Sarajevo Rave
Im vergangenen Jahr hat sich viel verändert in Sarajewo. Immer mehr Häuser haben einen neuen, bunten Anstrich bekommen. Kaputte Fensterscheiben gibt es kaum noch. Die mit rotem Kunststoff gefüllten Krater der eingeschlagenen Granaten, die man überall auf den Straßen und Gehwegen sehen konnte, sind durch grauen Asphalt ersetzt worden. Das Rot sollte zur Erinnerung an die Gräueltaten während der Belagerung dienen. Diese plakative Form der Rückbesinnung scheint hier niemand mehr zu brauchen. Immer noch erinnert genug an den Krieg, er sitzt noch in den Knochen und in den Köpfen der Menschen. Doch kaum jemand will mehr darüber sprechen. Alle versuchen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Der Blick muß frei sein, frei für die Zukunft.
Mario steht vor dem Gebäude, in dem die Zukunft beginnen soll. Es ist das „Dom Mladih”, das Haus der Jugend, in dem das Ereignis stattfinden wird, das die Jugendlichen Sarajewos seit Wochen erwarten. „Das ist der Neuanfang”, sagt Mario und tritt aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Das ehemalige Jugendzentrum der Stadt, das im Zuge der Winterolympiade 1984 erbaut wurde und bis zum Krieg der wichtigste Treffpunkt war, ist ein großer grauer Klotz, auf dem eine Art Zylinder von etwa 30 Metern Durchmesser prangt. Wo das Dach sein müßte, leuchtet der blaue Himmel, ein alter, rostiger Träger ragt ins Leere – auch dieses Gebäude erzählt die Geschichte des Krieges. Das Haus ist oben offen, denn die Kuppel, die den Zylinder früher abschloß, gibt es nicht mehr. Für zwei Tage soll dieser gespenstische Ort nun zu neuem Leben erweckt werden, aber bis dahin ist noch viel zu tun.
Die Organisatoren der großen Party wuseln in Panik umher. Wird es am Abend überhaupt Strom geben? Und wo sind die bestellten Turntables? Schon einen einfachen Tisch zu organisieren, auf dem die Plattenspieler dann stehen sollen, entwickelt sich zu einem großen Problem. Können die DJs und Bands aus München, Wien und Boston ihren Sound entfalten? Werden die Lichtinstallationen, die die schmutzig-grauen Wände in bunte, pulsierende Wesen verwandeln sollen, jemals funktionieren? Das Haus soll zu einem bombastischen Lautsprecher werden, der den Klang einer neuen Zeit in die Stadt tragen wird. Vielleicht sogar ein bißchen weiter. Nicht umsonst heißt die Veranstaltung „Futura Sarajewo `98”, ein zweitägiges Festival elektronischer Musik, organisiert von dem Münchner Verein „Sarajewo is next”. Ein Rave, zum ersten Mal in dieser Stadt und an diesem Ort.
Auch diese Party war, wie alle Partys, zuerst nur eine Idee. Der Moment, in dem die Idee entstand, läßt sich genau beschreiben, und trotzdem wirkt er heute unendlich fern. 1994 war das, wenige Wochen nach dem Beginn des schweren Bombardements. Der Münchner Studentenpfarrer Hermann Probst war damals zum ersten Mal in Sarajewo. Er stand vor dem Dom Mladih, frisch zerbombt, in zwei Tagen völlig ausgebrannt. Fast zeitgleich mit der Nationalbibliothek und den wichtigsten Fabriken. Zwei Tage lang haben die Flammen das Jugendzentrum zerfressen, erzählten ihm die Einwohner. Der serbische Belagerungsring war dicht um die Stadt geschlossen. Immer wieder peitschten die Schüsse von den Hügeln, wo die Scharfschützen lauerten. Sniper, die auf alles schießen, was sich bewegt. Probst erkannte, daß die Bevölkerung demoralisiert werden sollte. Der Angriff auf das Jugendzentrum war ein Angriff auf ihre kulturelle Identität, eine Taktik der Zermürbung, des Auslöschens, erzählt der Studentenpfarrer.
Er hatte eine Ladung mit Hilfsgütern in die Stadt begleitet, aber nun wußte er, daß auch andere Hilfe nötig war, um der Jugend der Stadt neue Hoffnung zu geben. Probst hört ihre Musik, kennt ihre Bands. Das Dom Mladih wurde für ihn zum Symbol: „Es steht für einen Ort, an dem man sich aufhielt, als alles noch gut war.” So kam es zur Gründung von „Sarajewo is next”, und von 1996 an begann die Kulturarbeit der Organisation. Die erste große Veranstaltung fand dann im Sommer 1997 statt: ein vielbeachtetes Konzert mit Bands aus München und Sarajewo. Wichtig ist für „Sarajewo is next” die Kontinuität der Arbeit, daß man den Menschen immer ein bißchen Vorfreude auf ein nächstes Mal mitgeben konnte: eine große Party zum Beispiel, auf die man sich auf dem Heimweg freuen kann. Denn die große Leere kommt, wenn ein Ereignis vorbei ist.
Mario ist 18 Jahre alt und Breakdancer. Wie er meint, der beste der Stadt. Er gehört zu den wenigen in seinem Alter, die hier Arbeit haben: Er macht eine Lehre als Autoelektriker. Nicht unbedingt sein Traumjob, aber er ist froh, überhaupt Arbeit zu haben. In Sarajewo herrscht eine enorme Arbeitslosenrate. Die Angaben gehen von 60 bis hin zu fast 90 Prozent. Mario würde zwar lieber an Kassettenrecordern als an Autos herumbasteln, doch er beschwert sich nicht. „So fühle ich mich wenigstens nicht total nutzlos.” Sagt er und weiß, daß er es besser hat als die meisten seiner Freunde. Marios Mutter starb im Krieg. Eine Bombe detonierte auf dem Marktplatz, als sie gerade beim Einkaufen war. „Sie ist weg, und ich vermisse sie, aber ich kann nichts dagegen tun. Es ist wohl einfach so.” Er erzählt davon ohne erkennbare Gefühlsregung. Auch davon, wie eine Granate in seiner Schule einschlug. Seine Mitschüler stürmten aus dem Klassenzimmer und trampelten dabei fast einen seiner Freunde tot. „Ich war total cool und habe das Zimmer ganz ruhig verlassen. Irgendwann hatte ich einfach keine Angst mehr.”
Fast will man ihm glauben, vor allem, wenn man seine Augen sieht, die einfach nicht die eines 18jährigen sind. Irgendwie kalt und abgeklärt – und doch traurig. Sie haben wohl mehr gesehen als manche anderen. Er sagt, daß er mit der Vergangenheit abgeschlossen habe. Er will endlich ein neues Leben beginnen, ein Leben ohne Gewalt, Angst und Haß. Doch dazu muß er erstmal mit seinem eigenen Zorn fertigwerden. Er ist wütend auf diejenigen, die vor dem Krieg ins Ausland geflohen sind. „Jetzt kommen diese Leute zurück, haben ein Auto und Geld in der Tasche. Geld, das sie bekommen haben, damit sie wieder nach Bosnien gehen. Die Leute, die hiergeblieben sind, bekommen gar nichts.” Mario will einfach wieder eine Perspektive haben. Und auch ein bißchen Spaß. „Der Krieg hat mir die beste Zeit meines Lebens genommen.” Als der Irrsinn begann, war er zwölf.
Als um etwa 21.30 Uhr die Tore zum Dom Mladih geöffnet werden, stürmen mehr als zweitausend Jugendliche hinein. Die Atmosphäre im Innern des Raumes erinnert gleichzeitig an die Vergangenheit und an die Zukunft: halb Amphitheater, halb Kulisse eines Endzeit-Films wie „Mad Max”, nicht ganz von dieser Welt. Ein Raum mit Geschichte – und von heute an auch wieder mit Gegenwart. Die Menschen tanzen sich innerhalb kürzester Zeit in einen Rausch. Die DJs haben leichtes Spiel. Beats und Bässe werden förmlich eingesogen. Mit ihren Bewegungen scheinen die Tanzenden sagen zu wollen: „Ja, genau, darauf haben wir gewartet.”
Eine unglaubliche Energie wird dabei frei, so stark, daß sie einem fast ein bißchen Angst macht. Es ist wohl die Energie, die zum Überleben notwendig ist. In der tobenden Menge schreit Mario nur: „Ich sterbe, ich sterbe!” Zum ersten Mal strahlen seine Augen. Eine Mischung aus ungläubiger Freude und Staunen. Sie blitzen fast so intensiv wie das Stroboskop zur Musik. Diese Art Freude tut gut. Hier findet man kaum den abschätzigen Blick deutscher Partygänger. „Hab‘ ich schon, kenn‘ ich schon”, sagt hier in Sarajewo niemand. Auch ein paar wenige deutsche Uno-Soldaten tanzen ausgelassen. Eigentlich sollten sie auf den Generator aufpassen, der die Party mit Strom versorgt. Aber ihr Vorgesetzter drückt beide Augen zu. Um 23 Uhr ist der Spaß für sie schon wieder vorbei. Zapfenstreich. „Das ist der erste sinnvolle Einsatz, seit ich hier in Bosnien bin”, sagt einer von ihnen und verschwindet wieder auf die Tanzfläche, wild mit grünen Leuchtstäben zum Takt der Musik wedelnd. „Sex is good” ist eine der Botschaften, die Performer Chris Korda aus Boston in den Raum schickt. Das verstehen alle. Und rasten aus. Die Aufkleber mit eben jenem Slogan, die Chris im Anschluß an seinen Auftritt verteilt, will jeder haben.
Am liebsten würde Mario heute abend natürlich HipHop hören, denn er ist auch Rapper in einer Band, die „Su-Pac” heißt. Die Ähnlichkeit des Namens mit Tupac Shakur ist durchaus beabsichtigt. Allerdings heißt „Su-Pac” auf bosnisch „Arschloch”. Mario macht Lieder über Mädchen, zum Beispiel über Anessa, die allerdings ziemlich sauer war, als sie das Lied zum ersten Mal hörte. Denn Mario behauptete ganz dreist, daß sie ihm eine Schwangerschaft vorgespielt hätte. Was natürlich gar nicht stimmt. Außerdem mag die 20jährige gar keinen Techno, wie fast jeder in der Stadt. Sie steht auf Death Metal, obwohl sie überhaupt nicht so aussieht, mit ihren kurzen, strubbeligen Haaren, ihren großen braunen Augen und ihrer Stupsnase. Trotzdem ist sie bis zum Schluß im Dom Mladih geblieben.
Party mögen sie alle. Das merkt vor allem Robert Merdzo, der es gar nicht gewohnt ist, daß zu den Klangbildern seines Projektes N.A.Q.O.B. so viel getanzt wird. „Mit solchen Reaktionen habe ich wirklich nicht gerechnet. Das Programm war sozusagen eine Weltpremiere, und ich bin glücklich, daß es so gut funktioniert hat. Ich hätte nicht gedacht, daß die Leute wirklich dazu tanzen würden.” Das Publikum geht mit, egal bei welcher Richtung. Und Drogen spielen dabei nicht dieselbe Rolle wie anderswo. Zwar wird in jeder Ecke gekifft, doch von Ecstasy und Härterem fast keine Spur. Und das, obwohl in Sarajewo nahezu an alles ranzukommen ist. „Es gibt ein paar Junkies in der Stadt, aber im Gegensatz zu Mostar ist es hier harmlos”, sagt Mario. „Gekifft wird sehr wohl. Jeder, der raucht, raucht, verstehst du?”, erzählt Mario und grinst.
Während die Tänzer noch im Rausch taumeln, schleichen sich bei manchen von ihnen schon wieder Gedanken an den Alltag ein: an die grotesken Skelette der Hochhäuser, die noch für Jahre über die Stadt ragen werden, an die unzähligen, immer vollen Cafés, wo junge Menschen, die nichts zu tun haben, stundenlang vor sich hinstarren, an die lächerlichen Souvenirläden in der Altstadt, die ihr Angebot ganz auf die Uno-Soldaten abgestellt haben. Denn die sind nun die einzigen „Touristen” in der Stadt. Häßliche Wandteller aus Holz, in die das Stadtwappen eingeschnitzt ist, neben den Wappen der verschiedenen Einheiten, die in der Stadt stationiert sind. Auch Gedanken daran, daß außerhalb Sarajewos, in den Dörfern, der Krieg im Kleinen weitergeht. Nicht selten versuchen zum Beispiel verfeindete Nachbarn, ihre Streitigkeiten mit einer Handgranate zu lösen. Auch Mario denkt, so sehr er auf die Zukunft hofft, nicht immer an eine Zukunft in Sarajewo: Am liebsten würde Mario nach Deutschland ziehen, denn dort, so weiß er, ist Breakdance ein großes Ding. Sein Cousin, der in Berlin wohnt, schickt ihm ab und zu Videobänder mit Breakern und Sprühern aus der Hauptstadt. „Die Leute tanzen da einfach auf der Straße, und alle schauen zu. Hier interessiert das noch keinen. Ich glaube, daß ich in Deutschland glücklich werden kann.”
Die letzte Bassline wummert noch durch das Gemäuer und durch die Ohren der sich langsam zerstreuenden Menge. Am Ende des ersten Abends verschwanden die Leute so schnell aus dem Dom Mladih, daß jeder Rausschmeißer seine Freude gehabt hätte. Diesmal wissen wohl alle, daß es kein Morgen geben wird und keine After-hour. Die Morgendämmerung füllt das Gebäude wieder mit natürlichem Licht. Den Veranstaltern des Raves steht die Anstrengung der letzten Tage ins Gesicht geschrieben. Ebenso wie die Freude daran, daß alles geklappt hat. Und daß etwas bewegt wurde. Mario sitzt geschafft auf einer Stufe und rekapituliert: „Ich habe etwas Seltsames, Neues erwartet. Ich habe so viel erwartet. Das Tolle ist, es war viel schöner. Die Leute waren viel besser drauf als sonst, es gab nicht einmal eine Schlägerei. Ich wünschte mir, daß so etwas jeden Tag stattfinden würde, daß es nie aufhört.”