegruppe die Gelegenheit für einen kleinen Stadtbummel nutzt oder den hoteleigenen Pool testet.
Pünktlich halb sieben treffen wir uns vor dem Hotel und obwohl wir nicht offiziell als Gruppe eingekleidet sind, sehen wir alle gleich aus. Lockeres, hellblau gestreiftes Freizeithemd, die oberen Knöpfe geöffnet, leichte Freizeitschuhe, Jeans, fertig. So oder so ähnlich sind unsere Väter schon Segeln gegangen, und nichts hat sich verändert, nichts wird sich jemals ändern. Nur der Bräutigam sieht etwas derangiert aus, in seiner zerschnittenen Herzhose und der Schürze. Die Hose darf er jetzt noch schnell wechseln, wir wollen ja später noch in den Club - Zwinker, Zwinker.
Das Abendessen wurde im berühmten Prager Bierkeller „U Vejvodu“ reserviert, in dem schon der brave Soldat Schwejk gezecht haben soll und besteht aus drei unglaublich großen Schlachteplatten, die mit ganzen Schweinehälften, Würsten, Entenbrüsten, Truthahnkeulen, Knödeln, Weiß- und Rotkraut dekoriert, nein überhäuft sind. Nicht schaffbar, vor allem nicht für den Bräutigam, dem es jetzt richtig schlechtgeht, denn natürlich wird zum Essen Bier getrunken, viel Bier, denn das Bier ist billig hier. Ungefähr ein Euro zwanzig, also lass noch mal vierzehn nehmen und für jeden einen Schnaps, bitte schön. Doch so günstig das Bier ist, so teuer sind die Schlachteplatten - 120 Euro das Stück. Plötzlich haben wir ein Problem. Als wir nach zwei Stunden vergeblicher Schlacht gegen das Essen das Restaurant wieder verlassen, müssen wir Krisenrat halten. Das Geld ist alle.
Zu Beginn der Fahrt musste jeder hundert Euro in die Kampfkasse werfen, davon sollte Spiel, Spaß, Spannung und das Essen bezahlt werden. Jetzt hat es gerade mal für das Essen gereicht. Bedröppelt lassen wir die Köpfe hängen, und verzweifelt wird nachgerechnet, wo der Fehler liegen könnte. Nein, verarscht hat man uns nicht, zumindest nicht im Restaurant. Da hätte man nur besser auf den Preis achten sollen, zumal wir das Zeug ja nicht mal aufgegessen haben, aber am Bahnhof, in der Wechselstube, die haben uns verarscht, schöne Scheiße. Was machen wir jetzt? Rettungsschirme werden aufgespannt, es wird nachgerechnet, schließlich heißt es, wir sollen jeder noch einmal fünfzig Euro in die Kasse werfen, besser achtzig, schließlich geht es jetzt erst richtig los, und mit fünfzig Euro kommen wir nicht weit, da, wo wir jetzt hinfahren.
Zwei extra lange Stretchlimousinen holen uns ab, die auf der ganzen Front mit der Werbung des Etablissements beklebt sind. „Darling Cabaret - the only thing you risk is falling in love“, ist zu lesen. Anscheinend fahren die Autos die ganze Nacht durch Prag, um Kunden einzusammeln und in dieses unglaubliche Ambiente und den frivolen Charme der zwanziger und dreißiger Jahre zu chauffieren. So ähnlich steht es auf dem Flugblatt, das ich später in der Hand halten werde und auf dem zu lesen ist, dass sich das „Darling Cabaret“ mit seinem stilvollen, hochwertigen Programm dem Amüsement längst vergangener Tage verpflichtet fühlt.
Als wir vor dem Club aussteigen, werden wir von ein paar Kubanern bedrängt, die auf der anderen Straßenseite stehen und darauf aufmerksam machen, dass es in ihrem Schuppen viel günstiger und viel besser sei. Doch eine resolute junge Dame, deren Blick verrät, dass sie absolut keinen Spaß versteht, nimmt uns mit einem kühlen „Hello guys“ in Empfang und dirigiert uns forsch in Richtung Eingang. Österreichische Anzugträger hinter uns, bullige Türsteher vor uns, die Frau an der Kasse ist genervt, alles ist kühl und sachlich, es muss schnell gehen, die nächste Gruppe wartet schon. Dann sind wir drin.
Im riesigen Ballsaal ist es heiß, und obwohl es noch relativ früh ist, läuft der Laden auf Hochtouren. Gruppen junger Männer sitzen an den Tischen, die um eine bühnenartige Tanzfläche gruppiert sind. Oben auf der Balustrade ist auch jede Menge los. Leichtgekleidete Mädchen stehen einzeln oder in Zweiergruppen zwanglos im Weg herum oder sitzen auf weichen Polstermöbeln und liefern so die Illusion, es handle sich hier um einen ganz normalen Club mit ganz normalen Besucherinnen. Das Wissen aber, dass hier jede Frau käuflich ist, dass man sie alle haben könnte, dass hier alles erlaubt ist, solange das Portemonnaie voll ist, führt zu einer ganz eigenartigen Atmosphäre.
Unsere Gruppe teilt sich in diesem Moment in zwei Lager. Die eine Hälfte kann damit gar nichts anfangen, die andere Hälfte gerät in eine fieberhafte Ekstase. Man erkennt sofort, wer das schon einmal gemacht hat. Zum großen Bedauern der Willigen gibt es in unserer Gruppe zu viele Bremser, und auch der georderte Alkohol kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in unserer Ecke etwas verhalten zugeht. Allerdings trägt die Geldfrage auch nicht gerade zur Entspannung bei.
Einer handkopierten, ausgelegten Preisliste ist zu entnehmen, welche Arten von Unterhaltung, neben der üblichen Bühnenshow noch angeboten werden. Da gibt es den „Table Dance“ für 999 Kronen. Den „Extra Tabel Dance“ mit Anfassen („detailed parts of girls body with autoerotic touches“) für 1499 Kronen, die „Lesbi Show“, die „Extra Lesbi Show - on the table“, die „Private Lesbi Show“ mit maximal zehn Personen für 5000 Kronen und die diversen „Autoerotic Shows“, mit dem absoluten Highlight: 75 Minuten für 6900 Kronen. Scheiße. Irgendwie hatten wir uns Prag billiger vorgestellt.
Bei alldem scheinbaren Vergnügen und der Verzückung läuft bei uns im Hintergrund eine unsichtbare Geldzählmaschine mit. Was können wir uns eigentlich leisten? Trinken wollen wir ja auch noch was. Mann, Mann wir haben einfach zu wenig Geld. Anders am Nebentisch. Dort lassen es die Herren ordentlich krachen. Lapdance jagt Lapdance, und diverse junge Frauen küssen, streicheln und befingern sich unter den gierigen Augen der Umsitzenden, während wir bislang nur das Bühnenprogramm genießen, das aus der immergleichen Stripshow besteht.
Irgendwie ist es wie beim Beatboxen. Zuerst denkt man sich, krass, was die alles mit dem Mund machen können, doch nach zehn Minuten ist die Luft raus, und es wird langweilig. Girl geht auf die Bühne, tanzt an der Stange, zieht sich aus, spreizt die Beine, zeigt was. Fertig. Vor dem Tanz wird die Stange noch mit einem feuchten Wischtuch gereinigt, und als eine etwas ältere Reinigungskraft auftaucht, um zwischen zwei Darbietungen den Boden mit einem Chlorgemisch zu reinigen, bekommt die Illusion Risse.
Ich entdecke ein Mädchen, das, an eine Wand gelehnt, herzhaft gähnt, bevor sie sich einen Ruck gibt und den nächsten Kunden anspricht. Das hier ist Arbeit. Daran gibt es keinen Zweifel. Die zweite Flasche Wodka ist fällig. Hier muss auf jeden Fall noch was passieren, der scheidende Junggeselle muss doch was erleben, oder? Die Preisliste wird studiert. Unsere Wahl fällt auf die „Extra Lesbi Show on the table“ für 2999 Kronen. Das müsste noch drin sein, es geht ja um den Bräutigam.
Der Bräutigam selbst ist allerdings mittlerweile vollkommen betrunken und bekommt gar nicht mehr mit, was seine Freunde da für ihn bestellen. Egal, man will jetzt mithalten mit all den anderen Gruppen um uns herum. Das ganze Vergnügen ist auf Wachstum und Steigerung ausgelegt. Das ist die marktwirtschaftliche Rache des Ostblocks, die mit einem „free ride“ in der Stretchlimousine lockt und mit Sex für knapp 250 Euro endet. Also wird die „Lesbi Show“ geordert, Hände werden ausgestreckt, Gesichter in irgendwelchen Brüsten vergraben, Hälse verrenken sich. Endlich wir sind dabei.
Nach den zehn Minuten, welche die Show dauert, entsteht zum ersten Mal so etwas wie eine Beziehung zwischen uns und dem Personal.
Sie: „Hello, where you from?“
Wir: „What about sex?“
„3000 Kronen.“
„Wow.“
„I drink Tequila.“
„No Tequila I can’t stay.“
Die Verachtung auf beiden Seiten ist enorm.
Wir sind alle vollkommen blau, und mein Blick fällt auf den Bräutigam, der tatsächlich handlungsunfähig ist. Morgen wird er sagen, dass er sich an nichts erinnert, und wahrscheinlich stimmt es sogar. Dem Gruppenzwang hätte er sich nicht entziehen können, so wählte er die Flucht ins alkoholische Vergessen.
Es ist spät, mir ist heiß, ich muss mal raus an die frische Luft. Allgemeine Aufbruchstimmung. Außerdem ist unser Geld alle. Auf der Straße vor dem Club treffe ich eine Dame mittleren Alters, die mir die Werbebroschüre für einen Saunaclub in die Hand drückt. In einiger Entfernung stehen drei Bereitschaftspolizisten in voller Kampfmontur. Sie schließen die Straße um Mitternacht, damit keiner betrunken Auto fährt, während just in diesem Moment wieder eine „Darling“-Stretchlimousine durch die gesperrte Straße holpert und vor dem „Cabaret“ hält. Aus dem Auto steigen drei Halbwüchsige, die sich mit starren und betont unauffälligen Gesichtern nicht entscheiden können, zwischen den Clubs und vom Chauffeur nachdrücklich auf den rechten Weg gebracht werden müssen. Von drüben schreien die Kubaner, die Werbeagentin wendet sich neuen, lohnenswerteren Zielen zu. Ich schaue nach oben zu den zahlreich erleuchteten Fenstern über denen der „Darling“-Schriftzug prangt. „These are the rooms where the magic happens“, denke ich und warte immer noch auf meine Cliquenmitglieder, die sich offenbar noch nicht loseisen können.
Eine junge Frau in unauffälliger Kleidung mit einer Sporttasche über der Schulter geht an mir vorbei. Im Stechschritt steuert sie auf ein geparktes Auto zu, öffnet den Kofferraum, verstaut ihre Tasche, setzt sich hinters Steuer und fährt los. Ich kenne sie. Vor zwei Stunden stand sie in schummrigem Licht an einer Stange, und deshalb kenne ich ihr Gesicht und noch ein paar andere Sachen von ihr.
Noch nie in meinem Leben hatte ich mehr Sehnsucht nach echter Nähe, echter Zärtlichkeit und echter Leidenschaft.