Vorabend – Amman 2003
Seit zwei Wochen sind wir in der jordanischen Hauptstadt und warten auf den Krieg. Jene, die noch immer argumentieren, dass die Amerikaner – von den Briten ist nie die Rede – nicht wirklich ein Interesse daran haben können, den Irak zu besetzen, werden Lügen gestraft durch den Aufmarsch der Vortrupps, die sich in der Stadt verteilt haben. Ganze Hotels sind belegt von amerikanischen Männern, und niemand weiß, was sie hier zu tun haben. Die Jordanier sind diskret und stellen keine Fragen. Für die Hotelindustrie ist das ja alles ganz ausgezeichnet, es ist schwierig geworden, ein angenehmes Zimmer zu bekommen. Taxifahrer berichten beiläufig vom erhöhten Verkehr auf Ammans altem Flughafen bei Nacht, der sonst sehr still ist. Die Anwohner beobachten dann amerikanische Versorgungsflugzeuge, die in Richtung östliche Wüste starten, dem Grenzgebiet zum Irak.
Jeden Abend ist Party in der Bar des Intercontinental. Die Kriegsberichterstatter sind eingetroffen. Alle sind da, die namhaften und die ganz jungen, unerfahrenen, die das große Geld und die Gefahr zum ersten Mal begierig suchen. Sie sind berauscht von einer Geilheit auf die zu erwartenden Ereignissen, die Bilder und Stories und sehr viel Adrenalin versprechen. Je näher das Kriegsdatum zu rücken scheint, desto stürmischer wird der abendliche Lautpegel in der Bar, desto mehr wird getrunken, desto überspannter sind die Geschichten, die erzählt werden und desto vulgärer und handfester die Flirts. Spätestens nach Mitternacht entlädt sich alles unvermittelt in wildem Tanz entlang des Tresens. Bei Schlägereien springt zuallererst der kleine muskulöse Barmanager in die streitenden Parteien hinein, noch während alle anderen erstarrt die Lage zu erkunden versuchen. Er bewacht die Flaschen und beobachtet die Meute, manchmal stellt er mir ein Glas Rotwein hin, wenn er glaubt, es fördere den Umsatz.
Auch ich lasse mich einnehmen von der irren Stimmung, jeden Abend bin ich da, um die Neuankömmlinge zu treffen und an den Debatten über das Kommende teilzuhaben. Wir reden uns heiß und schwitzen und bestellen Bier und Wein und Gin und brüllen uns an, hören den Witzen der Briten zu und den Journalistengeschichten der ganz alten Hasen. Fast alle kommen direkt aus Afghanistan, wo sie in riesigen Journalistenlagern gewohnt haben, im freien Feld, und wo Kriegsschauplätze exklusiv inszeniert wurden für die, die zahlten. Wir sitzen an der Bar und essen Popcorn und Nüsse und bestellen gegrillte Garnelen. Alle lieben die Übertreibung, um so mehr, als nichts geschieht. Zwischendurch verschwindet man auf das Dach, einzeln, wo die Fernsehstationen ihre Berichterstattungskajüten, nichts weiter als Holzverschläge, aufgebaut haben. Es gibt niemanden der nicht darauf hofft, es möge endlich, endlich beginnen. Schon wird geprahlt mit Kontakten im Irak, mit Stories, die man schreiben wird, mit der Perfektion der eigenen Logistikvorbereitungen für die Reise nach Bagdad. Auf den Parkplätzen der Hotels stehen die schußsicheren Allradwägen der Crews, beladen mit Konserven und Trinkwasser. Aber noch ist die Grenze geschlossen, kontrolliert vom irakischen Regime.
Ich habe mich mit einem Jordanier angefreundet, der mir das libanisierte Nachtleben zeigt, die Orte, an denen sich die Kinder der zu Geld Gekommenen auf den Hügeln Ammans vergnügen. Vor den Etablissements stehen jeweils Wagen im Wert von mehreren Millionen Dollar. In den tieferen Lagen der Stadt bleibt das Leben öd und aussichtslos. Dort gibt es nur das Fernsehen, die Freitagspredigt des Muezzins, manchmal eine Hochzeitsfeier und ansonsten entbehrungsreiche, sich immer gleichende Alltage, an denen das Haus und die Wäsche der vielen Kinder gewaschen werden müssen, wo das freudlose Essen zweimal am Tag aufgetragen, die leeren Schüsseln und Teller wieder abgetragen werden. Die Familien schlafen zusammen in einem Zimmer, Matten und Decken werden jeden Morgen zusammengerollt. Vor den Häusern stehen heruntergekommene Taxen, mit denen man Geld zu verdienen versucht. Geld um auszugehen ist nicht da, Arbeit manchmal und der soziale Umgang beschränkt sich auf Nachbarn und Verwandten. In vielen Häusern liegen merkwürdig deformierte Kinder, für die die Krankenrechnungen nicht bezahlt werden können und die von den Resten der Mahlzeiten leben. Die Sicherheitspolizei überwacht alle Äußerungen sozialen Unmuts und schickt Agenten und Panzer rechtzeitig zur Stelle. Ausschweifende Formen des Amüsements sind verpönt, wegen der Religion, aber auch aus Solidarität mit den palästinensischen Brüdern, die unter Beschuß liegen seit so vielen Monaten. Und alle Feiern werden auch aus Solidarität mit den irakischen Nachbarn unterlassen werden, sollte es zum Krieg kommen.
Mawloud ist Geschäftsmann und ehemaliger Luftwaffenpilot. Er kennt sich mit Teppichen und Edelsteinen aus. Manchmal trägt er verspiegelte Sonnenbrillen und ich vermute, dass es immer an Tagen nach heftigem Drogenkonsum ist. Er verdient sein Geld vor allem als Vertreter für eine Vielzahl von ausländischen Firmen, deren Import- und Exportgeschäfte er vermittelt. Dazu braucht er nicht einmal ein Büro, nur einen Laptop mit Adressenlisten und ein Bankkonto. Mawloud kennt alle, die größere Geschäfte in Amman machen.
Wir fahren in seinem schwarzen Mercedes durch die Stadt. Wir überlegen, auf welches Restaurant wir heute Lust haben. Das Four Seasons hat noch immer nicht eröffnet, das japanische Lokal im zwanzigsten Stockwerk eines Bürogebäudes ist stets extrem unterkühlt. Das Intercon wollen wir heute meiden. Wir fahren auf das Le Royal zu. Ein riesiger babylonischer Turm, der das Stadtbild, egal von welcher Seite man sich nähert, dominiert. Hier steigen die irakischen Exilanten und Agenten ab. Das Hotel ist mit Saddam Husseins Geld gebaut worden, sagt Mawloud, von einem seiner schwer bezahlten Baumeister, der irgendwann beschlossen hatte, dass es zu gefährlich für ihn im Irak wurde. Während die oberen Teile des Turms blau leuchten, strahlt von ganz unten gelbes Licht über den weißen Stein. Das Essen ist ausgezeichnet, aber die Innenausstattung pompös und unangenehm. Bleiben wie immer die Italiener. Wir fahren weiter zu La Cucina, aber das gesamte Lokal ist abgesperrt, eine amerikanische Truppe hat offenbar für heute ihr Dinner hier eingeplant. Auf dem Trottoir sehe ich einen mir bekannten britischen Militärattaché telefonierend auf und ab gehen. Seit längerem schon haben die Briten ihr Büro in die amerikanische Botschaft verlegt. Selbstverständlich hat er nie über seine Arbeit gesprochen, irgendwann brach er den Kontakt zu mir unvermittelt ab und war nicht mehr für mich zu erreichen. Sie mußten ab jenem Moment wohl unter sich bleiben. Ich winke und er wendet sich langsam um, als habe er mich nicht erkannt.
Mawloud sagt, die Amerikaner beginnen nun Jordanier zu rekrutieren, für sogenannte Versorgungsposten in der östlichen jordanischen Wüste. Er hat am Morgen an einem Vorstellungsgespräch teilgenommen, aus Neugier. Sie wollten ihn sofort nehmen, stehen offenbar unter Zeitdruck. Wir schweigen und fahren weiter zu Riccardo’s, wo Mawloud immer eine eigene Flasche Wodka deponiert hat. Mawloud trinkt Wodka mit Red Bull zum Essen. Auch hier läuft ein Monitor, der die letzten Debatten im Sicherheitsrat und die anschließende Pressekonferenz überträgt. Die Diplomaten in New York bleiben in diesen Tagen wohl schlaflos.
Wir zweifeln nicht im geringsten daran, dass der Krieg unmittelbar bevorsteht. Aber was sind die Gründe? Ich frage Mawloud, ob er daran glaubt, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen habe. Wie eigentlich alle im Nahen Osten ist er davon überzeugt, dass es den Amerikanern darum geht, die Vorherrschaft in der Region auszubauen, wie auch im Rest der Welt, und dass sie dafür ihre Lakaien brauchen, die ihnen Legitimität geben, und er ist weiter davon überzeugt, dass ihnen das gelingen wird. Wir lehnen uns zurück, müde, haben beide keine rechte Lust, uns wieder einmal auf diese grundlegende Diskussion einzulassen, die immer im Raum steht. Heute nicht. Der Fall ist nicht eindeutig, aber ich will jetzt nicht Mawlouds Verschwörungstheorien zuhören, um dann meine eigene Sicht der Dinge dagegenhalten zu müssen. Dito das Öl, die Islamisten, die Saudis, Dick Cheney, Wolfowitz, Saddam, Vater Bush, die wirtschaftlichen Interessen, die militärischen Interessen, die Menschenrechte. Der Fall ist jedenfalls um die Massenvernichtungswaffen herum aufgebaut worden.
Ich erzähle Mawloud von einem Gespräch mit einem hohen kurdischen Politiker aus dem Nordirak, der hofftee, daß die Entscheidung für den Krieg schnell fallen möge, die Kurden wollten endlich befreit werden. Er mißtraue der Strategie mit den UN-Waffeninspektoren. Er sagte leise: Sie werden nichts finden. Was sollen sie finden. Er hat nichts mehr, was soll er noch haben. Das Land ist zerstört, verarmt, schlecht regiert. Sie werden nichts mehr finden.
Mawloud entgegnet, daß er im Gegenteil glaube, daß Saddam über das Potential, Massenvernichtungswaffen herzustellen, sehr wohl verfüge, in jedem Fall diese aber weiterhin herzustellen versuche. Vor weniger als zwei Jahren suchten ihn britische Iraker in Amman auf. Er hatte damals die Import-Vertretung für eine Firma des technischen Großhandels inne. Sie boten ihm viel Geld dafür, dass er eine bestimmte Dichtungseinrichtung nach Jordanien importierte und sicherstellte, dass sie weiter in den Irak gelangten. Mawloud sagt, diese Dichtungseinrichtung ist ausschließlich für eines zu gebrauchen: die Herstellung atomwaffenfähigen Materials. Mawloud sagt, dass er das Angebot sofort ausgeschlagen habe. Ich sage, dass ich seine Geschichten sehr schätze, und nicht nach dem Wahrheitsgehalt weiterbohren wolle. Mawloud ignoriert meine Bemerkung und fährt fort, den allergrößten Waffenmarkt biete das Netz. Man müsse nur die Log-in-Codes auf ganz harmlosen Websites kennen. Die wechselten zwar ständig, aber er könne mir so einen Code innerhalb von vierundzwanzig Stunden besorgen. Ich nicke interessiert. Wir trinken weiter, die Teller sind längst abgeräumt.
„Da gibt es noch etwas. Vor ein paar Jahren gelangte jemand in das Computersystem des Pentagon. Für sechs Stunden war ein ungeheures Informationsmaterial im Netz zugänglich. Ein Freund, der sich das Material rechtzeitig heruntergeladen hatte, erzählte mir: Die USA haben ein Kontingent an atomaren Sprengköpfen, das sie herumschicken, auf dem ganzen Planeten, je nachdem wo es gebraucht werden könnte. Es ist nicht klar, was die jeweiligen Landesregierungen davon wissen. Diese Sprengköpfe können im Kriegsfall in wenigen Stunden aktiviert werden, durch Andocken an Raketenkörper, die einfach und schnell zu den Sprengköpfen transportiert werden. In Kuwait waren vor der irakischen Invasion 1990 elf dieser Sprengkörper deponiert. Als die Amerikaner Kuwait zurückeroberten, fehlten neun der elf. Seitdem mußte das Pentagon fieberhaft alle Strategien bemühen, um zu verhindern, dass die gestohlenen Sprengköpfe in einen aktiven Zustand gebracht werden, vom Regime Saddam Husseins, von anderen… In der jordanischen Wüste gibt es merkwürdige Anlagen. Ich habe sie gesehen, bei meinen Flügen als Luftwaffenpilot. Riesige Lagerhallen, umgeben von einer Hochsicherheitsanlage. Immer voll beleuchtet. Keine menschlichen Wachen. Es führen keine Straßen dorthin. Wir hatten keine Ahnung, was darin gelagert wurde, niemand durfte sich dem Areal nähern. Ich bin mir ganz sicher, dass dort einige dieser atomaren Sprengköpfe liegen, die dann, bei einem Angriff des Irak auf Israel zum Beispiel, nach Bagdad fliegen sollen. Das Szenario ist ja angedeutet worden. Die Diplomaten hier rechnen doch bereits mit dem Äußersten!“
Ich bestelle noch mehr Drinks, als eine Freundin Mawlouds sich an den Tisch setzt. Sie wedelt mit ihren langen, scharfen, fluoreszierend violett lackierten Fingernägeln und streift die ewige Sonnenbrille erneut in ihr Haar. Sie beginnt sofort mit Mawloud zu schäkern und zu rauchen und bittet uns, nicht schon wieder über den Krieg zu sprechen, sie schalte die Nachrichten gar nicht mehr ein, sie könne es nicht mehr ertragen. Wir sehen ihr Zahnfleisch, wenn sie lacht. Sie möchte in einen Club gehen, tanzen, ihre Brüste ausstellen und auch das neue Paillettenensemble vorzeigen. Wir schütten den Rest unserer Gläser hinunter und machen uns ergeben auf den Weg.