Sarah Bernhardt
Endlich hat sie Ruhe gefunden, die Ruhelose. In Paris geboren, blieb sie Pariserin auch durch ihre Kunst und in ihrer Kunst. Doch was sie an die heimatliche Scholle fesselte, war leicht zu tragen, eigentlich gar keine Fessel, nur ein bunter Faden, der sich wie von selbst weiter in die Länge spann, zuletzt sich um die ganze Erde wickelte. Unter dem fahrenden Volk der französischen Theaterköniginnen war sie die unsteteste, die reiselustigste, wenn auch keineswegs die Erfinderin dieser sogenannten „Tournees“, nicht die erste, die solche Kunstfahrten ins gelobte Land des Dollars und der Guineen immer und immer wieder unternahm. Lange vor ihr ist die welsche Gesangskunst vierspännig durch Europa gefahren, haben sich Kastraten und Primadonnen redlich bemüht, fremdes Wiesenland bis aufs Würzelchen abzugrasen, und nach ihnen kamen die Virtuosen, die des Klaviers und der Violine, schließlich gar die der Posaune und der Baßgeige, und folgten treulich dem verlockenden Beispiel. Auch die überseeischen Ausflüge waren schon Mode geworden. Man erinnert sich, daß schon der berüchtigte Barnum die göttliche Jenny Lind durch die Vereinigten Staaten kutschierte, mit ihr den Mississippi stromauf, stromab befuhr und bei jeder Schiffsstation gleich am Landungsplatz die Konzertbillette im Aufstreich verkaufte. Nein, Entdeckerfreuden durfte sich die Pariserin auf ihren Kunstreisen nicht erhoffen, sie konnte fast überall ausgetretenen Geleisen, vorgestapften Spuren folgen. Aber dieser Wandertrieb, der von altersher der Schauspielkunst zu eigen scheint, entwickelte sich bei ihr zu einer fieberhaften Leidenschat, und zur Regel wurde ihr, was bei den anderen eben doch nur Ausnahme blieb. Auch steckte sie sich auf ihren Fahrten immer weiter entlegene Ziele. In London war sie so heimisch wie in Paris, und das Weltmeer zwischen Le Havre und New York fühlte sie kaum als trennendes Element. Eine ihrer letzten Reisen ging nach Australien und weiterhin. In Sydney spielte sie ihre Tosca, in Melbourne ihre Theodore., und ihre Phädra tragierte sie in Honolulu vor der Königin Pomara. Kein Dorn schreckte dieses quecksilberne Temperament, und so wurde sie eine Art Perpetuum mobile, ein Pendel, das nie stille stand, überhüpfte mit beschwingten Fersen jeden Meridian und gaukelte auf dem Äquator um den Erdkreis. Einmal fragte ich sie, ob sie das ewige Eisenbahnfahren niemals satt bekomme, und sie antwortete: „J‘adore le Chemin de fer!“ Nur auf den Schienen finde sie Zeit, sich zu sammeln, nachzudenken, Müdigkeit zu bekämpfen, also Erholung nur in der unaufhörlich schütternden Bewegung, Stille nur im Getöse der Räder, Ruhe nur in der Unruhe. Sie mußte die Mühle klappern hören, um schlafen zu können, was für eine fürchterliche Mühle!
Natürlich kam sie auf ihren Wanderungen nicht selten nach Wien, das erstemal, glaube ich, im Jahre 1881, vor mehr als einem Menschenalter. Damals war sie noch eine jugendliche Frau, eine ungemein interessante Erscheinung, wenn auch nichts weniger als eine blendende Schönheit. Nur der Kopf war ein kleines Meisterstück der Natur, vielleicht auch der nachhelfenden Verschönerungskunst, das Gesicht mit dem scharfen Edelschnitt in wunderbarem Einklang mit dem Goldschimmer des dunkelblonden Haares und dem Märchenglanze der Augen. Leider saß dieser Kopf auf einer seltsam schlanken Gestalt. Sarahs Magerkeit war schon Weltberühmt, und so groß bereits ihr Einfluß auf das Pariser Modeleben, daß dieser Mangel an Formvollendung zum weiblichen Schönheitsideal erhoben wurde, der Fehler fortan als Vorzug galt. Auch ihr Talent stand damals noch in seiner ersten Blüte, war noch nicht durch das Zigeunerleben der unaufhörlichen Gastspielreisen verwildert. Sie spielte im Ringtheater, das noch lebte, am ersten Abend Donna Sol in Victor Hugos „Hernani“, an weiteren Abenden in „Froufrou“ und Racines „Phädra“. Als Froufrou war sie ausgezeichnet, wirklich die Trägerin einer neuen, ganz modernen Schauspielkunst, und überraschte durch die ungezwungene Natürlichkeit, den Realismus ihrer Vortragsweise, die Nervosität ihrer Gebärdensprache, einmal auch, in einer Streitszene, durch ein technisches Virtuosenstück, eine Höchstleistung ihrer Schnellsprechkunst, die die äußerste Deutlichkeit mit fabelhafter Zungenfertigkeit zu verbinden wußte. Weniger befriedigte sie als Phädra und Donna Sol. Hier stand sie im Banne des Alexandriners, des klassischen mit seinem untadeligen Ebenmaß und des romantischen mit seinen mehr oder weniger kühnen Enjambements. Der unzerstörbaren Gleichförmigkeit dieser Rhythmen entsprach der ewige Singsang ihrer eintönig über Höhen oder Tiefen hingleitenden Rede.
Freilich, was für ein Organ, welch ein süßer, berükkender Schönheitslaut! Flötentöne der tieferen Oktave, dazwischen hie und da ein Freudenruf, ein Schmerzensschrei, dann wieder wehmutsvolle Saitenklänge wie von einer Bratsche oder Viola d’amour, langgezogen, träumerisch veratmend. So sang und säuselte sie die Melodie der Racine-Verse, so die süßen Liebeskantilenen der Donna Sol, dramatische „Schmachtfetzen“, wenn das Musikantenwort nicht zu derb, von unverwüstlichem Wohlklang. Ein Ohrenschmaus, wenn auch kein unbedingt reiner, voller Kunstgenuß.
Immerhin hörte man da bloß die große Schauspielerin und vergaß darüber jene andere Sarah, ihre Doppelgängerin, die um jene Zeit schon auf ihrer Reklametrommel Wirbel um Wirbel schlug, die streitbare Pariserin, die durch ihre Gerichtshändel mit der Comédie Française ihre Landsleute außer Atem setzte, die exzentrische Frau, die zwei junge Löwen unter ihrem Dache fütterte, dazu einen veritablen Alligator zu zähmen versuchte, dieses exotische Haustier aber durch zu reichlichen Champagnergenuß, den sie ihm zumutete, um sein Leben brachte, die Sensationsjägerin, Heldin zahlloser Kulissenanekdoten, Nährmutter der pikanten Pariser Lokalchronik, die aber auch vor der schauerlichsten Groteske nicht zurückschreckte, in einem mit weißem Atlas ausgepolsterten Sarge, auf einem mit alten Liebesbriefen gefüllten Seidenkissen schlief und sich in dieser unheimlichen Modellpose dem verräterischen Apparat des Photographen preisgab. Mit dieser Sarah hatten wir in Wien glücklicherweise nichts zu tun. Sie lebte hier sehr zurückgezogen, ganz als vornehme Dame, und zeigte sich fast nirgends außerhalb der Bühne. Höchstens daß sie manchmal im Foyer des Ringtheaters erschien, wo sie sich auf einem anderen Kunstgebiet sehen ließ, eine Ausstellung ihrer Bildhauerarbeiten veranstaltet hatte: Büsten, kleine Gruppen, Statuetten, feines Zuckerwerk, flott ausgeführt, wie aus dem Stegreif gedichtet. Ihr Bühnenerfolg war damals sehr groß, wurde ihr übrigens nicht leicht gemacht. Sie mußte sich an jedem Abend das Publikum erobern.
Man empfing sie immer ziemlich kalt, ohne Willkommapplaus, fühlte sich immer befremdet von dem schroffen Linienzug dieser allzu schlanken Gestalt, deren vorgedrückte Mitte an das halbmittelalterliche Stutzerwams, den sogenannten Gansbauch, erinnerte. War sie aber einmal ihrer Zuhörer mächtig geworden, dann hob sich der Beifall rasch bis zum Enthusiasmus. Ihre Wiener Besuche wiederholten sich im folgenden Jahrzehnt, aber jedesmal mit geringerer Anziehungskraft. Sie brachte nun gewöhnlich die pomphaften, geräuschvollen Stücke mit sich, die Sardou für sie schrieb, „Fedora“, „Theodora“, „La Tosca“, eine etwas wilde Dramatik, die weniger unserem Geschmack entsprach und mit der sie hier, trotzdem ihre eigene schauspielerische Leistung stets auf bedeutender Höhe blieb, nicht durchzudringen vermochte. Sie mußte nun weiter in die Weite reisen. Europa war ihr nachgerade zu eng, ihre Kunst bereits ein transatlantischer Exportartikel geworden. Auch an die Vaterstadt blieb sie fortan fester und länger im Jahre gebunden als vordem, denn sie spielte jetzt nicht bloß Theater, sondern war auch Theaterleiterin. Sie hat nacheinander nicht weniger als vier Pariser Schauspielhäuser angekauft, Ambigu, Renaissance, Porte St. Martin und das ehemalige Théâtre Lyrique. Auf dem letzteren, jetzt Théâtre des Nations benannt, feierte sie in Rostands „Aiglon“ ihren größten Triumph. Sie spielte natürlich die Titelrolle, den jungen Aar, den Herzog von Reichstadt. Ihre Leiblichkeit hatte mit der Zeit doch ein wenig zugenommen, und diese immer noch sehr bescheidene Fülle, ein Geschenk der Jahre, gestattete ihr nun den Luxus der Hosenrollen. Sie griff da sehr hoch hinauf, beispielsweise nach Shakespeares Hamlet, wobei sie wenigstens bei dem großen Dichter kräftigen Beistand fand, während alle ihre Kunst nicht imstande war, der Theaterfigur jenes Aiglon echtes Leben einzuhauchen, diese hohle, allerdings mit funkelndem Wortschatz und patriotischen Bravourarien wohlversehene Sprechpuppe uns menschlich näherzubringen. Vielleicht daß sie in den ersten Vorstellungen des tausendmal abgeleierten Dramas besser war. Wir sahen sie in der fünfzigsten oder sechzigsten, und da war ihr eintöniger Singsang schon in ein ödes Schellengeklingel ausgeartet, das Ganze kaum genießbar eine handwerksmäßige Leistung, wie sie uns einheimische Schauspielkunst nimmermehr bieten durfte. Der Eindruck einer hochgesteigerten Geistigkeit, den sie in früheren Tagen als Künstlerin und im persönlichen Umgang hervorbrachte, hatte sich vollständig verwischt. Vielleicht war es ihr künstlerisches Verderben, daß sie späterhin das moderne Gesellschaftsstück fast ganz und gar vernachlässigte, fast ausschließlich das angeblich Hochdramatische, die Bumbum-Tragödie der neueren Franzosen pflegte. So versank sie tiefer und tiefer in das Deklamatorische, entfernte sich immer weiter von Wahrheit und Natur. Für den anspruchsvolleren Zuschauer hatte sie ausgespielt. Noch immer aber ging ihre Bühnenarbeit Hand in Hand mit der Sucht, den fünften Akt im Leben fortzuspinnen, auch in der Gesellschaft Komödie zu spielen. Noch immer war sie die Prinzessin aus dem Genieland, der keine Schnurre zu toll, kein Abenteuer zu bunt, kein Künstlerstreich zu verwegen schien. Nach wie vor mußte der Philister verblüfft, die Herde der Maulaffen angebellt werden, und manchmal sah es wirklich aus, als wollte sie weniger künstlerischen Ruhm erwerben, als um jeden Preis Aufsehen erregen. Eine ollegin, Marie Colombier, viel schöner als sie, aber auch um so viel ärmer an schauspielerischer Begabung, hatte ein Buch, „Sarah Barnum“, gegen sie geschrieben. Welche Wonne für die Beleidigte! Mit der Reitpeitsche in der Hand stürmte sie ins Haus der Feindin und schrieb ihr die Antwort in blutigen Striemen auf Gesicht und Nakken. Prozeß, höllischer Lärm, Injurien hinüber und herüber schwirrend, unendlicher Stadtklatsch – sie schwamm in ihrem Element. Unerschöpflich war ihre Laune im Erfinden neuer Phantasiestücke, und es gab auch solche besorglicher Art: Ohnmachtsanfälle, die ihr die Rolle abschnitten, Blutstürze auf offener Bühne, abgelöst vom Gerücht, Ophelia (auch eine ihrer Rollen) sei nun in der Tat entschlossen, ins Kloster zu gehen. Doch es blieb beim Theater, bei der Komödie auf den Brettern wie im Leben. Bekanntlich hat sie zeitweilig etwas Politik getrieben. In Berlin wollte sie nur gegen Rückgabe von Elsaß-Lothringen auftreten, und als einmal in Kopenhagen der deutsche Vertreter ihr zu Ehren Frankreich hochleben ließ, rief sie mitten in die Rede hinein: „Hoffentlich ganz Frankreich, mein Herr!“ Wir wollen nicht untersuchen, ob dieser vorlaute Patriotismus echt war. Jedenfalls bekam er ihr nicht gut. Sie wurde trotzdem verdächtigt, selbst deutscher Abstammung zu sein, und sogar in ihrer Aussprache des Französischen wollte man den deutschen Akzent hören. Anklagen, die jedoch rasch vorüberflogen und ihrer Volkstümlichkeit wenig schadeten. Anderswo hätte sie sich mit ihrem überpfefferten Wesen rasch unmöglich gemacht. Aber das große Paris ist nie pedantisch gewesen, es verträgt allerhand Ausgelassenheiten und duldet gern solche Künstlernaturen, die der Alltäglichkeit übermütig eine Nase drehen, vorausgesetzt nur, daß sie künstlerisch leistungsfähig bleiben. Dort an der Seine bewunderte man diese Frau in ihrer allumfassenden Tätigkeit. Sieleitete eine Bühne, mehrere Bühnen, und war immer ihr eigener Oberregisseur, ihr erster Kostümschneider, ihr Dekorationsmaler, ihr Maschinenmeister und, wenn’s not tat, ihr Einbläser und ihr Lampenputzer, vor allem natürlich jederzeit und überall ihre erste Heroine.
Es wohnte eben doch eine Feuerseele in dem unansehnlichen Körper. Auch waren ihr die Pariser dankbar, daß sie den Klang der französischen Sprache, den Glanz der französischen Schauspielkunst in die fernsten Weltteile trug, und so kümmerten sie sich um die geringsten Einzelheiten ihrer Kunstfahrten. Wer reiste mit ihr? Wieviel Zofen begleiteten sie? Wurden die zwei Löwen mitgenommen? Mußte der Alligator zu Hause bleiben? Wie hoch war die Anzahl ihrer Gepäckstücke? Und wie glücklich waren die Verehrer, wie stolz sozusagen, wenn sie erfuhren, daß die Weltumseglerin für ihren persönlichen Gebrauch nicht weniger als achtzig Riesenkoffer benötigte, einen für ihre Parfümerien, einen für die künstlichen Blumen, einen für zweihundertfünfzig Paar Schuhe, alle übrigen, darunter monumentale, förmliche Himmelkratzer, für Kostüme und Toiletten! So vielfältiges Gepäck zu überwachen war der aufmerksamste Reisemarschall unentbehrlich. Doch wozu hat man den Impresario, den Unternehmer, den Manager, die Vorsehung, die dem fahrenden Künstler jedwede Sorge abnimmt? Sarah betrachtete schließlich die eigene Person als ein Stück Frachtgut, und sie gestand es eines Tages: Wenn sie Brasilien oder Argentinien irgendwo einstieg oder sich einschiffte, wußte sie oft selber nicht, wohin die Fahrt ging.
Jetzt hat sie die letzte Reise angetreten, von der es keine Heimkehr gibt. Der Traum ist ausgeträumt, der buntscheckige Roman dieses Lebens abgeschlossen. Zu dessen Seltsamkeiten gehört es, daß es trotz seines wechselvollen Verlaufes in bürgerlicher Einförmigkeit und Regelmäßigkeit begann. Kein unwiderstehlicher Drang zur Bühne, keine heimliche Flucht aus dem Elternhause, nichts von den herkömmlichen, in den meisten Schauspielerbiographien wiederkehrenden Wagnissen. Sie kam, halb gezwungen fast, ins Pariser Konservatorium wie in irgendeine andere Schule, lernte dort, wie bei irgendeinem anderen Lehrer, „ohne Beruf, ohne Vorliebe“ – so schrieb sie- und nach ihrem ersten Engagement klagt sie allen, die es hören wollten, sie habe das Theater nie geliebt, sie finde es langweilig. Es ist, als hätte sie die Stürme und das bunte Spiel ihres Privatlebens gebraucht, um sich für die Freudlosigkeit der Bühne zu entschädigen. In voller Unkenntnis ihrer Persönlichkeit, ihrer Begabung unbewußt, wurde sie eine der großen Schauspielerinnen ihrer Zeit. Und das ist eigentlich das Wunderbare in diesem Künstlerleben, ein Rätsel, das jeder in seiner Weise zu lösen versuche.