Meine falschen Fünfziger

Reportage
zuerst erschienen im Januar 1962 in TWEN
Meine Erfahrungen mit Männern über fünfzig

Sie waren mir schon immer verdächtig gewesen, die sogenannten „Kavaliere der alten Schule“. Freilich, meine Mutter hielt große Stücke auf diese Vertreter. Einen Aspekt des „Kavaliertums alter Schule“ lernte ich kennen – wenn auch nur aus zweiter Hand –, als meine Freundinnen in das Alter kamen, in dem es sich lohnt, private Probleme zu diskutieren. „Ein Kavalier alter Schule“, schwärmte da eine, „das ist ein Mann, von dem man was hat. Da weiß man, woran man ist. Da wird man als Frau akzeptiert, als Mädchen umworben, als Dame geehrt. Ein Mann ist erst ein Mann ab fünfzig!“

Ich hatte gute Lust, einen Mann, einen wirklichen Mann, kennenzulernen. Auch ich wünschte mir, als Mädchen verwöhnt, als Frau geachtet und als Dame angebetet zu werden. Was hat man davon, wenn man sich mit diesen jungen Männern von heute einläßt, die nichts anderes im Sinn haben, als eben nur das eine … Mein Entschluß: Wenn ein Mädchen schon einen Mann kennen muß – dann nur einen Kavalier alter Schule.

I

Und da traf ich Arthur Kolbe wieder. Er erkannte mich zunächst nicht mehr. In seinem System existierte ich nur als kleines Mädchen auf Rollschuhen. Wir hatten einmal in der gleichen Stadt gewohnt. Meine Eltern waren mit ihm befreundet. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Arthur Kolbe war Junggeselle. Für mich war er so eine Art Onkel. Man konnte sich bei ihm Bücher ausleihen und ihm Ostern das Zeugnis zeigen. Er belohnte jede Eins mit einer Mark. Später zog meine Familie in eine andere Stadt. Von Arthur Kolbe hörte ich zehn Jahre lang nichts mehr. Bis neulich. Da gab mein Verleger einen Empfang, und einer der anwesenden Herren war Arthur Kolbe. Er lud mich ein, ihn zu besuchen. Ich sagte gerne ja. Nun kannte ich also einen Kavalier alter Schule!

Arthur Kolbe ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Wer ihm das nicht ansieht – diesem kleinen untersetzten Mann mit dem immer etwas zu stramm sitzenden Jackett –, der bemerkt es spätestens in seinem Büro. Neun Schritte sind nötig, um von der Doppeltür bis zu dem schweren Schreibtisch zu gelangen.

Wenn ich Arthur Kolbe besuchte, kam er mir auf halbem Weg entgegen – viereinhalb Schritte – und schloß mich in die kurze Arme. „Kindchen“, sagte er für gewöhnlich und geleitete mich in die Sitzecke aus blauem Plüsch, „schön, daß Sie sich wieder einmal sehen lassen!“ Worauf er mich liebevoll besorgt durch die Brille fixierte und die Flasche Napoleon holte.

Natürlich schmeichelte es mir auch, daß Herr Kolbe seine karg bemessene Zeit selbstlos für mich opferte. Dabei ließ er sich weder von der Sekretärin noch von den Telefonen stören. Kein Zweifel: ich hatte wirklich einen der so viel gepriesenen, aber leider so seltenen väterlichen Freunde gewonnen. Daß er mir beim Abschied regelmäßig einen kleinen Kuß auf die Wange klebte, war nicht sehr angenehm. Aber ich hatte das Gefühl, er habe ein Recht darauf.

Aber dann - eines Nachmittags … Ich hätte schon beim Betreten des Büros stutzig werden sollen, als der bedeutungsvolle Blick der Sekretärin mich traf. Als ich in Arthur Kolbes Zimmer trat, schloß sie leise die beiden Türen hinter mir. Ich ging auf den Schreibtisch zu. Neun Schritte: Arthur Kolbe kam mir nicht entgegen. Er hockte hinter dem Schreibtisch. „Setzen Sie sich“, sagte er und deutete auf den Besucherstuhl. Dann nahm er die Brille ab, rutschte noch tiefer in den Sessel und musterte mich mit gespitztem Mund.

Er hat Ärger gehabt, dachte ich und lächelte ihm aufmunternd zu. Er grunzte. Es klang – wie merkwürdig, dachte ich – etwas bösartig. Dann sprang er plötzlich auf, kam um den Tisch herum und legte seine Backe an mein Gesicht. „Herr Kolbe“, wollte ich sagen …

„Nun bleib doch schon, Mädchen“, knurrte er. „Ich könnte doch dein Vater sein …“

Das hatte ich auch immer gedacht. Aber so wie er jetzt, so sah kein Vater aus: sein Gesicht gerötet, seine Hände fahrig auf der Stuhllehne. Seine kurzsichtigen Augen kamen immer näher. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. “Ruhig, Mädchen“, sagte er. Dann biß er mich in die Nase. Als ich die ungewohnten Wahrnehmungen meiner Nasennerven identifiziert hatte, saß ich eine Sekunde starr auf dem Stuhl. Dann lief ich davon. Neun Schritte bis zur Tür. Aber ich kam nicht hinaus. Herr Kolbe stand schon davor.

Ich stotterte. Hatte ich einen Fehler gemacht? Mit Takt und Zartgefühl soll man den väterlichen Freund in seine Schranken verweisen, hatte ich früher sagen hören. Ich überlegte schnell. Sollte ich etwa sagen: „Lieber Freund, ich hoffe, Sie sind sich bewußt, daß Sie mein kindliches Vertrauen schändlich mißbraucht haben!“ Das war traurig und lächerlich zugleich.

Arthur Kolbe fuhr sich verlegen über die Haare, legte mir die Hand dann auf die Schulter und sagte: „Verstehen Sie, das ist eben so …“ Ich blickte ihn ratlos an. Ich verstand es nämlich doch nicht. Denn daß „das eben so ist“, hatte mir niemand gesagt, der mir die „Kavaliere der alten Schule“ warm ans ahnungslose Herz gelegt hatte …

II

Vielleicht war Arthur Kolbe eben nur ein Kavalier der alten Schule, aber doch kein richtiger Gentleman. Einen richtigen Gentleman müsste man kennen. Vielleicht trifft das, was die Leute vom Kavalier alter Schule sagen, in Wirklichkeit nur auf den Gentleman zu. Und die Leute können es nur nicht richtig präzisieren.

In diesem Sommer traf ich einen Gentleman. Und dann lernte ich ihn richtig kennen. Mein Erlebnis mit André war schöner als eine Schnulze. Wenn es auch kein Happy-End gab …

Malerische Kulisse war ein Ferienort am Bodensee. Als ich zum Abendessen auf die Terrasse meines Hotels ging, nahm er am Nebentisch Platz: ein distinguierter Herr mit kühn hervorstechender Hakennase. Er trug einen taubengrauen Anzug aus Rohseide, den Schlips in der gleichen Farbe und ein Hemd in rosa Farbe mit runden Kragenecken. Nur der Schlipsknoten, der nicht smart à la Windsor gebunden war, sondern weich und dick, verriet, daß er schon zu den Fünfzigern gehörte.

Die Serviererin brachte ihm die Speisenkarte. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, schaute dann zu mir herüber, legte die Karte zur Seite und bestellte „das gleiche, wie meine bezaubernde Nachbarin“. Er sprach mit französischem Akzent und verneigte sich zu diesen Worten in meine Richtung, als müsse er meiner Menü-Auswahl ein dankbares Kompliment machen. Wirklich, jeder Zoll ein Gentleman.

Ich starrte unsicher auf mein Omelett. Die Serviererin kam mit einer Karaffe Wein zu ihm und er fragte sie, ob es auch wirklich der gleiche sei wie meiner. Er goß Wein in sein Glas, nahm es, erhob sich, trat an meinen Tisch, fragte, ob es genehm sei und setzte sich. Ich lächelte. Etwas besseres fiel mir nicht ein. Und schließlich war er ja ein Gentleman.

Er begann zu erzählen. Schließlich sprach er französisch und sagte zwischendurch sehr ernst: „Vous êtes très Mademoiselle!“ und plötzlich ohne Übergang – aber da kann ich mich irren, ich spreche nicht gut französisch – meine Hände, blickte mich bedeutungsvoll an und sagte: „Mon nom, c’est André. Je vous adore!“ Als er sich verabschiedete, sagte er: „Sonntag um elf. Zuerst ein Apéritif und dann werden wir sehr gut essen. Sie müssen sich sehr hübsch machen. Es wird ein Festtag für mich sein. Dann werden wir promenieren, nehmen einen Cocktail und dann … wir werden sehen … !“

Ich dachte mir nichts bei dem “Und dann… wir werden sehen …“Denn André war ein Gentleman. Er bewies es, indem er mir die Fingerspitzen küsste, sich noch einmal verbeugte. Das war die große Welt! Am Sonntag würde ich sie kennenlernen. Am Arme eines Gentlemans.

Ich sah Andre schon am nächsten Tag wieder. Als es dunkel war und die Lichter überall angezündet wurden, tauchte er neben mir auf der Hotelterrasse auf. Er beugte sich zu mir und fragte leise, ob ich mit ihm gehen wolle. Ich weiß nicht, warum ich seine Einladung nicht annahm. Vielleicht bildete ich mir ein, daß sie zu formlos sei und deshalb nicht zur großen Welt passe. Andrés Gesicht verriet keine Empfindung als er mir noch einmal eindringlich sagte: „Aber morgen mittag um elf …“

Als ich die Geschichte mit André später meiner Kollegin erzählte, sah die mich mitleidig an. Sie sagte: „Dein André konnte es eben nicht erwarten!“ André war kein Gentleman? Die Kollegin war brutal: „Der merkte, daß es mehr Zeit kosten würde, als er veranschlagt hatte. Eswar ihm einfach zu viel Arbeit, dich ins Bett zu bekommen. Deswegen ist er dann auch am Sonntag erst gar nicht mehr gekommen!“

Ja, das war so: an dem bewußten Sonntag hatte ich vergeblich auf André und die Bekanntschaft mit der großen Welt gewartet. Ich sah ihn nie wieder. Ich hatte viele Entschuldigungen für ihn. Er hatte sich doch immer wie ein Gentleman benommen …

Einen richtigen „Mann von Welt“ – das mußte ich zugeben – hatte ich noch nicht kennengelernt. André mag die Manieren eines Gentlemans gehabt haben, dachte ich mir immer, aber ein richtiger Mann von Welt schätzt – nach allem was ich gehört habe – „die gesellschaftliche Begegnung mit einer Dame höher ein als zweifelhafte Vergnügungen, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen müssten“. Worauf ich in Wirklichkeit immer gewartet hatte, das war ein Mann wie Gregory Binns.

III

Daß ich dann, wenn von Kavalieren der alten Schule, von Gentlemen, von Herren von Welt, die Rede gewesen war, immer die Vision eines Mannes wie Gregory Binns erblickt hatte, wußte ich in dem Augenblick, als er den Gerichtssaal betrat.

Die Verhandlung hatte schon begonnen. Die Anklageschrift war bereits verlesen worden. Es handelte sich – ich bitte um Verzeihung – um einen Sittenskandal. Der Staatsanwalt hatte die Sache mit dem „Ballet rose“ in Paris verglichen, und mit dem Laster von Hongkong und Schanghai. Mitten in die beklemmende Stille hinein, die nach dieser Anklage im Gerichtssaal herrschte, kam Mr. Binns.

Er kam zur Tür herein, richtete seinen Schritt auf die Pressebänke und setzte sich hinter mich. Dabei fiel ihm der Regenschirm aus der Hand. Ärgerlich runzelte der Richter die Stirn. Für einen Augenblick blickte alles auf Mr. Binns. Der aber saß mit der Gelassenheit des Weltmannes auf seinem Stuhl, als ob ihn das alles nichts anginge.

In der Verhandlungspause tippte er mir auf die Schulter und fragte : „Do you speak English?“ In seinem Lächeln lag der gewisse gewinnende Charme, durch den jede Sache mit unaufdringlicher Leichtigkeit einen Anfang nimmt. Wenigstens bei mir.

Er mußte etwa 55 Jahre alt sein. Er war groß und mehr weiß- als graumeliert, hatte Apfelbäckchen und blaue Augen . Seine weißen Augenbrauen glichen kleinen struppigen Bürsten. Wenn man ihn sah, wie er saß, wie er aufstand, wie er sich bewegte, wie er sprach, dann fielen einem sofort Worte wie „Eton“, „Westminster“ , „Number 10, Downing Street“ oder „Ascot“ ein. Mr. Binns lebte in Deutschland als Korrespondent seiner englischen Zeitung. Er war gekommen, um zu untersuchen, ob unser Sittenskandal von internationaler Bedeutung sei. Aber das erzählte er mir erst beim Essen. Als der Richter die Verhandlung über Mittag unterbrach, hatte Mr. Binns so einfach wie höflich gefragt, ob wir denn nun jetzt essen gehen würden. Ich konnte weder ja noch nein sagen. Ich ging mit. Herren mit dem Flair eines Mr. Binns verbreiten so viel Ehrfurcht und Andacht um sich, daß Widerspruch sich nicht formieren kann.

Unser Tischgespräch verweilte nur kurz bei dem Thema des Prozesses. „Sittenskandal?“ wunderte sich Mr. Binns, „heavens, ist das langweilig. Und so etwas nennt man in Deutschland Orgien? Dann waren Sie noch nie in Tanger oder Tokio.“ Und gemessen setzte er hinzu: “Gott gebe, daß Ihnen so etwas erspart bleibt!“ Ich errötete, und er fand, das stände mir gut. “Sie sind ja noch so jung, mein Kind!“ Beim Dessert analysierte er an Hand von wahren Begebenheiten den Sittenverfall unter den englischen Butlern, und danach war kein Zweifel mehr möglich: Mr. Binns war ein Mann von Welt.

Solange der Prozeß dauerte, sah ich Gregory Binns täglich. Inzwischen hatte er mir gestattet: “Nennen Sie mich Gregory.“ Das war sicher nicht unüblich. Aber wenn ich die weißen buschigen Augenbrauen sah und daran dachte, wie arriviert Mr. Binns war, blieb mir das Gregory im Halse stecken. Vor Verehrung. Aber meine Sympathie für Gregory verminderte sich dadurch nicht. Mr. Sinns hatte viele Vorzüge vor anderen und jüngeren Männern: wenn ich in seinen Wagen stieg, hielt er mir die Tür auf und schloß sie nicht eher, als bis ich Platz genommen hatte. Er vergaß nie, mir Zigaretten anzubieten. Und wenn er mir Feuer gab, nahm er seine Zigarette aus dem Mund. Er suchte stets das richtige Restaurant, und die Ober ließen ihn nie warten.

Just diese Augenblicke sind es für gewöhnlich, da man die anstrengende Kameradschaftlichkeit jüngerer Freunde zum Teufel wünsche und sich ein Leben an der Seite eines vornehmen, altmodischen Traditionalisten in den Fünfzigern ausmalt …

Solche Träume sind gefährlich. Als wir abends nach dem letzten Tag des Prozesses aus einem Restaurant kamen, zog Mr. Binns mich zärtlich an sich und äußerte den Wunsch, ein Striptease-Lokal zu besuchen. Striptease? Mir so etwas in Begleitung von Mr. Binns anzusehen – diese Vorstellung war mir unangenehm. Ich versuchte etwas zu sagen: die Strip-Tänzerinnen in unserer Stadt seien sehr provinziell, und daß er sicher in Tanger und Schanghai viel Aufregenderes gesehen hätte.

Gregory Binns sah mich an. „Oh“, sagte er, „Sie wollen keinen Striptease sehen?“

Wir gingen in eine andere Bar. Hier saßen viele junge Leute, keiner in Gregorys Alter. Die Band spielte gelangweilt. Niemand tanzte. Aber Gregory wollte immerfort tanzen. „Bis zum Morgen“, versicherte er. Er trank, und die in ihm personifizierte englische Zurückhaltung schmolz mit den Eisstücken in seinem Whisky.

Jetzt gab er auch intime Gedanken preis: Er habe zwar gelegentlich Rheuma, aber heute fühle er sich ausgezeichnet. Nicht einmal sein Herz mache ihm Beschwerden. „Morgen früh, ja, da werde ich es merken. Aber bis dahin … „ Dann fühlte ich seinen Arm um meine Schultern und – beim Tanzen – sein Knie.

Vielleicht fehlt es mir an Nächstenliebe. Ich dachte an Krankenkassen, Invalidität und Rente. Ich hob mein Whiskyglas und sagte : „Zur Gesundheit, Mr. Binns!“ Entschuldigte mich und nahm ein Taxi nach Hause. Ich hätte gern Mr. Binns als „Herrn von Welt“ im Gedächtnis behalten …

Es ist schlimm  für ein junges Mädchen, wenn es Anspü̈che hat. Die Jungen quasseln und quasseln und quasseln und die Alten wissen was sie wollen. Wissen sie nichts anderes?