Paul Getty III – Der Jäger des verlorenen Schatzes

Portrait
zuerst erschienen im Herbst 1990 in Bunte
Fassung der Autorin

Ein eigenartig starrer Körper in dunkelblauem Trainingsanzug wird im Rollstuhl auf die Terrasse geschoben. Der Körper ist in den mittleren Jahren und hat doch in seiner Leblosigkeit etwas Uraltes, wirkt wie „abgestellt“ und von anderen in seinen Rollstuhl drapiert. Die Hände sind nach innen gedreht. Die Sehnen an Handgelenk, Knien und Füßen hat man ihm durchschneiden müssen, damit die Nägel nicht ins Fleisch wachsen. „Aaah“ preßt der Körper mühsam aus der Tiefe. Dann wieder gurgelnde Geräusche. Die rotbraunen Haare sind kurz geschnitten. Sommersprossen bedecken die durchsichtige Haut. Das Gesicht ist eine irritierende Landschaft: Es „strahlt“. Ärger, Zweifel, Freude, Schmerz wechseln darin in Sekundenschnelle. Er „hört“ durch die nach außen stehenden Augen, durch den offenen Mund. Dabei stößt die Zunge reflexartig an den Gaumen und die Lippen bewegen sich kaum sichtbar. Sein Gesicht wirkt völlig offen wie ein riesiges Ohr.

„Ohne den Getty-Clan und sein Geld wäre er tot wie Hendrix oder Joplin,“ sagt ein Freund von früher. Er kannte diesen heute 47-Jährigen damals in Rom. Denn 1973 machte Paul Getty III weltweit durch sein Kidnapping Schlagzeilen: Um ein Lösegeld von 2,8 Millionen Dollar zu erpressen, hatten die Entführer dem damals 16-jährigen Milliardärsenkel das rechte Ohr abgeschnitten. Heute ist sein Ohr ansatzweise wieder „aufgebaut“. Das Werk des Chirurgen blieb bisher jedoch unvollendet, „weil die Mutter nicht zu läßt, dass der Patient durch weitere Operationen zu starke Schmerzen erleidet.“ Paul war damals „cool“ und versuchte, sich aus der Abhängigkeit des Familienclans und damit der „Großen Mutter“ zu befreien. Er wollte „alles“ und scheint heute abhängiger denn je.

Paul Getty III wohnt heute in London und in der Toscana. Wie fast alle Clan-Mitglieder. Sein Haus in den Hügeln bei Siena ist noch nicht ganz fertig, Garten und Terrasse erst spärlich bewachsen. Hinter dem Haus sieht man die Auffahrt für den Krankentransporter. Bruder Mark, Schwester Ariadne und die Mutter Gail haben ihre Häuser in unmittelbarer Nähe. Sein Schlafzimmer wirkt wie ein Krankenzimmer: außer dem Bett zwei Stühle, ein Tisch, der Fernseher und die Videoanlage. In der Ecke ein Rollstuhl. Der Pfleger beugt sich zu Paul und reicht ihm ein Glas Wasser mit abgebogenem Strohhalm. Die Lippen tasten vorsichtig nach der richtigen Stellung und saugen in abgehackten Reflexen. Der Koch bringt, was Paul gerne isst: Tortellini Carbonara. Paul wird vom Pfleger wie ein Baby gefüttert. Dabei bewegt sich sein Unterkiefer mechanisch-schnell auf und ab. Er schluckt schwer.

Paul Getty III galt als der jüngste Kronprinz der amerikanischen Öl-Dynastie. Er war hoch begabt und ist doch immer wieder aus den Schulen geflogen: „Wenn ich einen Lehrer nicht mochte, kotzte ich aufs Pult.“ Paul war schmal und groß, hatte lange Locken und wirkte so leicht wie eine Feder. Trotz seiner Zartheit sah er dem Großvater ähnlich. „Manche sagen, ich hätte auch das Wesen von ihm.“ Schon mit 15 wohnte er nicht mehr bei seiner Mutter und den drei Geschwistern, sondern bei Freunden. Sie hatten damals in Rom alle etwas mit Kunst zu tun oder waren Leute der „kleinen Mafia“, der Malavita. Paul hatte nie Geld, denn auch seine Mutter Gail Getty lebte seit ihrer Scheidung von Pauls Vater, Eugene Paul II in bescheidenen Verhältnissen.

Anfang der siebziger Jahre zog in Rom der „Summer of Love“ der Hippies ein: „Es war wunderschön. Wir waren unabhängig, weil wir wirklich nichts besaßen. Wir tanzten durch die Stadt nach dem Motto: Wer ist bekannt, berühmt? Wo geht man hin und wo wird man gesehen?“ So Gisela, seine spätere Ehefrau. Eine schnelle Zeit, alle voll aufgeladen und Paul mittendrin. Er musste sie wohl treffen: Jutta und Gisela, die Zwillinge aus Kassel. Sternenkinder wie er. Schwarz gelockte Zwillingsmädchen, zu zweit unschlagbar weiblich, mit Riesenhüten, in Wahnsinnsklamotten, fast am Rande der Hysterie. Beide waren auf intelligente Weise witzig und konnten die Leute zum Lachen bringen, ganz besonders sich selbst. Das Lebensgefühl dieser Mädchen war auch Pauls: „Wir wollen frei und grenzenlos leben“. Paul war von ihrer Unbefangenheit und Amoral begeistert: Endlich war er nicht mehr allein. Auch alle anderen hatten bald die Drei gesehen und baten sie neugierig zu sich: Rossellini, Warhol, Bertolucci, Antonioni, Polanski, Elton John, Prinzen und Dealer. Bald beschleunigten Drogen den Tanz. Viele tanzten damals, aber sie waren die Schönsten. Mit Revolten gegen die Lebensart der Älteren hatte es angefangen: In der ersten 68er Phase wurde in Deutschland noch aggressiv gekämpft. Anti-Vietnam, Demos und Straßenschlachten. In der zweiten Phase in Rom dagegen wollte man endlich dieses Neue auch leben, sich in Gefühlen ausprobieren und Spaß haben.

Die Drei malten Bilder und verkauften sie an Touristen. Ihre Träume aber reichten unendlich viel weiter: Wieso gehörte das große Geld so wenigen, die doch nichts Gescheites damit anzufangen wussten? Sollte man nicht wie die RAF mit einem Banküberfall die Reichen enteignen? Oder müssten sie nur, und das schien ihnen geradezu nahe liegend, Pauls Entführung anzetteln, um beim Alten in London ein paar Millionen locker zu machen? Paul könnte seine lästigen Koksschulden bezahlen und die Zwillinge ihren supertollen Film drehen. Schließlich waren sie schnell wie der Wind und ihre Wünsche wahr: Sie lebten ohne jedes lästige Gepäck auf der Insel der Glückseligen. Eine Weile schaffte es Paul, im Bett in der Mitte zwischen den Beiden zu liegen. Aber dann verliebte er sich doch in Gisela und machte ihr einen Heiratsantrag.

Am 9. Juli 73 war es so weit. In der Via di Mascerone hielt ein weißer Citroen mit quietschenden Bremsen, Türen flogen auf, Paul wurde von der Straße ins Auto gezerrt, ein Sack stülpte sich über seinen Kopf. Niemand vermisste Paul, nur die Zwillinge wurden unruhig. Als sich die Entführer erst nach Tagen bei der Mutter meldeten, zuckte nicht nur sie sondern ganz Rom amüsiert mit den Schultern: „Das hat sich Paul mit Polanski ausgedacht.“ Der Großvater entschied: „No Penny for Paul.“ Er grämte sich schon lange, dass ihn Erben umgaben, nicht Nachfolger. Dieses „Gestrüpp“ wollte nur sein Geld aber keine Pflichten.

Jean Paul Getty I war mehr als nur ein Erfinder des Ölgeschäfts. Er wurde der Geburtshelfer eines ungeahnten Booms der westlichen Industriestaaten. Big Paul war intelligent und schnell und wollte das „große Geld“: ein leidenschaftlicher Zocker. In den zwanziger Jahren erste Ölfelder in Texas. Später Kuweit, Saudi-Arabien, Nordsee. Auch Versicherungen – und mit dem armenischen Ölkönig Gulbenkian wetteiferte er um die größte Tankerflotte der Welt. Seine fünfte Ehefrau, Louise Lynch: „Er war ein treu sorgender Geschäftsmann.“ Jean Paul Getty war ebenso ein Parvenu in der Politik. Er pflegte Kontakte zu Hitler, Churchill, Truman, kannte alle, die Mächtigen der Welt.

So einer wollten seine fünf Söhne auf keinen Fall werden: „Weniger Öl, mehr Genuß.“ Aber an solchen Dollars schien ein Fluch zu haften: George F. Getty II, ältester Sohn und Kronprinz, brachte sich mit Alkohol und Schlaftabletten um. Der zweite Sohn Jean Ronald wurde in Paris wegen Bestechung zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt und lebt seitdem zurückgezogen. Der Vater vom jungen Paul III, Eugene Paul II versuchte sich eine zeitlang in der Rolle des Statthalters von „Getty Oil Italy“, um dann aus der Welt des Vaters in das Dolce Vita umzusteigen. Der vierte Sohn Gordon wollte Komponist werden und schrieb Opern, deren Aufführung er selbst finanzierte. Nachkömmling und fünfter Sohn Timothy starb bei einer Operation im Alter von nur 12 Jahren. Aber auch den Gründer der Dynastie verschonte das Gesetz nicht: je mehr Geld, umso schneller holte ihn der Fluch ein. „Big Paul misstraute jetzt allen. Er hatte panische Angst, dass man nur sein Geld wollte.“ Die einzigen Freunde, die nicht neidisch auf sein Vermögen schielten, waren Kunstwerke. Sie sammelte er um sich, um ihnen später ein eigenes Museum in Malibu zu bauen.

Mitte der sechziger Jahre ließ sich Eugene Paul II von seiner Jugendliebe Gail Harris scheiden, verließ das Imperium und verliebte sich in eine Hohepriesterin der Liebe, in die „wilde“ Tänzerin Talitha Pol, Star des römischen Jet-Set. Von jetzt ab feierte er Feste wie in 1001 Nacht und in seinen Palast „Mamounia“ in Marrakesch kamen alle: die Stones, Brando, Krupp, die Beatles…Er bereiste Asien, probierte Opium. Dann heiratete er Talitha und bekam einen Sohn: Tara Grammophone Galaxy. Man sah die Drei auf den ersten Friedensdemos Roms. Bei den vier Kindern aus erster Ehe ließ sich der Vater dagegen nie mehr blicken. Umso mehr verehrte natürlich der kleine Paul den abwesenden Vater, über den er nur in den Zeitungen las. „Manchmal schickte er mir ein Telegramm oder eine Ansichtskarte.“ Dann wurde Talitha in ihrem Schlafzimmer tot aufgefunden: Überdosis. Eugene Paul II flüchtete Hals über Kopf vor der Polizei nach London und begann zunächst ein Leben hinter abgedunkelten Fenstern. Er war als Süchtiger registriert und ließ sich immer wieder im Krankenhaus entziehen und aufbauen.

Die Polizei in Rom hielt die Entführung Pauls anfangs für einen Scherz. Er aber lag an Händen und Füßen gefesselt in einer engen Höhle, die Augen verbunden, um sich Bewacher mit heruntergezogenen Mützen und Gewehren zur Seite. „Nicht mal die Hose durfte ich mir selbst aufmachen.“ Er hatte verdammte Angst. Paul versuchte die Männer nicht anzusehen, denn wenn er eine der „Mützen“ erkannte, würde man ihn erschießen: „Deshalb war ich am liebsten allein.“ Eines Tages aber brachte ihm der große Hagere sechs Steaks auf einmal. Paul’s Hals war trocken. Nur mühsam würgte er mit Ach und Krach gerade zwei davon herunter. Dann blieb ihm beinahe das Herz stehen: Die Männer rasierten ihm seitlich die Haare ab, säuberten die Stelle und verbanden ihm die Augen. „Sie steckten mir ein Taschentuch in den Mund und befahlen draufzubeißen.“ Dabei hielten sie ihn an Armen, Kopf und Beinen fest. „Es klang wie Pzzzt. Sie benutzten ein Rasiermesser oder Skalpell. Ich war total wach, einfach glasklar.“ Später sah er, dass er das Taschentuch ganz durchgebissen hatte. Zuerst spürte er nichts, doch dann kamen die Schmerzen: „Es war höllisch.“ Tagelang blutete die Ohrwunde.

Bei der Zeitung „Il Messagero“ traf ein in Plastik gewickelter, vertrockneter Klumpen Fleisch ein. Das kleine Päckchen war vor drei Wochen in Neapel aufgegeben worden. Ein Poststreik hatte die Zustellung verzögert. Die Familie war schockiert. Aber der alte Mann in London blieb auch jetzt noch misstrauisch und schickte zunächst nur den Ex-CIA-Agenten Fletcher Chase an den Tiber. Gail, die Mutter, appellierte unter Tränen über Radio an die Entführer. Schließlich wandte sie sich in ihrer Not sogar an Richard Nixon, einen Freund des Tycoons, damit er den Großvater überzeugte. Aber erst im Dezember, fünf Monate nach der Entführung, wurde endlich das Lösegeld auf einem Parkplatz übergeben. Am nächsten Morgen stolperte Paul hilflos durch Schneegestöber auf die Autobahn zu. Um den Kopf der Verband, das Gesicht aufgedunsen.

Die Mutter hatte in einer Privatklinik eine Suite organisiert, überall lauerten Reporter. „Mist, dass ich jetzt keine Sonnenbrille mehr tragen kann,“ sagte Paul. Er liebte Sonnenbrillen. Vom Krankenbett aus rief Paul den Großvater an, um sich für das Lösegeld zu bedanken. Der Diener war am Telefon und ließ ihn wissen, dass ihm der Großvater Glück wünsche. Dann hing er auf. Big Paul verfügte: Paul III dürfe nie das Getty-Imperium übernehmen. Neben Paul saß weinend der Zwilling Gisela. Sie wollte alles wissen, über seine Erlebnisse reden. Gail protestierte und verbot es: Das könne ihn wieder aufregen, ihm schaden. Paul genervt: „Hört auf. Mir geht’s okay. Sprechen wir nicht darüber.“ Gisela gab das erste Mal nach. Seitdem sprachen sie nie mehr richtig darüber. Pauls Alpträume begannen.

In der Obhut der Mutter nahmen die Zwillinge und der „Golden Hippie“ oder „Oil Prince“ ihr altes Leben wieder auf: nie eigenes Geld, ungedeckte Schecks. In den Trattorias war es eine Ehre, wenn sie am Tisch saßen. „Das Ohr!“ schrien manchmal die Leute auf der Straße. Aus dem neuen Ruhm wollten die Drei endlich etwas Kreatives entwickeln. Aber die hohe Zeit der Liebe war vorbei. Es wurde kalt in Rom und alles geriet ihnen nur noch halbherzig. Bei Paul saß der Schock zu tief und sein Erbe schien in weiter Ferne zu liegen. Als dann Gisela schwanger war, jubelte Paul vor Freude. Eine Ehe könnte Sicherheit bedeuten. Die beiden träumten von einer fantastischen Hochzeit in einer römischen Kathedrale, von einem Jahrhundertfest unter weißen Zeltplanen mit John, Yoko und Mick. Die Hochzeit wurde kein Jahrhundertfest mit John, Yoko und Mick, sondern so, wie die Mutter es wollte: im Rathaus des ländlichen Sovicille, im kleinen Kreis an bäuerlichen Tischen. Paul war 17, Gisela 24 Jahre alt.

Im Herbst 1975 zogen Paul und Gisela in die Nähe der Gettys nach Los Angeles. Der Großvater hatte ihnen tausend Dollar im Monat bewilligt, wenn Paul studiert. In ihr kleines Haus am Sunset kamen alle. Joni Mitchell, Leonard Cohen, Dennis Hopper, William S. Burroughs, Bob Dylan…und nachts kamen die Dealer. Als Paul wiedermal seinen Kredit überzog, brannten sie fast das Haus ab. Im Januar 1976 wurde der jüngste Getty geboren: Paul Balthazar IV. Als Gisela Tage nach der Geburt nach Hause zurückkehrte, wurde sie vom jungen Vater überrascht: überall Blumen, Geschenke. Paul war in beide frisch verliebt und besorgte ein kleines Haus inmitten einer früheren Gärtnerei am Meer. Am liebsten betrachtete Paul seinen Sohn und sprang auf, sobald er nachts das kleinste Geräusch von ihm hörte. Doch das hielt nicht lange vor und er verschwand wieder wortlos für Tage, manchmal Wochen.

Niemand wusste, wohin Paul in seiner Verzweiflung gefahren war. Die Miete war seit Monaten überfällig, das Telefon abgestellt. Den Vermieter verließ die Geduld und er setzte Gisela und das Kind auf die Straße. Gail war längst auch für Gisela zur Mutter geworden. Gisela rief dann in San Francisco an und bat um Hilfe. Gail nahm Balthazar zu sich, Freunde die kleine Anna aus Gisela’s erster Ehe. Gisela zog zu Freunden, feierte Parties, während Paul bald mehrmals im Gefängnis landete, wo ihn nur die Anwälte der Mutter wieder herausholten. Der Großvater wollte ihn endlich entmündigen und Gisela willigte ein. Die Mutter wurde sein Vormund und verwaltete von jetzt an das monatliche Geld.

Eine Sommernacht: Paul und Gisela in einer Hängematte im Affenbrotbaum. Ein zärtlicher Augenblick. Sie machten mühsam den Versuch, über ihre Ehe zu sprechen. Ob sie ihm je untreu gewesen sei. „Natürlich, das weißt du doch. Dennis…“ Pauls Gesicht wurde grau, er sprang aus der Hängematte und lief ins Haus. „Paul, was ist…?“ Sie kam nach. Wie sein Großvater: Seine Frau tut ihm so etwas nicht an! Seine? Er griff die Sitar und schlug sie auf Gisela’s Rücken in Stücke: „Ich bring dich um!“ Am nächsten Tag ein zweiter Anlauf von Gisela. Nichts konnte ihn erreichen. Sie beschloss: So etwas sag ich ihm nie wieder. Und laut: „Du machst das doch auch!“ Dann zog sie sich wieder unerreichbar in ihre Trance zurück. Ein guter Freund von Paul: „In mancher Hinsicht war er ein Monster. Aber ein gefühlvolles Monster.“

Gisela öffnete Pauls kleinen Koffer und schreckte zurück: Er war voller Spritzen. Nachts darauf der Alptraum: Ein Gaswerk. Sie ist ein Blade-Runner zwischen Kesseln. Ein riesiger Ofenschlund vor ihr: Dämonen, Metallzungen zischeln ihr entgegen. Es ist der Teufel. Er brennt sich in sie rein. Gisela wachte mit Herzklopfen auf. Sie stand auf und legte sich in ein anderes Zimmer. Leise flüsterte sie: „Auf Teufel komm raus“ und strich dabei über ihren Körper. Erst jetzt erkannte sie, dass Paul in der Tür stand und sie beobachtete. Dann floh er entsetzt vor ihr in die Küche, griff ein Messer vom Tisch und versteckte sich hinter der Küchentür. „Paul, hab keine Angst vor mir,“ versuchte Gisela ihn zu beruhigen. Paul fuchtelte weiter mit dem Messer herum und verkroch sich dann in eine Ecke: „Geh weg, heb dich von mir…“

Paul sah sie in ihrem Konzert: die dürre Rock-Existentialistin, die ihre Texte in die Gitarrensaiten drosch. Patti Smith war gleich verrückt nach ihm und Paul verliebte sich in sie. Wochenlang begleitete er sie auf ihren Tourneen. In New York trennten sie sich schließlich. Paul zog zu Gisela ins Hotel. Am Morgen sprang er plötzlich auf und drohte aus dem Fenster zu springen. Die Feuerwehr kam. Paul: „Lasst mich allein!“ Keine Presse, Familie, keine Anwälte. „Ich rief Mick Jagger draußen in Montauk an, dass es Paul so schlecht geht.“ Mick sagte: „Besorg ein Auto und komm raus.“ Die Limousine raste, ein Chauffeur am Steuer. Paul kippte aus dem Sitz, Gisela zog ihn immer wieder hoch. Dann wurde er ohnmächtig. Draußen im Haus von Andy Warhol auf Long Island begrüßte Gisela die vielen Leute. Als sie Paul mit Mick holen wollte, war das Auto leer. „Wir rannten um das Haus und sahen, wie er sich ins Meer stürzte. Wir holten ihn zurück.“ Paul schlug wild um sich und verlangte noch mehr Drogen. Gisela musste Gail erneut um Hilfe rufen: Paul brauchte dringend eine Entziehungskur. Die Mutter schickte ihm ein Flugticket. Als Gisela ihn wiedersah, wohnte er bei der Mutter. Er begann seine Kur.

Auf seinem Herrensitz „Sutton Place“, der einmal Heinrich dem Achten gehört hatte, starb der Großvater nach kurzer Krankheit im Alter von 83 Jahren. Mit der Familie hatte er kaum noch Kontakt gehabt. Jean Paul Getty I hinterließ ein Vermögen von schätzungsweise 10 Milliarden Mark. Keiner der Verwandten erbte etwas davon. Nur seinen Frauen und Freundinnen waren minimale Summen zugedacht. Sein ganzes Vermögen ging an seine „wahren Freunde“, die Kunstwerke. Aber die Ausschüttung aus dem Sarah-Getty-Fond machte die Söhne des Alten dennoch zu reichen Männern. Gisela sagt heute: „Dass Paul bei der Testamentseröffnung als Lieblingsenkel leer ausging, traf ihn hart. Wie wenig musste ihn der Großvater geliebt haben… Aber wir sprachen nicht darüber.“ Paul III hat jetzt von seinem Vater geerbt. Es sollen 400 Millionen Dollar sein.

Ostern 1981 war Paul wieder einmal nicht wachzukriegen. Unter den Freunden brach Panik aus: der Krankenwagen, Lexington, Sunset, Wilshire, Intensivstation des Cedar Sinai Hospital. Die Mutter ließ Spezialisten der Mayo-Klinik einfliegen. Sie stellten fest, dass das Gehirn, das auf Kosten des Körpers nie schlafen konnte, vor Bildern anschwoll, sich dadurch selbst zu zerstören drohte. Eine Art Unterkühlung könnte das vielleicht eindämmen, meinten die eingeflogenen Spezialisten. Wenn Gail und Gisela an Pauls Bett saßen, stand unausgesprochen eine Frage zwischen ihnen: Wer von den beiden wollte, dass Paul überlebt? Würde er sterben, wäre Gisela reich, müsste aber eine Getty werden. Die Mutter dagegen verlöre ihren wesentlichen Lebensinhalt: die Sorge um Paul, den Lieblingssohn. Sie unterschrieben die Zustimmung zu dem riskanten Eingriff.

Sechs Wochen lag er wie tot. Plötzlich ein Zucken der Augenbraue. Gisela entdeckte es als Erste. Niemand glaubte ihr. Tage später: Paul bekommt Weinkrämpfe, bebt innerlich. Schließlich stellten die Ärzte fest: Paul würde überleben. Aber durch das Koma wurde der Gehirnstamm verletzt. Paul war daher blind, stumm und konnte sich nicht bewegen. Gisela unterschrieb das Papier: Gail würde Pauls Vormund, stellte Personal und Therapeuten ein. Alle bemühten sich rund um die Uhr um ihn. Paul sollte auch Spaß haben: Er wurde in Discos, Kinos, Restaurants, zu Parties gefahren. Oder er ließ sich mit weit aufgerissenen Augen auf die haushohe Wasserrutsche „Raging Waters“ hieven, um himmelhoch jauchzend in die Tiefe zu jagen. Er erinnert sich an nichts und ist daher völlig angstlos, sagten die Pfleger. Die Sexualität in Pauls Körper jedoch war nicht erloschen – sie war stärker denn je. Aber welche Frau würde diesem großen Hunger eines Behinderten genügen können und wollen? Die Pfleger fanden eine Lösung. Sie kauften Frauen und schauten verlegen weg, wenn sie Paul ins „Arbeitszimmer“ schoben. Dabei zeigten sie auf seine Hose und lachten. Gisela besuchte Paul wieder häufiger, auch mit den Kindern. Manchmal nahm sie Paul zu Freunden mit, wurde aber jedes Mal nachdrücklich gewarnt: „Nicht zuviel Aufregung!“. Paul sei akut gefährdet, könne einen Schlaganfall bekommen. Sie zog zu ihm und versuchte in täglichen Kleinkriegen etwas mehr ‚Östliches’ in seinen Lebensstil und die Therapien zu bringen. Als Gisela mal wieder erst nach einer Reise zurückkam, hatte man ihre Sachen aus Pauls Haus entfernt. Als sie sich trotzdem in ihrem alten Zimmer verbarrikadierte, wurde sie bedroht und mit Gewalt aus dem Haus geschafft. Dann adoptierte Paul Giselas Tochter Anna als voll berechtigte Tochter und Erbin. Damit war klar: Er ist juristisch entscheidungsfähig. Dies nützte er sogleich, um sich von Gisela scheiden zu lassen – wie Gisela meint, auf Druck von Gail. Nach Jahren der Kämpfe wurde Gisela mit etwas mehr als einer Million Dollar abgefunden: „Für 17 Jahre Ehe ist das nichts.“

Pauls Vater wechselte aus seinem Londoner Versteck langsam wieder in die Öffentlichkeit: Diesmal als Mäzen der Schönen Künste. Wenn er schon die Last eines Milliardenerbes zu tragen hatte, dann wenigstens mit karitativem Sinn. Er spendete jahrelang erhebliche Gelder, allein 75 Millionen für die Londoner Nationalgalerie. Im ‚Versteck’ war der Drogen-Rebell von einst auf konservative Weise großzügig geworden: „Solange ich Geld habe, werde ich es verschenken“. Eugene Paul II heiratete zum dritten Mal und versöhnte sich mit seinen Kindern, vor allem mit Paul III. In seinen ‚wilden’ Jahren war er weniger milde gewesen: Im Namen von Paul hatte Gail nach dem Koma gegen den Vater einen Prozeß zur Zahlung von etwa 30.000,- Dollar monatlicher  Krankenkosten führen müssen und auch gewonnen. Im April dieses Jahres starb der inzwischen von der Queen wegen seiner Spenden geadelte Sir Eugene Paul II an den Folgen einer Lungenentzündung.

Für Paul III arbeiten zur Zeit fünf Pfleger, eine Nachtschwester, zwei Fahrer, ein Koch, eine Putz- und eine Wäschefrau und eine Sekretärin. Paul wird immer bewacht, auch nachts sitzt jemand an seiner Seite. Sobald Paul aufwacht, wird der „Apparat“ für ihn in Bewegung gesetzt: waschen, frühstücken, Freunde, Übungen, Besuche bei anderen. Stündlich wird jede Beobachtung, auch medizinische Daten in ein Krankentagebuch eingetragen. Paul beschäftigt immer wieder Therapeuten. In diesem Sommer weihte Paul mit seinem „Krankenhaus“ sein Haus in der Toskana ein. Seine adoptierte Tochter Anna heiratete dort einen Drehbuchautor aus Hollywood in italienischem Ambiente. Paul wollte sie bei der Trauung nicht begleiten. Die Pfleger haben Pauls Lippenbewegungen lesen gelernt: „Ich müsste zu viel weinen,“ sagte Paul und ließ sich von Balthazar vertreten.

Zwei Wochen später sitzt Paul im Rollstuhl auf der Familien-Yacht „Talitha G.“, die gerade mit handverlesenen Familienmitgliedern durch das Meer zwischen Capri und Stromboli pflügt. Die unruhige See von gestern hat sich beruhigt. Die Pfleger „fesseln“ Paul in eine Gummihalterung, die in der Mitte eines „Doughnut“ (einer Art größerem Gummireifen), vertaut wird. Rechts und links von Paul sitzen zwei Pfleger. Jetzt startet das Motorboot und jagt die Drei in einem Affenzahn über die Wasserfläche. Paul’s Augen, der Mund sind weit aufgerissen. Eine Stunde lang rast er so durch die Fluten: sein Körper wird in Bewegung katapultiert. Als ihn die Pfleger dann wieder an Bord der Yacht von der Halterung befreien, ist Pauls Haut gerötet, scheint jede Zelle zu vibrieren. Paul’s Familie und die Pfleger klatschen in die Hände. Kürzlich fragte wieder mal ein Freund: „Wieviel siehst du, Paul?“ „Mehr als ihr glaubt,“ hatte er darauf „gesagt“. Ein anderer Freund von Paul: „Er empfindet keine Bitterkeit. Trotz all der furchtbaren Dinge, die in seinem Leben passiert sind, ist er ein fröhlicher Mensch.“

Paul Getty III starb am 5. Februar 2011 in Buckinghamshire (England).